Eine der Bestimmungen der bis zu ihm und erst recht durch ihn ausgereiften Aufklärung hat Kant in der Anthropologie-Vorlesung gegeben, wenn er den der Facultas signatrix zugehörigen Komplex der Symbolik beschreibt und die durch Swedenborg repräsentierte Meinung, die Welt der Erscheinungen sei bloßes Symbol einer im Rückhalt verborgenen intelligibelen Welt, als Schwärmerei abtut. Dennoch gehöre es zu den der Moralität zugeordneten Vorstellungen, die das Wesen der Religion ausmachen und zur reinen Vernunft gehörige Begriffe, nämlich Ideen, enthalten, daß hier wenigstens zeitweise, also geschichtlich, das Symbolische für das Begriffliche steht. Gerade deshalb aber sei es Aufklärung, ebendieses Symbolische vom Intellektuellen, in der Religion den Gottesdienst von ihrer Moralität, insgesamt die zwar einige Zeit hindurch nützliche und nöthige Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden. Sonst würde ein Ideal der praktischen Vernunft nur zu leicht gegen ein Idol vertauscht und der Endzweck der Vorläufigkeit in Richtung auf das Endgültige der Vernunft verfehlt werden.[3] Noch etwas allgemeiner in bezug auf das Vorhaben einer Kritik der Vernunft hat Kant in seiner Logik-Vorlesung die Metaphorik von Hülle und Enthüllung gebraucht, und zwar in Abwehr der von d’Alembert gehegten Besorgnis hinsichtlich der Überlast neuer Erkenntnisse: Kritik der Vernunft, der Geschichte und historischen Schriften, ein allgemeiner Geist, der auf das menschliche Erkenntniß en gros und nicht bloß im detail geht, werden immer den Umfang kleiner machen, ohne im Inhalte etwas zu vermindern. Bloß die Schlacke fällt vom Metalle weg oder das unedlere Vehikel, die Hülle, welche bis so lange nöthig war.[4] Kants Bild von der künftigen Geschichte der Wissenschaften ist das der Erweiterung der Methode zugunsten der Verminderung der Inhalte, zumal des in der Menge der Bücher aufbewahrten Alten. Auf die Erfindung solcher Methoden kommt es an, die gestatten, alles mit Hülfe derselben nach Belieben selbst finden zu können. Daher mache sich der um die Geschichte wie ein Genie verdient, 91welcher sie unter Ideen faßt, die immer bleiben können.[5] Die wahre Geschichte der Wissenschaft ist also Verschlankung durch Enthüllung, und dieses durch Auffindung der Erzeugungsregeln für Erkenntnisse, die jederzeit und von jedermann selbst aufs Inhaltliche angewendet werden kann.
Kants Einsatz der Metaphorik von Enthüllung als Aufklärung bedarf der verstärkenden Belege nicht. Sie werden kommen, um die Vielfältigkeit der Aspekte dieser Metaphorik nachzuweisen. Dennoch ist es erstaunlich, daß es die Metapher der Entblößung auch für die Gegenbewegung zur Aufklärung, die Romantik, gibt. Die Romantiker seien es eigentlich, die das Herunterreißen der Hüllen, der Schleier, der Verkleidungen von der Seele, vom Herzen, am weitesten getrieben hätten, etwas, was in der Antike niemals möglich gewesen wäre – also auch dem die Antike repristinierenden Klassizismus fremd gewesen sein mußte. Als die Tochter Neckers und Frau des schwedischen Adeligen de Staël-Holstein 1814, auf der Flucht vor Napoleon und unter der Inspiration August Wilhelm Schlegels, die Landschaft der deutschen Literatur in ihrem Kabinettstück der Mißverständnisse einer exotischen Realität »De l’Allemagne« das deutsche Exempel für die französische Romantik präparierte, schrieb sie in einem einzigen Satz den deutschen Romantikern die Brutalität der Enthüllung zu, die diese mit der Aufklärung gerade überwunden zu haben glaubten: … tous les voiles du cœur ont été déchirés.[6] Gegenbewegungen, das ist eine der Einsichten, die hier zu gewinnen sind, müssen auf die Spielregeln der Formation eingehen, der sie sich widersetzen; die Romantik hatte ihre eigene Art von Nacktheit, ständig verwechselbar mit den gewagten Kostümierungen, die sie den Vergangenheiten nach Belieben entnahm. Jede historistische Extravaganz der Kostümierung ist ein Appell an den Hintergedanken, wie das, was sich da dem Wahn der Verkleidungen hingibt, im Tageslicht der Ernüchterung aussehen mag. Deshalb ist eine neue Stufe des immer relativen Realismus die zwingende Folge von Romantiken: Das Junge Deutschland kommt sich vor wie das ›Ding an sich‹ nach einer Ära der Erscheinungen, unter denen Goethe die verkleidetste gewesen sein sollte.
