121XXI
Schopenhauer

Die Metapher der nackten Wahrheit kommt wie selbstverständlich in das Spannungsfeld von Schopenhauers schärfstem Antagonismus, dem von akademischer und wirklicher Philosophie. Die nackte Wahrheit ist dies wegen ihrer Lage in der Welt, wegen ihres hoffnungslosen Gegensatzes zur wohlgenährten und wohlgekleideten Philosophie der Lehrstühle und Universitäten.[1] Darin steckt immer wieder die Voraussetzung, die zur Wahrhaftigkeit nötige Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst wie gegen die Wahrheiten könne von denen gar nicht aufgebracht werden, die davon leben, sie zu verbreiten und gefällig zu machen. Die verfälschende Rhetorik des Sophisten steckt wieder einmal darin, daß er vom Gewerbe seiner Erkenntnis Einkünfte bezieht und lebt. Was einst die Verkleidung der Philosophie als Dienerin der Theologie gewesen war, die sie gar nicht im echten, sondern nur im vorgetäuschten Sinne sein konnte,[2] das ist die Philosophie als Dienerin des öffentlichen Wohlgefallens in Gestalt des deutschen Idealismus geworden. Andererseits ist aber gerade diese Philosophie es, die nichts anzuziehen und nichts auszuteilen hat, deren Blöße demjenigen, der nur genau genug hinzusehen weiß, durch die Fadenscheinigkeit ihrer Gewänder hindurchscheint.[3]

Die Falschheit des akademischen Lehrers der Philosophie im Gegensatz zu dem Philosophen, dessen letzter Zweck die Wahrheit ist, besteht darin, daß er mit der Miene des feierlichsten Ernstes, das gründlichste und tiefste Forschen nach Wahrheit vorgebend, doch nur der Landesreligion und den Zwecken der Regierenden dient. In dieser Notiz des »Cholerabuches« von 1832 hat Schopenhauer die Metapher am falschen Platz zurückgenommen; er hatte ursprünglich geschrieben, die Vortäuschung des Lehrers, dessen letzter Zweck eine Professur sei, liege im gründlichsten und tief122sten Forschen nach der nackten Wahrheit allein.[4] Das mochte ihm denn doch nicht die Rhetorik genügend zu verbergen, daß nicht nur durch die Miene des feierlichsten Ernstes die Hingabe an das Streben nach Wahrheit vorgetäuscht werden könnte, sondern sogar noch nach der Qualität dieser Wahrheit selbst, ihrem letzten Grade der Nacktheit nach.

Die Wahrheit wird nackt dargestellt, weil sie nichts auszutheilen hat, sondern nur ihrer selbst wegen angestrebt seyn will.[5] Wahrheitssucher dürfen schon deshalb keine Gewerbsleute sein, weil die Wahrheit gefährlich und ein unwillkommener Gast ist. Trotz ihrer Armut, die nichts verspricht, ist sie eine Göttin, und das soll heißen, daß sie sich selbst verspricht, sei alles, eben das Göttliche an ihr, das keiner Zugabe bedarf. Ihre Nacktheit ist enttäuschend für die, die eben eine Zugabe für sich erwarteten. Aber die erotische Konnotation steckt eben darin, daß sich der Anblick der Nacktheit unterscheidet für die, die dadurch vom Ausbleiben der Zugabe überzeugt und enttäuscht werden, und für die anderen, die gerade darin die Erfüllung ihrer Wünsche sehen, nur die Wahrheit, die nackte nichts als sich selbst verheißende Göttin zum Inbegriff ihrer Ziele zu machen.[6]

Seinen eigenen Weg und Wert, sein philosophisches Selbstbewußtsein hat Schopenhauer, verbunden mit der Klage über die Elendigkeit seiner Zeitgenossenschaft, in die Metapher gefaßt: Die Menschheit hat von mir etwas gelernt, was sie nie vergessen wird, und ich habe den Schleier der Wahrheit weiter gelüftet, als irgend ein Sterblicher vor mir.[7]

