Eine schöne Charakteristik der Situation Lessings und der Lebensstimmung seiner späten Jahre hat Karl August Varnhagen von Ense in seinen Tagebüchern am 18. Mai 1843 zu einer Lektüre Lessings gegeben.[1] Der Überdruß und Mißmut dieser letzten Lebensjahre mache einen fürchterlichen Eindruck, sein Fleiß und dessen aufbewahrter Ertrag erwecke ein schmerzhaftes Mitgefühl: Es fehlte den Deutschen, wie noch jetzt, damals an freier öffentlicher Wirksamkeit, sie mußten sich in gelehrtem Wesen ersticken; wo sie aus dem Bücherstaub in den des Markts und der Straßen heraustraten, mußten sie gleich kämpfen. Uns geht es noch so![2]
Lessings Auge ist uns geschildert worden durch den Übersetzer Homers, Johann Heinrich Voß, der ihm beim Aufenthalt in Hamburg 1776 begegnete. In einem Brief berichtet Voß, man bade jetzt alle Tage und erwarte Lessing und Eschenburg, wenn ihnen die empfindsamen Weiber nur Friede lassen. Und dann die Betroffenheit von Lessings Blick, einem Blick, wie ich noch nie gesehen habe, in seinen blauen Augen, einen rechten Geierblick …[3]
An der Physiognomik Lavaters hatte Lessing – trotz oder bei dieser Schärfe des Auges – wenig Geschmack, zumal in ihrem Zusammenhang mit dem Umtrieb des Sturm und Drang. Wer sich keiner Regel unterwerfen wolle, der müsse schon auf den Kopf gefallen sein, wenn er nicht für ein Schauspiel eine Situation oder launige Szene machen könne, bemerkte Lessing im Hinblick auf Goethe und Lenz. Höchst aufgebracht sei er gewesen gegen die »Leiden des jungen Werthers«, weil der Charakter Jerusalems ganz verfehlt sei; dieser sei niemals der empfindsame Narr gewesen, sondern ein wahrer Philosoph. In diesem Zusammenhang kommt er, nach dem Bericht von Christian Felix Weiße, auf Basedow und Lavater, die er ein paar enthusiastische Narren nennt, des letzteren Physiognomik ein abgeschmacktes Unternehmen. Diesem lapidarem Urteil ist eine Bemerkung hinzugefügt, 108aus der man Lessings implizite Anthropologie entwickeln könnte: So viel er Zweifel in die Sache selbst setzte, so behauptete er, man müsse, wenn ja etwas dran wäre, die Menschen ganz nackend sehen, weil oft ein garstiges Gesicht auf einem sehr schön gebauten Körper stünde.[4]
Aber Lessing wollte ja nicht einmal die Wahrheit nackt, da er es angesichts deren nicht hätte vermeiden können, das Suchen nach ihr aufzugeben und sich im so gescheuten ruhigen Besitz derselben zu befinden. Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.[5]
Lessing wollte auch seine Wahrheit nicht im ruhigen Besitz anderer wissen. Daraus mag sich erklären, daß er gegenüber Jacobi eine Maske aufgesetzt hatte, die des Spinozisten, denn daß er dies war, ist so wenig wahrscheinlich, wie daß er irgend etwas anderes dogmatisch gewesen wäre. Entblößung suchte er nicht, um die Wahrheit unter ihren Hüllen zu finden; viel besser trifft ihn die Umkehrung der Metapher, die er selbst in seinem Schauspiel »Der Freigeist« der Titelfigur des Adrast in den Mund gelegt hat, um die Behauptung Julianes zu bestreiten, die Wahrheit sei für alle zugänglich und erreichbar: Das, was unter der Gestalt der Wahrheit unter allen Völkern herumschleicht …, ist gewiß keine Wahrheit, und man darf nur getrost die Hand, sie zu entkleiden, anlegen, so wird man den scheußlichsten Irrtum nackend vor sich sehen. Da also gab es die Evidenz, die schon Bayle für die einzig mögliche gehalten hatte. Jacobi freilich hat sich darauf berufen, Lessing habe seine Meinungen ungern verhehlt: Wenn er eine Maske vorhielt, so war es nicht um sich unkenntlich zu machen, sondern bloß um sich damit zu schützen; und es ärgerte ihn eben so sehr, wenn man die Maske für sein Gesicht ansah, als wenn man glaubte, er wolle sie im Ernst dafür gehalten wissen.[6] Lessing wollte nicht für die Wahrheit leiden; weder wollte er für sie verlacht werden noch für sie sterben: Niemand sollte ihn auslachen; am wenigsten er sich selbst: und er hätte geglaubt, sich selbst auslachen zu müssen, wenn er sich auf irgend eine Art zum Märtyrer befördert hätte.[7]
109Das ist die eine Seite der Verlarvungen Lessings: die Szene mit Jacobi und dem »Prometheus« Goethes. Die andere Seite ist Lessings Rolle im Fragmentenstreit. Der Legationssekretär bei der dänischen Gesandtschaft in Dresden und Freund des Hauses Reimarus, August Hennings, berichtet am 27. Januar 1776 von einem Gespräch mit Lessing über die Möglichkeit des Drucks der »Schutzschrift« von Reimarus. Der Däne, der von sich bekennt, er habe sich Lessing in seinem Eifer für Wahrheit und Licht gleichstellen können, ist offenbar mit der Zurückhaltung und dem Finassieren bei der Veröffentlichung der Fragmente, von denen nur das erste Stück »Von der Duldung des Deisten« damals vorlag (die nächsten beiden Fragmente folgten 1777 und 1778), nicht zufrieden: Mögen Weltleute in feige Verzögerungen ihre Klugheit setzen, und im Zeitgewinnen, in Palliativen, im Biaisiren, Lanterniren, Hesitiren, oder wie die französischen Wendungen alle heißen, ihren Vortheil suchen, der Wahrheitsfreund sollte sich nie scheuen, mit seinen Ideen hervorzutreten, und nie mit ihnen in einer gleisnerischen Verhüllung im Hinterhalt liegen.[8] Hennings muß Lessing mit dem Ethos des Gelehrten und Weisen gegen alle ästhetische Abschirmung mächtig zugesetzt haben: Der Künstler mag wie der Schauspieler die Kleidung der Rolle anpassen, der Denker und der Weise muß nicht den Mantel der Thorheit anlegen.[9]
Der Sohn von Hermann Samuel Reimarus berichtet nach dem Tode von Lessing, er habe ihm das Sprichwort vorgeworfen, man solle nicht eher schmutziges Wasser ausgießen, bis man reines wieder hat. Lessing habe geantwortet: Ich muß doch wahrhaftig das schmutzige ausgießen, wenn ich reines im Gefäße haben will. Zwei Standpunkte der Aufklärung in zwei plausiblen Gleichnissen ausgesprochen, von denen die erste Version voraussetzt, daß es sich um zwei Gefäße handeln kann, während die zweite das Problem auf ein und dasselbe Gefäß bezieht. Das ist zehn Jahre nach dem Tode Lessings niedergeschrieben und resümiert bereits die seither eingetretenen Erfahrungen mit der Aufklärung.[10]