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Trostlosigkeit der Wahrheit

Zum guten Teil lebte die Aufklärung des 18. Jahrhunderts von der These des Priesterbetrugs, mit der Fontenelle sie eingeleitet hatte, als er die Geschichte der Orakel schrieb, überwiegend wurde bei der Behandlung dieser These der Blick auf die Nutznießer des behaupteten Betruges gelenkt, machtlüsterne Priesterkasten, die sich den Einfluß über unaufgeklärte Hirne durch allerlei kunstvoll ersonnene Praktiken verschafften und bewahrten. Kaum je wurde der Blick auf die Unaufgeklärten gelenkt, es sei denn in der Erwartung und mit der Absicht, sie würden sich alsbald aufgeklärt gefunden haben, hätten sie gewußt, was die Aufklärer wissen sollten. Das Problem erschien so einfach, wie die Aufhebung der Vorurteile von Descartes und anderen programmiert worden war. Vor allem würde die nur durch Unwissenheit bestehende Furcht durch natürliche Erklärung all derjenigen Sachverhalte beseitigt werden, die Anlaß zu unbestimmten Ängsten gegeben hatten. Am ehesten noch der deutsche Aufklärer Reimarus hatte am Sachverhalt der Gemütsverfassung der Jünger Jesu nach dem Tod am Kreuz Verständnis dafür gefunden, daß sie die Behauptung von der Auferstehung Jesu nicht nur zur Erhaltung ihres Einflusses und des Bestandes ihrer Gemeinde verbreiteten, sondern auch selbst des Trostes dieser Gewißheit bedürftig waren und daher zu glauben geneigt, was sie verkündeten. Aber das war ein Sonderfall einer extremen Niederlage einer großen Erwartung von Macht und Herrlichkeit des Gottesreiches, der messianischen Herrschaft. Diese Jünger nach Jesu Tod mußten für sich selbst glauben, daß ihr Meister lebe, und folglich konnten sie es anderen mit einer gewissen Unschuld mitteilen. Diese Ausnahme, die nackte Wahrheit nicht ertragen zu können, ist aber nicht alle Zeiten und für alle Fälle gewährt worden. Im ganzen halten die Aufklärer die Hüter von religiösen Institutionen für betrügerisch.

Probleme ändern ihre Formeln. Gegenwärtig ist eine gewisse Toleranz gegenüber der Religion unter einem funktionalistischen Aspekt wieder geläufig geworden, der das Phänomen mit dem eindrucksvollen Terminus der ›Kontingenzbewältigungspraxis‹ rubri82ziert. Auch da geht es um etwas Unerträgliches: den Verlust und den Mangel der Erfüllung des Prinzips vom zureichenden Grund für die Welt, für die Menschheit als eine durch Evolution faktische und durch ihren eigenen Fortschritt abrufbare Realität, das eigene Leben als das seinen biologischen und faktischen Bedingungen nach höchst fragile Produkt der Umstände. Wenn man sich lange genug davon überzeugt hat, daß ein Menschenleben bestimmt wird durch die Bedingungen seiner Umwelt, wird man in hohem Grade trostbedürftig, sobald die adäquate Folgerung sich als wenig praktikabel erwiesen hat, diese bedingende Umwelt direkt zu ändern, um indirekt damit die Bedingungen des eigenen Daseins und des Daseins anderer zu beeinflussen. So wächst aus dem Begriff der Kontingenz, als dem eines Kontrastes gegen die Machbarkeit von Welt und Geschichte, ein hohes Maß an Trostbedürftigkeit, und es verwundert nicht, daß dann auch Funktionäre der Trostgewährung zumindest zugelassen werden müssen.