Wo aber hat er diesen Schleier angetroffen, um ihn lüften zu können? In der Richtung der cartesischen Reflexion auf das Subjekt, doch nicht auf dieses als denkende Substanz, sondern als den Willen. In diesem und an diesem erfaßt sich das Subjekt als Zeitlosigkeit, überschreitet es die Grenze hinter der es dieses Selbst und doch mehr als dieses eine Selbst der Individualität ist: Was jederzeit ist, und jederzeit war und jederzeit seyn wird, bin ich. Und ich allein kann meinen Schleier heben.[8] Der Wille ist das sich schlechthin 123verbergende Prinzip. Kein anderer als der, der sich selbst als diesen entdeckt, die letzte Identität des Subjekts mit jenem Ich-will, hat das nackte Subjekt vor sich gehabt,[9] und nur dieses kann zu seinem äußersten Gegenpol, der Materie, die imaginäre Ansprache richten: Dich wie mich hat nackt und isoliert noch kein Auge gesehn[10] Der Wille allein ist das Ding an sich, alle Erscheinungen sind die Summe der Listen, hinter denen er sich verbirgt: So tingirt und maskirt der Wille Alles.[11]

Wenn man das anders gesagt haben will: Nicht erst das theoretische Subjekt ist mangels des Begriffs für seinen absoluten Grund im Willen auf die absolute Metapher für dieses Letzte angewiesen, sondern es ist das Wesen dieses Letzten selbst, sich nur in der absoluten Metapher der Welt darzustellen. Die Metapher wird nicht erfunden, sie wird vorgefunden, und die Welt ist nichts anderes als das Arsenal der Metaphern des Willens und für den Willen. Die letzte Wahrheit geht nicht nackt; nur im Abgrund des Subjekts, im Konvergenzpunkt seiner Reflexionen, lüftet es den Schleier, um hier sprachlos zu bleiben wie in aller Mystik. Der Mensch ist das Organ der Verborgenheit des Willens. Deshalb ist er in der ganzen Natur am wenigsten nackt, und die Nacktheit steigert sich im Abstieg vom Menschen zum Tier und vom Tier zur Pflanze.[12] Man folgt nur dem Willen des Willens, indem man ihn verbirgt. Daher muß man ihn verbergen, wie seine Genitalien; obgleich beide die Wurzel unseres Wesens sind. Sehen lassen darf man bloß die Erkenntnis, so wie man am Leib das Antlitz sehen läßt.[13] So kommt es zu dem Gewicht, das Schopenhauer der Allegorie beilegt.

Sie beruht auf dem tief im System wurzelnden Grundsatz: Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht erscheinen.[14] Das ist nicht nur eine Verlegenheit des zeitweisen Mangels an Aufklärung, der Verweigerung gegen Philosophie. Verborgenheit ist das Weltprinzip, und das läßt Schopenhauer milder denken von den Arten der Verborgenheit der Wahrheit in Glaubenslehren, bei all ihrem Gegensatz zur Überzeugungslehre. Als Allegorie können bestimmte 124Inhalte der Religionen toleriert, sogar deren logische Absurdität als wesentliche Zutat zu ihrer Vollkommenheit hingenommen werden. Schopenhauer nimmt das religiöse Paradox selbst als Allegorie für den wesentlichen Sachverhalt, daß etwas vertreten werden muß, was nicht dargestellt werden kann und auch in keinem anderen System angemessen darstellbar ist: das Ding an sich als der Wille. So kann Tertullian zum Liebling Schopenhauers werden, indem dessen einziger Satz vom absurden Grund des Glaubens dessen Wesen ausspricht und damit bezeichnet, daß die Rede vom Ding an sich einer ganz anderen Ordnung als der der Erscheinungen angehört. Daher kann es kommen, daß im praktischen Endergebnis eine Glaubenslehre genau dahin führt, wohin auch eine Überzeugungslehre führen würde. Der Satz, daß die Wahrheit nackt vor dem Volke nicht erscheinen kann, erfährt also eine erhebliche Präzisierung durch die höhere Einsicht, daß sie nackt überhaupt nicht erscheinen kann und es daher ganz gleichgültig wird, in welcher Nicht-Nacktheit, also Allegorie sie tatsächlich erscheint. Es gibt nur Verkleidungen, wie es nur Erscheinungen gibt, ausgenommen die Selbsterfahrung des Willens, die aber auch nicht als Erfahrung anders als allegorisch dargestellt werden kann. Dieser Kaiser, im Gegensatz zu dem des Märchens von Andersen, behauptet von sich und muß es behaupten, nackt zu sein, damit nicht die Zufälligkeit seiner Uniform den Anstoß der Kontingenz erregt, der aller Legitimität von Herrschaft gefährlich wird. Dennoch ist es für den Philosophen der Anstoß, den die Religion gibt, daß sie ihre allegorische Natur verleugnet, während er selbst die aller Erscheinungen zugestehen muß. Nur für den Philosophen ist die Allegorie ein Schleier, der sich für ihn mit seiner Durchsichtigkeit auszeichnet.[15] Das Verfahren gleicht dem, welches angewendet werden müßte, um in einer Druckerei den Text nicht auf dem Abzug, sondern von den Lettern selbst abzulesen.

