Antike und Mittelalter haben die beiden erhabensten Gegenstände des Weltalls unter einen besonderen theoretischen Vorbehalt und Entzug gestellt gesehen: den Sternenhimmel und den Menschenleib.
Die Astronomie sollte kein real gültiges Bild von ihrem Gegenstand gewinnen können, das Erklärungen ihrer Erscheinungen zugelassen hätte; was ein Stern ist und was ihn bewegt, sollte unzugängliches Geheimnis bleiben, und nur die strengen Gesetze der Erscheinungen seiner Bewegung konnten über die Zeit hinweg festgestellt und zur Berechnung ihrer Wiederkehr verwendet werden.
Die Medizin sollte beschränkt bleiben auf die an der Oberfläche des Leibes auftretenden Erscheinungen, deren Zuordnung zu bestimmten Beschwerden und Leiden sie als Symptome innerer und wiederum unzugänglicher Vorgänge auswies. Wie die scheinbare Innenwölbung des gestirnten Himmels, war die Haut des menschlichen Körpers Inbegriff dessen, was sich der Theorie darbot und in beiden Fällen zur Prognose, in einem der beiden Fälle sogar zur Therapie, hinleitete.
Aufs Jahr genau sind die beiden metaphysischen Beschränkungen der Theorie gleichzeitig gefallen: durch Kopernikus die eine, durch Vesalius die andere. Auf beiden Seiten des Universums sollte sich zeigen, daß die Tiefe des Eindringens dort wie hier immer neue Dimensionen erreichen und keine Vorstellung vom Zusammenhang des jeweils Ganzen sich als abschließend erweisen sollte.
Ein Mensch, der bis auf die Haut entblößt wird, ist immer noch mit einem nur vorläufigen Grad von Nacktheit zugänglich geworden, nämlich mit der von seiner Haut gebildeten Außenfläche seines Körpers, der Erscheinungsfläche von Symptomen innerer Krisen. Er ist das undurchsichtige Wesen schon kraft dieser Verborgenheit seiner wesentlichen Funktionen. Erst recht kraft seiner Fähigkeit, dieses Äußere zum aktiven Entzug seines Inneren für den Blick der anderen zu nutzen.
Anatomie und Physiologie wie Pathologie bahnten sich den Weg 101durch die Leibesoberfläche und ließen neue Grade von Nacktheit sichtbar werden. Diese machten ungleich betroffener als Früheres, weil all das, was für den Lebenden als sein Inneres und Eigenes durch die Äußerlichkeit des Leibes geschützt gewesen war, sich am Leichnam als das erweist, was dem Zugriff von Hand und Blick ungeschützt preisgegeben ist und was doch nicht erst durch den Übergang vom Leben zum Tod geschaffen worden war, sich vielmehr in Rückprojektion auf das beziehen ließ, was immer schon da war, sich aber nicht hatte zeigen müssen. Der Preis für die theoretische und therapeutische Umsorgung des Menschen war die Ernüchterung vor seiner rücksichtslosen Entblößung.
Unter diesem Gesichtspunkt hat es eine eigene Bedeutung, daß das Einschneiden in den menschlichen Körper über viele Jahrhunderte hinweg zumeist einer niederen Kategorie von Operateuren überlassen worden war und die Eröffnung von Leichen unzulässig blieb. Als dieses alte Verbot beiseite geschoben wurde, war auch hinsichtlich des Leibes eine neue Qualität nicht nur der möglichen Erkenntnisse, sondern mehr noch der Einstellung und der optischen Unerschrockenheit erreicht worden. Das Innere wurde eine Metapher von ganz anderer Art, die eine Relation zu dem, was als das Äußere galt, mit ständiger Verschiebung ins Unbekannte darstellte, bei der fast zwangsläufig eine letzte Sperre der Entzogenheit erreicht werden mußte, hinter der nicht einmal mehr das Eigene dessen erkannt werden konnte, dem es als sein zu verantwortendes Inneres zuzuweisen war.
Der Berliner Arzt Markus Herz war, nach der Qualität des Briefwechsels mit seinem Lehrer zu urteilen, der bedeutendste Schüler Kants. Er hatte bei dessen Verteidigung der Inauguraldissertation 1770 als Respondent mitgewirkt. Kant hat die weiteren medizinischen Studien seines Schülers aus der Ferne mit Interesse und mit der Distanz dessen verfolgt, der für sich selbst Medizin ohne Unterschied für ein Gift hielt. Er empfiehlt Übung im Praktischen der Arzneikunst unter Anführung eines geschickten Lehrers: Der Kirchhof darf künftig nicht vorher gefüllet werden ehe der junge Doktor die Methode lernt wie er es recht hätte angreifen sollen.[1] Schon vier Jahre nach dieser Mahnung mahnt Herz seinerseits als Arzt am Krankenhaus der jüdischen Gemeinde zu Berlin seine Zunft102genossen in »Briefen an Ärzte« (1777), die er 1784 in der zweiten Auflage schon zweibändig machen mußte. Dort hat er die Wichtigkeit der negativen Erfahrungen für den Arzt in der Sprache Kants damit begründet, daß sie die Gränzen der Kunst festsetzen, also zur ständigen Vergrößerung unserer Pathologie beitragen. Da habe die ›Zergliederungskunst‹ ihren größten Wert für die Praxis der Arzneikunst: Sie ist es, die uns den Feind nackt vor Augen stellt, mit dem wir vorher blindlings rangen, freylich in dem gegenwärtigen Falle immer zu spät, aber sie lehrt ihn uns doch kennen, um ihn in der Zukunft mit sicherern Waffen zu begegnen.[2] Im neuen zweiten Band der Ärztebriefe, in deren viertem hat er einer Mahnung Kants aus jenem Brief von 1773 neuen Ausdruck verschafft: Die Theorien sind so hier wie anderwerts und öfters mehr zu Erleichterung des Begrifs als zum Aufschluße der Naturerscheinungen angelegt.[3] Das sieht für den Erfahrenen nun so aus: Es giebt Zeiten, und dieß sind gewöhnlich die ersten Jahre des Künstlers, da den Arzt nichts leichter dünkt, als Erfahrungen zu sammlen. Jede Krankheit die unter seinen Händen zu Ende gebracht wird, scheint ihm ein Erfahrungsfall zu seyn, womit die Kunst bereichert wird … erst spät wird man es gewahr, wieviel Erfahrung man haben muß, um eine einzige machen zu können.[4] Wie die Pathologie das Paradox der Nacktheit des Menschen als des unabschließbaren Prozesses der Durchdringung seiner Oberfläche enthält, so die Erfahrung des Arztes das Paradox der medizinischen Empirie, das man immer schon haben muß, was man doch allererst dadurch erlangen könnte. Der Mensch ist, so banal es klingt, ein Fall der erschreckendsten Prolongation der Nacktheitsmetaphorik zur Metapher der Zwiebelschale, der Artischocke. Nichts ist, wenn er einmal geöffnet worden ist, ein Letztes; und wo ein Letztes erreicht zu sein scheint, ist es nicht mehr das seinige.