Allegorie entsteht, wenn der Verstand sich vorlügt, er habe Phantasie. Besser kann man es nicht sagen, als es Hebbel 1840 in sein Tagebuch notierte.[1] Dennoch müssen wir die Allegorie als Dokument historischer Bedürfnisse hinnehmen, als hätte der Verstand seine Wahrheit erkannt, als er sich Phantasie zuschrieb.
Metaphern sind für die Transformation in Allegorien nicht gleichermaßen anfällig. Die Metapher der nackten Wahrheit ist es in hohem Grade. Als Allegorie ist sie noch vertrauter denn als Metapher, die sie geschichtslos läßt und nicht reden lassen kann. Zugleich verliert sie an Rücksichtslosigkeit, da die allegorische Figur der Nacktheit ihrer ästhetischen Darstellung unmittelbar vorgreift. Die Allegorie der nackten Wahrheit hat keinen Bezug mehr zum Wahrheitsverzicht. Oder hat ihn nur, solange Bildlichkeit ausgeschlossen ist.
Walther Rathenau schreibt ein Jahr vor der Jahrhundertwende »Talmudische Geschichten«, darunter die »Vom Schriftgelehrten und von der Wahrheit«, die 1925 im vierten Band seiner Gesammelten Schriften veröffentlicht werden wird. Ein jüdischer Schriftgelehrter weint vor Betrübnis darüber, daß sein Geist das Gesetz nicht zu erfassen vermag, während er in der Schrift forscht. Da trat zur Tür herein ein Weib, das war nackt; und hob an und sprach: Erschrick nicht und schäme dich nicht meiner Nacktheit, denn da ich gekommen, will ich das Wort deuten. So deutet ihm die Wahrheit selbst das Schriftwort und verläßt ihn erst mit dem Ende der Nacht. Was sie dafür zum Lohn verlangt, ist nicht mehr und nicht weniger, als von ihm dem König vorgeführt zu werden. Er wendet ein, da ständen bereits die Torheit, die Heuchelei und die Lüge. Sein letzter Einwand ist: Und bist nackt und von schöner Gestalt und fürchtest dich nicht vor der Begierde der Höflinge?[2] Die Wahrheit scheint das zu beherzigen, denn als sie der Schriftgelehrte zum 113König führt, verwandelt sie sich unterwegs in ein häßliches altes Weib. Sie will nicht um ihrer Schönheit willen begehrt werden. In dieser Mißgestalt sagt sie dem König auf dessen Fragen unangenehme Wahrheiten wie die, daß sein Nachbar im Westen mächtiger sei als er, der im Osten weiser – der Häßlichkeit glaubt ohnehin niemand. Schließlich fragt sie der König, was man über ihn im Volk sage, sie antwortet, man sage, daß er ein Tor sei. Dabei wüßten sie es nicht einmal. Sie aber sage ihm, er sei arm und elend. Da läßt der König sie fesseln und kreuzigen, und die Höflinge höhnten sie um ihre Nacktheit.
Doch sie kann sich befreien und kehrt als Rächerin mit dem Schwert in der Hand und dem blutroten Schleier um das Haupt in die Residenz zurück. Die Wahrheit entfesselt die Revolution. Das Volk erschlägt den König. Da hat die Wahrheit ihr Werk getan. Und da sie am Raube und Brande sich sättigten, schritt das Weib hinaus aus den Toren der Stadt und war schöner denn je zuvor. Ihre Gefährlichkeit ist nun auch ins Unermeßliche gewachsen für den, dem sie sich zuerst gezeigt hatte. Sie trifft den Schriftgelehrten, und dieser macht ihr Vorwürfe, daß sie Aufruhr gesät habe. Nun solle sie ihn endlich ganz wissen lassen, wer sie sei. Da wächst sie gen Himmel, und ihr Leib glüht wie das Eisen im Ofen des Gießers und ihre Stimme wird wie der Donner, wenn sie sagt: Ich bin die Leuchte vor dem Throne Jehovas und das flammende Schwert in seiner Rechten und heiße die Wahrheit. Du aber stirbst, denn keiner, der geboren ist, soll mich erkennen und leben.[3] Da sinkt der Schriftgelehrte in sich zusammen und vergeht zu Asche und Staub. Niemand begräbt ihn, noch trauert einer um ihn. Sein Gedächtnis ist ausgelöscht und sein Name vergessen. So ergeht es dem, der die Wahrheit erfährt, wie sie ist, und ihr vorwirft, daß sie wirkt, wie sie anders nicht wirken kann. Die nackte Wahrheit hat nur Opfer. Ihre Ästhetik ist nicht die des Genusses.
Man fragt sich, seit wann diese Allegorie so hat geschrieben werden können, oder anders: wann sie so noch nicht möglich gewesen wäre.
Und man fragt sich zweifellos auch, ob der Autor dieser Legende im talmudischen Stil die Rhetorik des Wahrheitsverzichts so leichthin kreiert haben kann, wie es die Geschichte nahelegt: Es gibt kei114ne Gewinner, wenn es um die Wahrheit geht. Sie läßt alle verlieren. Wer forscht, macht halt, wo er der letzten Beihilfe bedürfte.
Es ist eine Geschichte, die ganz zu dieser Jahrhundertwende gehört, an deren Schwelle sie geschrieben ist, auch wenn sie im privaten Bestand verborgen geblieben war. Man liest sie als Warnung vor dem, was gleichzeitig geschieht und dieser Jahrhundertwende ihre Signatur gibt: etwa vor Freuds »Traumdeutung«, auch vor Simmels »Philosophie des Geldes«. Damals hätte das, wäre die Geschichte publiziert worden, keiner bemerken können. Insofern gibt es eine Weisheit der Nachlässe.