74IX
Bernard de Fontenelle

In der zweiten Serie der »Totengespräche«, durch den Erfolg der ersten beim Publikum dem Autor nahegelegt, gibt es ein Gespräch zwischen der römischen Tugendheldin Lucretia und der deutschen Bürgerstochter Barbara Blomberg, der Geliebten Karls V. und Mutter des Don Juan d’Austria. Diese erweist sich im Schattenreich gleichfalls als tugendhaft gegen allen Reichstagsanschein, indem sie für eine hochgestellte Favoritin des Kaisers eingesprungen war. Muß das Sein der Tugend mit ihrem Schein kongruieren?, ist das Jenseitsproblem der beiden moralisierenden Schatten.

Fontenelle (1657-1757) wird lebenslang ein Verfechter der mittelbaren Wirkungen der Wahrheit und damit ein Skeptiker gegen die Mächtigkeit der Wahrheit ohne alle Verhüllungen sein: Statt den zürnenden Gott zu verspotten wegen seiner offenkundigen Unfähigkeit, die Schuldigen zu treffen und die Unschuldigen zu verschonen, zeigt er als Sekretär der Akademie auf die endlich aufgeklärte Herkunft der ominösen Donnerkeile an den Meeresstränden, die fortan nichts mehr mit den geschleuderten Blitzen eines Gottes zu tun haben können und damit der Leichtgläubigkeit der Menschen – als ein weiteres Stück ihrer unaufhaltsamen Verluste – entzogen sind. So wird sich die theoretische Vernunft über die Akademie ebenso der Umwege bedienen wie die moralische Vernunft im Totengespräch, wo Lucretia darauf besteht, daß die Tugend auch ihren Schein, ihr Prachtgewand, ihren historischen Ruhm haben müsse. Sie habe sich also der menschlichen Imagination zu bedienen, während die verborgene Tugendhaftigkeit der Barbara Blomberg nur dieser selbst zum ruhigen Hinscheiden verholfen habe. Ist denn die Tugend nicht mit dem Zeugnisse zufrieden, welches sie sich selber giebt? Steht es nicht großen Seelen zu, die Phantasie des Ruhmes zu verachten?[1] Diese Vorhaltung der verborgen Tugendhaften erscheint der in öffentlicher Demonstration von Tugend bewährten Römerin als sehr gefährliche Weisheit: Diese Phantasie ist das allermächtigste von der Welt. Sie ist die Seele aller Dinge; und man zieht 75sie allem übrigen vor. In der Regensburger Bürgerstochter verbirgt sich eine frühe Kantianerin, die die Tugend nur aus der Betrachtung der Pflichten hervorgehen lassen will, als die sich in der Vernunft begründende Absicht. Die römische Heldin der Tugend durch Selbsttötung ist davon nicht zu überzeugen. Eben wegen der bloß inneren Motivierung durch Pflicht sei die Vernunft so schwach, die auf Einbildung gegründete Ehre dagegen so stark. Und daraus folgt etwas, was Pascals Rechtfertigung des Scheins durch die Vernunft wiederholen könnte: Die Vernunft selbst würde nicht verlangen, daß die Menschen allein durch sie sich leiten ließen; sie weis es gar zu wohl, daß sie des Beystandes der Einbildungskraft benöthiget ist. Die Natur erreicht durch unsere Torheit, was sie durch unsere Vernunft nicht erreichen würde: ce qu’il y a à dire, c’est que ce que la nature n’auroit pas obtenu de notre raison, elle l’obtient de notre folie.[2]

Eine der Gefahren der reinen Vernunft ist, daß sie Bewegungslosigkeit in die Welt bringt. Einbildungskraft, Leidenschaften, Irrtümer sogar und Übertreibungen sind Antriebe, die Vernunft ist es nicht. Si la raison dominoit sur la terre, il ne s’y passeroit rien.[3] Man sage, fährt Fontenelle an dieser Stelle fort, daß die Kapitäne am meisten jene ruhigen Meere fürchten, auf denen man nicht navigieren kann, und daß sie den Wind wünschen, auch auf die Gefahr hin, daß er sich zum Sturm steigert. Die Leidenschaften sind bei den Menschen notwendig wie die Winde, um alles in Bewegung zu bringen, auch wenn sie oft Unwetter heraufführen. Die bloße Wahrheit ist nach dem Grundsatz, den Pascal die raison des effets genannt hatte, unwirksam und ohnmächtig. Es sind ihre Verhüllungen, ihre lockenden Verborgenheiten und ihre prunkenden Auszeichnungen, die die menschliche Einbildungskraft in Betrieb setzen.