Wie aber kann das Wahrheitsverhältnis dieser Funktionäre der Trostbeschaffung respektiert werden? Robert Spaemann hat gegen die funktionalistische Erklärung der Religion das Beispiel des Placeboeffekts angeführt: Der fromme Betrug am Patienten verlaufe erwiesenermaßen nur erfolgreich, wie die neuere Placebo-Forschung gezeigt hat, wenn die Darreichung des Placebo von einer Person erfolgt, die selbst von ihrer Einspannung in den Versuch nichts weiß, das von ihr verabreichte Heilmittel für echt und wirksam hält.[1] Der Funktionär darf kein Betrüger sein. Man kann natürlich die Theologen sich selbst überlassen und die Frage als respektlos ansehen, wie sie zur Wahrheit ihrer theologischen Inhalte stehen. Aber zu solcher Distanz ist die Gegenwart mit ihrer Freude an der Indiskretion nicht bereit; sie will die Wahrheit nackt sehen. So entstehen zur Verteidigung der Trostfunktion neuartige Begriffe von Wahrheit, von denen man zumeist wird sagen müssen, daß sie in früheren Epochen, zum Beispiel der der Aufklärung, als Unwahrheit bezeichnet worden wären, etwa die Neigung zur metaphorischen Auslegung biblischer und dogmatischer Aussagen.

Allerdings hat sich ein Zusammenhang gelockert, der für die Behandlung dieser Frage schwerwiegend ist: der Zusammenhang 83zwischen der Annahme der Wahrheit und der Billigung des Verhaltens nach den Maßstäben der Religion. Wer nicht für wahr hielt oder für wahrhalten konnte, war nicht nur ein Ungläubiger, sondern auch heilsunfähig, weil man annahm, im Akt des Glaubens würde eine besondere Form des Gehorsams, der Erfüllung des göttlichen Willens, der mystischen Identifikation mit dem Heilsträger vollzogen. Die Voraussetzung zur Änderung des Wahrheitsbegriffes ist, daß ein Gott undenkbar geworden ist, der am intellektuellen Gehorsam des Menschen Gefallen finden könnte, so wie er zuvor am Vollzug von Opfern und kultischen Zeremonien Gefallen gefunden hatte, und der andererseits in Zorn und Unwillen verfiele, wenn man ihn für nicht existent hielte. Sobald man es für unvereinbar mit der Reinheit des göttlichen Geistes und der Größe der göttlichen Majestät hält, sich an solchen Gehorsamsverweigerungen zu stoßen, wird auch die Frage nach der Art der Wahrheit zur Disposition gestellt, die in einem Glauben impliziert ist.