92In Heines tendenziösem und gegenüber seinem französischen Publikum gefallsüchtigen Vergleich der Romantik in Frankreich und in Deutschland soll das, was hier ohne die vorhergegangene Revolution als Erneuerung des Mittelalters in seiner Wirkung sogar Freiheit und Glück des Landes gefährdet, dort nur artistische Befriedigung einer plötzlich erwachten Neugier sein, denn in Frankreich war es niemand anders als der ›große Souverain‹ selbst, das französische Volk, welcher plötzlich die Lust empfand, das Grab der Vergangenheit zu öffnen und die längst verschütteten, verschollenen Zeiten bei Tageslicht zu betrachten. Den Franzosen versichert Heine die Harmlosigkeit dieser Belustigung, ihre Nähe zum bloßen Verkleidungsscherz und zum Wechsel der Moden: Die meisten schauten in die Gräber der Vergangenheit nur in der Absicht, um sich ein interessantes Kostüm für den Karneval auszusuchen. Die Mode des Gotischen war in Frankreich eben nur eine Mode, und sie diente nur dazu die Lust der Gegenwart zu erhöhen. Man läßt sich die Haare mittelalterlich lang vom Haupte herabwallen, und bei der flüchtigsten Bemerkung des Friseurs, daß es nicht gut kleide, läßt man es kurz abschneiden mitsamt den mittelalterlichen Ideen, die dazu gehören. Ach! in Deutschland ist das anders.[7] Zu diesem Zeitpunkt konnte der gedachte Souverain, das französische Publikum, selbst schon vergessen haben, daß es auch seine Revolution zur Entdeckung einer Vergangenheit und des ihr zugehörigen Kostüms, des der römischen Republik, genutzt hatte und seine modischen Wendungen keineswegs so souverän waren, wie es ihm hier geschmeichelt werden soll. Das Bedürfnis nach Kostümierung folgte der nackten Wahrheit der Aufklärung, und nachträglich erweist sich immer die These als richtig, daß noch deren Nacktheit Kostüm ist, das sich genauso als Kühnheit tragen läßt wie Römertum oder Gotik. Heine selbst ist ja eine vielfach kostümierte Erscheinungsform der Aufklärung – oder jedenfalls dessen, was er für Aufklärung hielt –, wie es anders nach der Romantik oder sogar noch in ihr anders nicht sein konnte.