Diese Feststellung muß sich noch verstärken, sobald deutlicher geworden ist, daß die von der Vernunft produzierten Wahrheiten ›kritischer‹ Natur sind, in Verminderungen des vermeintlichen Bestandes an Gewißheit und in der Einschränkung der erreichbaren Erkenntnis überhaupt bestehen. Die Vernunft als Kritik bewirkt zwar Toleranz, aber auch Indolenz. Das ist ein Punkt, an dem sich die Befriedigung der Aufklärung über ihre Errungenschaften verbindet mit der Besorgnis um ihre möglichen Verluste.

76In der Abteilung der »Totengespräche«, die nur Gestalten der neueren Zeit in der Unterwelt zusammenkommen läßt, begegnet der Kaiser, der schon durch die Jungfer Blomberg ins Spiel gebracht worden war, dem Humanisten Erasmus und läßt sich von diesem in einen Streit um die Rangordnung verwickeln. Das Kaisertum auf dem Gipfel seines Glanzes und in der größten Weite seiner Macht sei nur un composé de plusieurs hasards; Erasmus rechnet dem Kaiser vor, was hinter der Pracht seiner Herrschaft steckt. Vor allem: etwas mehr bon sens bei den einen der Vorfahren, etwas mehr bonne foi bei den anderen, so wäre im Resultat alles dürftiger. Dazu erzählt der Humanist dem Kaiser die antike Anekdote von dem Athener Timon, der persische Gefangene als Sklaven zum Verkauf auf den Markt brachte und die eine Hälfte in ihren Kleidern, die andere mit nackten Körpern ausstellte. Da sei ein großer Andrang der Käufer zu denen mit Kleidern wegen deren Pracht entstanden, während die Nackten kein Käuferinteresse fanden. Ähnliches würde vielen Leuten passieren, wenn man sie des Schutzes ihres Ansehens beraubte.[4] Was aber sei, so fragt der Kaiser den großen Humanisten, die Entsprechung zur Nacktheit der Sklaven in der antiken Anekdote, wenn die Pracht der Gewänder sich auf die irdische Herrschaft von Kaisern und Königen beziehen lasse? Was übrig bleibe, wenn man den falschen Prunk abziehe, seien Geist (esprit) und Wissenschaft, antwortet Erasmus.

Aber damit hat er sich selbst in eine Sackgasse manövriert, und der Kaiser weiß das Blatt zu wenden. Wissenschaft sei ein Besitz, der weitgehend auf der Hinterlassenschaft der vergangenen Zeiten beruhe; und der Geist sei nichts anderes als eine Zufälligkeit der Natur, eine Feinheit von Fasern im Gehirn, die keine Anatomie jemals werde entdecken können. Also sei auch der Geist nur ein Zufall, wenn auch ein noch glücklicherer als der historische irdischer Herrschaft. Erasmus ist verblüfft und kann nur noch zurückfragen, ob dann alles Hasard sei. Der Kaiser triumphiert: Ich lasse Euch urtheilen, ob ich die Menschen nicht noch besser entblößet habe, als Ihr? Ihr nahmet ihnen nur etliche Vorzüge der Geburt; und ich nehme ihnen gar die Vorzüge des Geistes.[5]

77Es wäre alles verloren, wenn die Wahrheit sich zeigte, wie sie ist. Dies der Tenor eines anderen der Totengespräche, das den mittelalterlichen Entdecker der Kombinatorik als ars inveniendi, Raimundus Lullus, selbst Ramon Lul geschrieben, aus dem 13. Jahrhundert, konfrontiert mit Artemisia, der Witwe von Ephesus. Beiden gemeinsam ist, daß sie dem Ruhm nicht gerecht geworden waren, der ihrer Tugend oder ihrer Kunst gegolten hatte: Der Katalane hatte in der Unterwelt erfahren müssen, daß er den Stein der Weisen als Verkörperung seiner Erfindungskunst, seiner ars generalis, nicht besessen hatte, und die Witwe von Ephesus war ihrem Gatten Mausolos, dem Namengeber des Mausoleum, nicht so treu geblieben, wie ihr nachgesagt worden war.

