Aktaion war über seinen Vater Aristaios unmittelbar mit Apollon verwandt. Seine Schwester Makris wurde die Amme des Dionysos. Seine von dem Gotte zur Zeugung eines Sohnes begehrte Großmutter Kyrene war die erste Feministin des Mythos, denn sie hatte für Hausarbeit sowie Spinnen und Weben nur Verachtung übrig, um auf dem Pelion Tag und Nacht einer wilden Jagdleidenschaft zu frönen. Wobei sie denn auch, als sie mit einem gewaltigen Löwen kämpfte, von Apollon zuerst gesehen wurde. Für das Schicksal des Enkels mag dies nicht gleichgültig gewesen sein.
Eines Tages sah dieser die Göttin Artemis in der Nähe eines Felsens bei Orchomenos im Fluß baden und wandte sich nicht, wie es sich gehört hätte, ab. Die Göttin, die sogar von ihrem Gefolge vollkommene Keuschheit verlangte, war empfindlich genug, die auf sie gerichteten Blicke des Götterenkels zu bemerken. Es wird eine späte Erklärung des Hyginus oder des Pausanias[1] sein, daß Artemis den Aktaion daran hindern wollte, sich ihres ungestraften nackten Anblicks irgendwann und irgendwo zu rühmen. Einer Göttin ihrer Art wird hinreichend gewesen sein, daß ein Mannesauge auf ihr geruht hatte. Sie verwandelte den Aktaion in einen Hirschbock, woraufhin er von seiner eigenen Meute, bestehend aus fünfzig Hunden, in Stücke gerissen wurde. Man kann dies als eine in der Familientradition liegende Strafe dafür verstehen, daß er sich von der Leidenschaft der Jagd hatte ablenken lassen und so selbst zum Opfer seiner Jagdhunde wurde.
Zwei Momente sind ineinander aufgegangen: das Erotische des Anblicks der nackten Göttin und das Mythische des Blicks auf einen Gott, wie er ist, und nicht, wie er sich zeigen will. Ein Gott ist immer das, was so viel später die Scholastik ein obiectum voluntarium nennen wird. Im homerischen Epos steht fest, daß erst das plötzliche Verschwinden des in irgendeiner Gestalt erschienenen Gottes dem Betroffenen aufgehen läßt, es sei ein Gott gewesen. Der Gott hat ihn durch die Auflösbarkeit seiner Erscheinung über105rascht; nicht umgekehrt war der Gott in seiner momentanen Evidenz überrascht und erkannt worden.
Die freventlich beim Bade erblickte Göttin kann den nicht leben lassen, der sich genommen hatte, was sie nicht gewähren wollte. Zugleich jedoch ist er dadurch der geworden, dem sie nicht ungnädig sein kann: Er muß vor ihr genauso gerettet werden wie sie vor ihm. Er ist in ihr Geheimnis eingeweiht, ihr Adept geworden, und das bindet sie an ihn, liefert sie ihm aus. Teilweise Einweihung ins Mysterium, das sich als momentane Evidenz darbietet, gibt es nicht. Die Todesart des Aktaion ist umständlich und aufs Jagdmilieu abgestimmt. Daß der sterben muß, der den Gott gesehen hat, gehört zu dem, was ihm nachgesagt wird, und ist hier durch die Mittelbarkeit des Verfahrens in die Eigentümlichkeit des Mythos übersetzt. Da läßt sich nicht schlichtweg sagen, was den Gott tödlich mache, sei die Unerträglichkeit seines Anblicks selbst. Dieses genuine Moment verliert sich in der Überlieferung des Mythos, in dem Maße, wie die Geschichte derart erotische Züge annimmt, daß Aktaion in der bloßen Unzulässigkeit des Gegenspielers der göttlichen Keuschheit erscheint. Dann wird aus dem zufälligen Betreffen der Göttin beim Bade so etwas wie die regelmäßige Szene des Voyeur, wenn Aktaion gar eigens einen Baum bestiegen haben sollte, um besser sehen zu können, nach Hyginus sogar der Göttin Gewalt angetan haben soll. Aus dem Verstoß gegen das tremendum des Gottes ist die todeswürdige Leidenschaft unter dem fascinosum der vollkommenen, eben nur einer Göttin zustehenden Schönheit geworden. Die archaische Schauerlichkeit der Geschichte, die gerade die Treue des Hundes benutzt, um seinen äußersten Verstoß gegen sie als Verkennung des Fremdartigen verständlich zu machen, versinkt spätestens dann im lindernden Instrumentarium der mythischen Rezeption, wenn Ovid sich imstande sieht, eine vollständige Namensliste der Jagdhunde zu geben, worin ihn Hyginus mühelos durch Verdoppelung zu überbieten vermag.
Es scheint in der antiken Mythologie keinen Beleg dafür zu geben, daß der optische Frevel des Aktaion etwas mit der nackten Wahrheit zu tun haben könnte, obwohl die Allegorese auf die Zudringlichkeit der Neugierde nicht fehlt.
In der satirischen Sammlung der »Dunkelmännerbriefe« von 1515 findet sich ein spöttischer Beleg für spätmittelalterliche Mythenallegorese unter dem Einfluß der Bibelexegese. Es ist der fiktive 106Brief des Dominikaners Conradus Dollenkopfius an seinen Lehrer, den Magister Ortvinus Gratius. Der Schreiber des Briefes berichtet von seinen ersten Erfahrungen beim Studium in Heidelberg, wo er neben der Theologie auch die Poetik belegt hat und eben in dieser seine Fortschritte gemacht zu haben glaubt, indem er für alle Mythen des Ovid in den »Metamorphosen« jenen vierfachen Schriftsinn anzugeben imstande sei. Dabei sei er auf die Ovid-Auslegung des englischen Dominikaners Thomas de Walleys von 1509 gestoßen, die eine Konkordanz zwischen den Götterngeschichten des Ovid und Stellen des Alten Testaments enthält. Wie das zugeht, veranschaulicht auch die Geschichte von Aktaion, der die Diana nackt sah, was der Prophet Ezechiel im Kapitel 16 nicht anders prophezeit habe: Du warst bloß und beschamet, und ich ging vor dir über und sahe dich an.[2] Auf diese Stelle wiederum bezieht sich Voltaire im zweiten seiner Briefe über Rabelais und dessen Vorläufer, zu denen er vorzüglich die »Dunkelmännerbriefe« zählt, die mit nicht geringerer Unbefangenheit und Kühnheit geschrieben seien als Rabelais. Voltaire erwähnt nicht, daß die Vergleiche zwischen den Götternmythen und der Bibel von dem englischen Dominikaner übernommen sind, zitiert aber gerade den Satz vom Propheten Ezechiel, der die mythische Szene als Vision gehabt haben müsse: Ezechiel hat von Aktäon geweissagt, der die Blöße der Diana sah: ›Du warst nackt; ich bin dort vorbeigekommen und habe dich gesehen.‹[3]