Man sollte nicht vergessen, daß die Verbindung von Aufklärung und Romantik, die Heine versuchte und die ihm oft gelang, im Jahrhundert zuvor und unter den weniger komplizierten Ansprüchen der beginnenden deutschen Aufklärung schon von Christoph Martin Wieland als Vereinigung von Aufklärung und Rokoko nicht 93ohne Glück versucht worden war. Aber gerade diese Konjunktion zwischen dem kahlen Vernunftprinzip und seiner zeitgebundenen Ausdrucksfähigkeit spiegelt das metaphorische Grundverhältnis von Nacktheit und Verhüllung. Zu diesem menschheitlichen Sachverhalt Zugang zu gewinnen, erscheint bei Wieland geradezu als Maxime seiner Bildungsidee sowohl seines Agathon wie des jungen Demokrit in der »Geschichte der Abderiten« von 1781 (entstanden und teilweise publiziert seit 1774). Der spätere Philosoph und Mitbegründer der Atomistik verläßt hier als junger Mann und reicher Erbe seine Vaterstadt Abdera, die ionische Kolonie in Thrakien, um auf Reisen die Welt kennenzulernen, wodurch sich für dieses eine Mal zuwege bringen ließ, daß ein geborener Abderit Menschenverstand bekam. Dazu konnte ihm seine Vaterstadt nicht verhelfen. So mußte er denn reisen, um Natur und Kunst in allen ihren Wirkungen und Ursachen, den Menschen in seiner Nacktheit und in allen seinen Einkleidungen und Verkleidungen, roh und bearbeitet, bemalt und unbemalt, ganz und verstümmelt, und die übrigen Dinge in allen ihren Beziehungen auf den Menschen kennen zu lernen.[8] Als Beispiel für das, was ihn an der Natur interessiert, steht die äthiopische Raupe; sie ist Demokrits Beispiel für die Art, wie sich ein Interesse an der Natur auf deren Nutzung für den Menschen beziehen kann: Wenn einmal irgendwo Raupen durch den von ihnen gesponnenen Faden der menschlichen Bekleidung nützlich geworden waren, könnte dies auch anderswo und für andere Raupen gelten. Wie alles in dieser abderitischen Geschichte hat auch der elementare Dualismus von Nacktheit und Bekleidung, die Beziehung der Natur auf diese Alternative, einen Hintersinn für den Umgang mit der Vernunft. Diese Vernunft kann der heimkehrende Demokrit seinen Mitbürgern nicht so darstellen, wie er sie gewonnen hat, und sie vergnügen sich lieber mit den Affen und Krokodilen, die er mitgebracht hatte, als mit seinem gesammelten Wissen, das sie nicht dazu bringen kann, ihn als einen Weisen anzuerkennen: Weil sie sich alsdann selbst für Dummköpfe hätten halten müssen. Und dies zu tun waren sie gleichwohl nicht widersinnig genug.[9]
Der Verdeutscher des Lukian (1788/89) versucht sich kurz darauf selbst in der Gattung der »Göttergespräche«, die zwischen 1789 94und 1793 entstehen. Von den fünf letzten der dreizehn Dialoge sagt er selbst, daß sie teils durch die Französische Revolution überhaupt, teils durch besondere Epoken derselben veranlaßt worden seien und durch den von ihnen empfohlenen Geist von Mäßigung und Billigkeit[10] zwar nicht auf den Beifall der zeitgenössischen Parteien, wohl aber auf den späterer Zeiten rechneten. Das letzte und späteste Gespräch veranstaltet Juno auf dem Olymp mit vier hochpolitischen Damen der Geschichte, von Semiramis bis Elisabeth von England, eine Geheimkonferenz über die Grenzen der Aufklärung und ihrer öffentlichen Wirkung. Die Königin von Babylon und Begründerin des Weltwunders ihrer Gärten spricht eindringlich über den unvorsichtigen Gebrauch der Wissenschaften und das erforderliche Verbot für die Vertreter der Weisheit, alles ohne Unterschied gemein zu machen was sie wissen und denken. Den Entblößungen der Wahrheit müsse Einhalt geboten und neue Verhüllung entgegengesetzt werden: Die Wissenschaften überhaupt, und besonders diejenigen die das Wort Philosophie umfaßt, müssen wieder mit dem heiligen Schleier des Geheimnisses, den ihnen die leichtfertigen Griechen abgezogen haben, bedeckt, und einem nicht zahlreichen Orden von Weisen anvertraut werden, dessen Verfassung und Betragen die Regierung (von welcher er immer abhängig bleiben muß) übersehen, beleuchten und in den gehörigen Schranken halten kann.