Auch hier geht es um den Sinn der Unwahrheit als der bewegenden Kraft gegen die Trägheit der Menschen: Es ist wohl wahr, daß man den Stein der Weisen nicht finden kann: aber es ist doch gut, daß man ihn suchet.[6] Ob es nicht besser wäre, nur die Geheimnisse zu suchen, die man auch finden könne, fragt Artemisia. Aber der umtriebige Generalist aus Katalonien hat entdeckt, daß jede Wissenschaft durch ein Hirngespinst belebt wird, dem ihre Schüler nachjagen, ohne es je zu erreichen, und dabei unterwegs auf andere nützliche Wahrheiten stoßen. Wie die Chemie den Stein der Weisen habe, so die Geometrie die Quadratur des Kreises, die Astronomie die Länge der Örter, die Mechanik das Perpetuum mobile. Alles dies zu erfinden, sei unmöglich; aber sehr nützlich, es zu suchen. Sogar die Moral habe ihre Hirngespinste: den reinen Altruismus oder die vollkommene Freundschaft oder jene ewige Gattentreue der Witwe von Ephesus. Der Mensch müsse sich jederzeit einen Grad der Vollkommenheit zum Ziel setzen, der ihm zu hoch ist. Er würde sich nicht einmal auf den Weg machen, wenn er nicht weiter zu kommen dächte, als er wirklich kommen wird. Er muß ein eingebildetes Ziel vor Augen haben, welches ihn guth machet … On perdroit courage, si on n’étoit pas soutenu par des idées fausses.[7] Die Witwe von Ephesus wehrt sich nur schwach: Es sei also nicht unnütz, daß die Menschen betrogen würden? Eine wie von dem Cartesianer Fontenelle gegen Descartes gestellte Frage.

Darauf die Antwort des Lullus, die der Enthüllung der Wahrheit einen apokalyptischen Doppelsinn gibt, der dem Eiferer gegen 78den Islam und zumal den Averroismus nicht schlecht ansteht: daß alles zugrunde ginge, wenn die Wahrheit sich unverhüllt zeigte. Denn ebendies ist auch das die Geschichte beendende Ereignis des theologischen Gerichts: Si par malheur la vérité se montroit telle qu’elle est, tout seroit perdu; mais il paroît bien qu’elle sait de quelle importance il est qu’elle se tienne toujours assez bien cachée.[8]

Ein anderes Paar im Hades sind Paracelsus und Molière. Wieder geht es um den stolzen Besitz einer Geheimwissenschaft; diesmal sogar um die Erkenntnis der Geister, die Paracelsus beansprucht. Allerdings habe er, um die Wahrheit zu sagen, nicht mehr von Geistern verstanden als die Philosophie davon lehren könne. Molière ist enttäuscht, daß da einer von den Geistern so wenig wisse, obwohl er doch die Kenntnis des Menschen übersprungen habe. Den zuvor und gründlich zu kennen sei einfach notwendig, bevor man sich an die Geister mache, die vielleicht gar nichts Wirkliches sind. Was in der Sprache Gottscheds unsere natürliche Neugierigkeit heißt, befindet Molière als etwas Gefährliches, wenn nicht Schändliches für den Verstand, weil sie ihn vom Zugänglichen und Naheliegenden der Wirklichkeit ablenkt und auf die Herrlichkeit von Geheimnissen sinnen läßt, die weitab von seinen Bedürfnissen eine ungewisse Existenz haben: La vérité se présente à lui; mais parce qu’elle est simple, il ne la reconnoît point, et il prend des mystères ridicules pour elle, seulement parce que ce sont des mystères.[9]