Ein Gott, der ein trostbedürftiges Wesen geschaffen hat, also auch nur ein im Schmerz der Tröstung fähiges Wesen, könnte nicht als wohlmeinend gedacht werden, wenn er diesem Geschöpf Spendung und Empfang von Trost versagte, woher auch immer sie kommen mögen. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob er diesen Trost aus der Annahme eines Faktums, einer historischen oder physischen Tatsache oder der Existenz einer Person entnimmt oder ob er sich tröstet mit dem Gedanken an etwas, was so sein könnte oder gar nicht anders sein dürfte, aber doch vielleicht nicht so ist, jedenfalls nicht mit Gewißheit so erkannt werden kann. In früheren Generationen fanden Eltern ihren Trost wegen des eigenen Elends und Unglücks bei dem Gedanken, es könnte ihren Kindern einmal besser ergehen, obwohl die Wahrscheinlichkeit dafür nur gering sein mochte oder sogar alles dagegen stand. Man muß ein trostbedürftiges Wesen nicht der Wahrheit ins Auge sehen lassen, nicht den unbedingten Realismus von ihm fordern. Wittgenstein hat zutreffend gesehen, daß die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet ist, wenn sie nicht mehr gestellt wird; es ist dieselbe Grundposition, die Freud veranlaßt hat zu sagen, wer nach dem Sinn des Lebens frage, sei krank. Trost bedeutet auch und vor allem, daß die Frage nach dem Sinn des Leides, das Trostbedürftigkeit erweckt, nicht mehr gestellt wird. Dazu kann es genügen, im unerträglichen Faktum der betroffenen Existenz den Willen einer 84nicht-menschlichen, also nicht als niedere Bosheit zu empfindenden Macht zu sehen. Es genügt, daß die Betroffenheit des eigenen Daseins dem Willen der anderen entzogen ist, indem sie dem Willen des anderen unterstellt wird. Die Frage nach der Wahrheit der Existenz dieses Willens ist beantwortet, wenn sie nicht mehr gestellt wird. Insofern ist die Funktion der Kontingenzbewältigung an Wahrheit gebunden. Nur steht diese Wahrheit aus Gründen der Veränderung der Faßbarkeit des Gottesbegriffs nicht mehr unter der Gehorsamsforderung der Anerkennung von Tatsachen. Unser ganzes Weltbild beruht auf Sätzen, die des Zusatzes bedürfen, es könne so sein, müsse es aber nicht. In der Funktion der Bewältigung von Kontingenz wird akzeptiert, daß nicht primär etwas vom Menschen gewollt wird, sondern etwas mit ihm, in demselben Sinne, in dem er das Vorfinden der Welt verstehen kann als den Willen, dem er begegnet. Der Sinnlosigkeitsverdacht wird nicht durch die Beantwortung von Fragen aus der Welt geschafft; er ist aus der Welt geschafft, wenn die Fragen nicht mehr gestellt werden. Wenn etwas mit dem Menschen gewollt wäre, müßte es genügen, diesem Willen zu vertrauen, ohne ihn kennen zu können, auch ohne ihm zuzutrauen, er besteht auf der ständigen Unterwerfung des Bekenntnisses, er existiere gewiß – wenn es doch genügt anzunehmen, er wäre gewiß ein guter, wenn er überhaupt einer wäre und bestände. Es kommt nicht primär darauf an, die Existenz dieses Willens zu kennen und zu versichern, sondern vor allem gewiß zu sein, daß er kein mißgünstiger Wille wäre, wenn er existierte. Dieser Ausschluß erlaubt zu sagen, es bleibe verborgen und rätselhaft, was denn gewollt werde, und es sei schon gar nicht sicher, daß vor allem die Anerkennung der Existenz dieses Willens gewollt werde. Kontingenzbewältigung hieße also: Vertrauenswürdigkeit auch unter der Modalität des bloßen Als-Ob. Das hatte schon Luther vorbereitet mit seiner fides qua creditur anstelle der römischen fides quae creditur.

Ist eine Hypothese verlockend und eine Theorie schön, so freue ich mich an ihnen, ohne dabei an die Wahrheit zu denken.[2] So schreibt der Dichter, der aufhörte ein Dichter zu sein, um fast ein Philosoph 85zu werden: Paul Valéry in seinem Versuch, das Nachdenken des Menschen über einer Muschel zu beschreiben. Weil es eine ästhetische Aussage ist, nimmt niemand Anstoß an der Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit, wenn doch nur die Schönheit der Theorie erfreut. Jedes Zögern der Zustimmung eröffnet die Feststellung, daß dieser Satz über den größten Zeitraum unserer geistigen Geschichte eine Ungeheuerlichkeit gewesen wäre: das Schöne nicht auf dem Guten und Wahren beruhend, eine Frivolität – und eine Unmöglichkeit. Nun denke man sich den Satz übersetzt in eine Aussage über das Verhältnis von Trost und Wahrheit, ja nur von Erträglichkeit und Wahrheit: Ist eine Hypothese erträglich und eine Theorie tröstlich, so lasse ich mich von ihnen trösten, ohne dabei an ihre Wahrheit zu denken. Da spürt man noch leicht, wie wenig man sich in einer Welt von Wissenschaft und der Wahrheit verpflichteten Verrichtungen leisten kann, so zu reden. Aber zugleich spürt man, wie leicht der Verzicht auf Wahrheit fällt, wenn ihre Zumutungen einem erspart bleiben und statt dessen die Aussöhnung mit den Unbegreiflichkeiten des Daseins sich anbietet, auf welcher schwachen Basis auch immer.