[11] Dies muß nicht als Wielands Fazit der Revolution vom Jahre 1794 her genommen werden. Aber es ist auch keine bloß ironisch zugelassene Ansicht der Dinge mehr. Denn die Aufklärung, von der er die Babylonierin sagen läßt, sie scheine in diesen Tagen ihre höchste Stufe erreicht zu haben, habe doch auch und gerade dadurch schon als eine allgemein merkliche Folge davon gezeitigt, daß alles sich wieder nach der Rückkehr jener goldnen Zeiten sehnt, da die Menschheit noch im Genuß einer unverkünstelten Einfalt, Aufrichtigkeit, Wärme und Energie so glücklich war, daß sogar die Günstlinge der Gegenwart begonnen hätten, das Glück jener rohen Kinder der Natur zu beneiden,[12] also mit dem Rousseauismus sich zu befreunden. In der Sehnsucht nach dem vormaligen Naturzustand hat Wieland eher 95eine Gegenkraft zum Rationalismus des Jahrhunderts und zu der ihn vollstreckenden Revolution gesehen, wobei nicht übergangen werden darf, daß es in Wielands Ansicht nicht erst dieses Jahrhundert gewesen war, das mit den Entschleierungen begonnen hatte, sondern die Leichtfertigkeit der Griechen es gewesen war, die diesen Prozeß eingeleitet hatte. Dennoch läßt Wieland die Genossin des Perikles, Aspasia, der Babylonierin entschieden widersprechen und ihren Vorschlag, der Aufklärung Grenzen zu setzen, für undurchführbar erklären: Eher wollte ich mich erkühnen dem Herkules seine Keule, als einem Volke, das sich des Gebrauchs seiner Vernunft einmal bemächtigt hat, diese furchtbarste aller Waffen wieder aus der Hand zu winden.[13] Das Wissen und die Wissenschaft seien wie Luft und Sonnenlicht zum Gemeineigentum der Menschheit geworden und ließen sich nicht wieder unter den Schleiern des Geheimnisses verbergen.
Von Wieland wieder zu Heine zurückkehrend oder vorausblickend, bleibt auffällig und verwunderlich, wie seine Grunderfahrung der deutsch-französischen Differenz, zumal die der sprachlichen Transformation, auch seine Metaphorik von nackter und verhüllter Wahrheit bestimmt. So habe er die Schwierigkeiten, die bei seinen frühen Begegnungen mit Hegel in Berlin dem Begreifen entgegengestanden hatten, erst beim Versuch erkannt, ihn ins Französische zu übersetzen. Hegel habe mit seinem Vortrag gar nicht verstanden sein wollen und habe Personen den Vorzug gegeben, die ihn auch gar nicht verstehen konnten; so dem Bruder des Komponisten Meyerbeer, der den vertrautesten Umgang des Meisters genoß, weil er dessen Monolog nicht störte. Ein Paradox aus dem Munde Felix Mendelssohns sei gewesen, Hegel verstände seinerseits den Heinrich Beer nicht. Die Berliner Komödie der Unverständlichkeiten erschließt sich Heine erst viele Jahre später in Paris, als er jenes abstrakte Schulidiom in die Muttersprache des gesunden Verstandes und der allgemeinen Verständlichkeit zu übertragen ansetzt. Da müsse der Übersetzer mit Bestimmtheit wissen, was er zu sagen habe, und der verschämteste Begriff ist gezwungen, die mystischen Gewänder fallen zu lassen und sich in seiner Nacktheit zu zeigen. Es blieb nicht beim Versuch, sondern kostete zwei Jahre, eine solche Übertragung der Philosophie Hegels zu versuchen. Als 96das Werk fertig war, erfaßte mich bei seinem Anblick ein unheimliches Grauen, und es kam mir vor, als ob das Manuskript mich mit fremden, ironischen, ja boshaften Augen ansähe. Ich war in eine sonderbare Verlegenheit geraten: Autor und Schrift paßten nicht mehr zusammen.[14]