Die Wahrheit, wie sie Molière vorschwebt, ist die des anschaulichen Realismus des Meisters der modernen Komödie: die Torheiten der Menschen kann man vorführen, von den Geistern kann man nur reden. Aber Anschauung ist den meisten Menschen nicht genug; man könnte ihnen die Ordnung des Universums, wie sie wirklich ist, sichtbar machen, ohne von Kräften und Zahlverhältnissen, langen Zeiträumen, Schicksalsbestimmungen, Einflüssen der Planeten etwas zu sagen – sie würden angesichts der bloß vor ihnen liegenden Wahrheit enttäuscht ausrufen: Quoi! n’est-ce que cela? Sie wollen das Unsichtbare und die Rhetorik des damit Vertrauten oder auch nur sich vertraut Gebenden. Zum Unglück der Menschen, so Molière weiter, habe die Natur nicht allen die Fä79higkeit verliehen, die nötig ist, um nichts von jenen Geheimnissen zu begreifen. So entsteht die Torheit der Menschen, mit der es die Komödie zu tun hat, zu einem guten Teil aus ihrer Unfähigkeit zum Verzicht auf das, was sie nicht sehen können. Wäre die Wahrheit nackt, würden alle sagen: Ist das alles? Die Natur hat uns sehr viel Geschicklichkeit verliehen, es zu hindern, daß wir uns nicht selbst betriegen.[10]

Auch das Schlußwort des Molière hat wieder ein an Pascal erinnerndes Moment: Das Hohe wie das Niedere des Geistes, die Metaphysik der Geister wie die Komödie, sind der Veränderung durch Mode unterworfen. Allerdings hat die Komödie die größere Aussicht auf Dauerhaftigkeit, weil sie unter den Torheiten die der Mode selbst mit zur Anschauung bringt. So stellt sie die beständige Natur des Menschen als den Antrieb seiner lächerlichen Veränderlichkeit dar: Alles ist den Veränderungen der Moden unterworfen: selbst die Kinder des Verstandes sind nicht besser daran, als die Kleidungen … Wer was Unvergängliches malen will, der muß Narren malen.[11]

Molière gegen Paracelsus, die Unterwelt macht es möglich. Auch den Streit um die kleinere oder größere Unsterblichkeit. Was aber der Erfinder dieser Konstellation nicht vorauswissen konnte, war der ein halbes Jahrhundert später aufbrechende Konflikt, in dem er selbst auf dem verlorenen Posten der realistischen Anschaulichkeit stand und ein anderer Aufklärer das vertrat, was Fontenelle als Wiederkehr der Geister, zumindest der verborgenen Eigenschaften und Kräfte des Mittelalters, ansehen mußte. Der Cartesianer hatte ein Weltall von vermeintlich höchster Anschaulichkeit vor sich: Zusammengehalten vom horror vacui, war es dicht an dicht gepackt mit Materie verschiedener Feinheitsgrade, und jede Bewegung an irgendeiner Stelle mußte das Ganze durch Druck und Stoß in Umlauf setzen. Aber 1728 war Voltaire aus dem englischen Exil zurückgekehrt, wo er im Jahr zuvor der Bestattung Newtons beigewohnt hatte. Dessen Physik war eine Theorie der leeren Räume und der über sie hinweg unerklärt wirkenden Kräfte, die Geister zu nennen nur ihre Gesetzmäßigkeit zurückscheuen ließ.

Voltaire wurde zum erfolgreichsten Verfechter der neuen Weltansicht auf dem Kontinent, und über diesem Erfolg war ihm ganz 80entgangen, daß er in seinem Gepäck auch etwas mitgebracht hatte, was ihn mit dem einen Triumph den anderen bezahlen ließ: die Werke Shakespeares, die der Vormacht der französischen Tragödie und damit Voltaires auf der Bühne ein Ende bereiten sollten. Fontenelle wird diese Wiederholung der von ihm erfundenen Streitszene im Hades zwischen Molière und Paracelsus nicht mehr erleben; aber die beiden letzten Jahrzehnte seiner hundertjährigen Existenz sind überschattet von dem, was er nur als Wiederkehr des Mittelalters, als neue Verhüllung der anschaulichen Wahrheit, mit Erschrecken zur Kenntnis zu nehmen vermochte. Wer den Widerstand der Cartesianer als bloßen Starrsinn einer überalterten Schuldogmatik sieht, in Voltaire den triumphierenden Propagandisten der physikalischen Jugendbewegung, verkennt die soliden und rationalen Momente des Mißtrauens und des Erschreckens über das, was da an Unanschaulichkeit heraufzog und den Sekretär der Akademie zum Gespött machte. Nichts ist weniger überzeitlich und allgemeingültig als das, was jeweils Realismus, Anschaulichkeit, ›Unverhülltheit‹ genannt werden darf.