Zu seinen geplanten, aber nicht vollendeten, zum Teil auch vernichteten »Memoiren« hat Heine ein Vorwort entworfen, in dem er das Wort an eine Dame richtet, der er vieldeutig verspricht: Ich will dir das Märchen meines Lebens erzählen. Einerseits ist es Tadel an dem Mangel der Aufrichtigkeit bei allen Vorgängern, auch bei Rousseau, nicht minder Ironisierung von »Dichtung und Wahrheit«, Vieldeutigkeit des Schwankens zwischen Treuherzigkeit der Mitteilung und Verweigerung der Wahrheit. Der Autor gibt sich als Zuschauer und Opfer seiner Zeit, der sich die Selbstgefälligkeit von Memoiren nicht leisten könne, die Hälfte des Textes aus leidigen Familienrücksichten oder auch religiösen Skrupeln wieder habe vernichten müssen und vor seinem Tod sogar noch ein neues Feuergericht über den Rest der Aufzeichnungen erwartet – kein Unglück, da Vergessenheit das Schicksal dessen wäre, was von den Flammen verschont würde. Der so angeredeten ›teuren Dame‹ kann er die Lektüre seiner Memoiren und Briefschaften weder gewähren noch so unbedingt verweigern, daß er ihr nicht seinen guten Willen bekunden könnte, die holde Neugier stillen zu wollen. Was die derart hingehaltene wie angezogene Adressatin aber erwartet, ist in einer einzigen Metapher mit einer überraschenden Wendung ausgesprochen: Die Hülle fällt ab von der Seele, und du kannst sie betrachten in ihrer schönen Nacktheit. Da sind keine Flecken, nur Wunden.[15] Es ist der Ecce homo-Typus der Nacktheit, die den Leib des Schmerzensmannes sichtbar werden läßt, was den späten Heine bestimmt.
Viel früher ist es die barbarische Nacktheit, die ihm vor allem in Shakespeare allen Verkleidungskünsten entgegengetreten zu sein schien. In der Denkschrift auf Ludwig Börne von 1840 vergleicht er in einer auf den 29. Juli 1830 datierten und auf Helgoland lokalisierten Notiz das Alte Testament mit Shakespeare: In beiden [sei] das Wort gleichsam ein Naturprodukt. Shakespeare sei der einzige Schriftsteller, bei dem er etwas finden könne, was an jenen unmittelbaren Stil der Bibel erinnere: Auch bei ihm tritt das Wort 97manchmal in jener schauerlichen Nacktheit hervor, die uns erschreckt und erschüttert; in den Shakespeareschen Werken sehen wir manchmal die leibhaftige Wahrheit ohne Kunstgewand. Aber das geschieht nur in einzelnen Momenten …[16] In der Zeit der Vorbereitung der Börne-Denkschrift, in »Shakespeares Mädchen und Frauen« von 1839 wird Shakespeare mit dem französischen Typ der Entblößung konfrontiert, noch ganz zu dessen Nachteil. Erst bei Gelegenheit der politischen Revolution, die auch eine literarische hervorgebracht habe, die vielleicht an Terrorismus die erstere überbietet, war auch Shakespeare auf den Schild gehoben worden, freilich nicht mit ganzer Aufrichtigkeit und Hingabe und mit dem Vorbehalt des Widerrufs. Die Franzosen seien zu sehr die Kinder ihrer Mütter, hätten zu sehr die gesellschaftliche Lüge mit der Ammenmilch eingesogen, als daß sie diesem Dichter wirklich Geschmack abgewinnen oder ihn gar verstehen könnten. Seit einiger Zeit gebe es bei ihren Schriftstellern ein unbändiges Streben nach derartiger Natürlichkeit: Sie reißen sich gleichsam verzweiflungsvoll die konventionellen Gewänder vom Leibe, und zeigen sich in der schrecklichsten Nacktheit … Doch bleibe ihnen immer etwas anhängen, ein modischer Fetzen, was noch der überlieferten Unnatur angehöre, und der deutsche Zuschauer erscheint noch nicht ganz im Unrecht, wenn er sich dadurch ein ironisches Lächeln entlocken läßt. Diese Schriftsteller mahnen mich immer an die Kupferstiche gewisser Romane, wo die unsittlichen Liebschaften des achtzehnten Jahrhunderts abkonterfeit sind, und, trotz dem paradiesischen Naturkostüme der Herren und Damen, jene ihre Zopfperücken, diese ihre Turmfrisuren und ihre Schuhe mit hohen Absätzen beibehalten haben.[17] So bleibt auch die Nacktheit noch Kostüm, immer wieder das Äußere eines weiter verborgenen Natürlichen, und es zeigt sich, daß die Nacktheit gerade die Illusion ist, die durch den Gestus des Herunterreißens der Kostüme erweckt wird. Wären nicht Altes Testament und Shakespeare als Grenzwerte der Natürlichkeit ins Auge gefaßt, müßte man sich dem Schema der Zwiebelschale nähern: Leibhaftigkeit gibt es nicht.
Dann aber, als Heine im Januar 1844 in Paris »Deutschland. Ein Wintermärchen« schreibt, weht ihm die freie Luft des Ortes in seine Strophen schärfer hinein, als ihm lieb gewesen sei, und so muß er 98alsbald mildern und ausscheiden, was mit dem deutschen Klima unverträglich wäre. Noch nicht mit endgültigem Erfolg, denn der Hamburger Verleger verlangt nochmalige Handanlegung: Einigen nackten Gedanken habe ich im hastigen Unmut ihre Feigenblätter wieder abgerissen …[18] Die Zumutungen des Verlegers sind schuld, wenn einige Anstößigkeiten noch entstanden sein sollten. Schließlich die pagane Nacktheit, die Unschuld der Antike, erstickt unter der Leibfeindschaft des Christentums, dargestellt im Bild der Psyche in einer der Romanzen in den »Neuen Gedichten« von 1840, die sich nächtens zum Lager des schlafenden Amor schleicht und in Anblick seiner Schönheit errötet und erzittert – wodurch der enthüllte Gott der Liebe erwacht und entflieht. Was auf diese nächtliche Szene folgt, ist die Geschichte vom Ende der Antike bis zu Heinrich Heine, Buße durch achtzehnhundert Jahre: Und die Ärmste stirbt beinah! / Psyche fastet und kasteit sich, / Weil sie Amorn nackend sah.[19]
Nacktheit ist am Ende ein Grundwort des Abscheus. In den »Geständnissen« von 1854 bekennt Heine sich zum alten Gott der Väter gegen fanatische Mönche des Atheismus, Großinquisitoren des Unglaubens, die noch Voltaire verbrennen würden als einen verstockten Deisten. Was vor der Revolution im müßigen Hofleben ein Zeitvertreib gegen die Langeweile mit Umsturzideen gewesen war, wurde zur plumpen Gottesleugnung der niederen Massen, wo der Atheismus anfing, sehr stark nach Käse, Branntwein und Tabak zu stinken – Gestank, da seien Heine plötzlich die Augen aufgegangen, und er habe, was seinem Verstand entgangen sei, nun durch den Geruchssinn begriffen, durch das Mißbehagen des Ekels. Das war das Ende seines Atheismus: Um die Wahrheit zu sagen, es mochte nicht bloß der Ekel sein, was mir die Grundsätze der Gottlosen verleidete und meinen Rücktritt veranlaßte. Es war hier auch eine gewisse weltliche Besorgnis im Spiel, die ich nicht überwinden konnte; ich sah nämlich, daß der Atheismus ein mehr oder minder geheimes Bündnis geschlossen mit dem schauderhaft nacktesten, ganz feigenblattlosen, kommunen Kommunismus. Da er um seine Kapitalien nicht zu zittern hatte, in seinen Geschäften gehemmt zu werden nicht befürchten brauchte, war der Abscheu letztlich wiederum ästhetisch, die geheime Angst 99des Künstlers und des Gelehrten,[20] Furcht um die mühsam über lange Zeiten errungene Höhe der Kultur, der Schönheit, der Genießbarkeit der Welt.