Die Metapher der Nacktheit ist Ausdruck für die Angemessenheit an die Idealität, für die Unmittelbarkeit der Anschauung.[16] Anschauung bedeutet, die letzte Grundlage aller Begriffe und Sätze nackt vor sich zu haben.[17] Die Allegorie ermutigt den enttäuschten 125Verkünder der Wahrheit, daß die Zeit doch noch den Schleier der nackten Wahrheit heben wird.[18] In dieser bildhaften Vorstellung verbindet sich die alte Metapher von der veritas filia temporis mit der der nackten Wahrheit. Worauf das Vertrauen beruht, wenn doch der Schleier ohnehin die Grundform des Weltzustandes ist,[19] läßt sich nur verstehen, wenn dem Philosophen eben etwas mehr zugetraut wird als allegorische Rede: die Anweisung des Subjekts zum unmittelbaren Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Abgrund im Willen.

Andererseits spricht Schopenhauer von der Albernheit gemahlter Allegorie.[20] Sie beruht darauf, daß die Allegorie der Selbstauslegung unfähig ist; wie die Fabel der Moral bedarf, so die Allegorie der Auslegung, deren aber das Gemälde konstitutiv entbehrt. Schopenhauer schildert ein Gemälde von Lucca Giordano im Palazzo Riccardi in Florenz, das als Deckengemälde für einen Bibliotheksaal dient. Auf ihm ist dargestellt, wie die Wissenschaft den Verstand aus den Fesseln der Unwissenheit befreit. Die Wissenschaft thront als weibliche Gestalt auf einer Kugel und hat dazu noch eine Kugel in der Hand. Neben ihr befindet sich die Figur der Wahrheit als nackte. Was würde so ein Bild sagen, ohne die Auslegung seiner Hieroglyphen? Niemand könnte wissen, daß der Mann, der gerade dabei ist, seine Fesseln zu sprengen, der menschliche Verstand sein soll. Niemand könnte ahnen, daß die weibliche Gestalt mit der Kugel in der Hand und auf einer Kugel sitzend, nicht die Weltenkönigin Madonna ist, sondern die neuzeitliche Wissenschaft sein soll. Nur wenn man schon weiß, worauf es hinausläuft, kann man darauf kommen, in der Nacktheit der anderen weiblichen Figur die Allegorie der Wahrheit zu finden, weil zu dieser, im Gegensatz zu den beiden anderen Figuren, das metaphorische Element hinführt, sie sei dann am vollkommensten, wenn sie ohne Hüllen angeschaut werde. Aber auch die Metaphorik ist hier erst sekundär erfaßbar, wenn schon das Gesamtkonzept der Allegorie zur Verfügung steht, das der Figur der Wissenschaft so wenig abgelesen werden kann wie der des Verstandes. Als ästhetische Qualität vermag Schopenhauer die Nacktheit nicht zu sehen,[21] und es ist daher für ihn nur von 126der Sprache her verständlich, daß die Wahrheit als weiblicher Akt auftritt. Die Sprachen der europäischen Tradition haben damit für die Wahrheit einen erotisch-ästhetischen Zug gesichert, der für den Misogyn nicht selbstverständlich und daher in seiner sprachlichen Vorgabe rein kontingent ist. Dennoch hat es der Vorzug der weiblichen Nacktheit in Verbindung mit dem weiblichen Geschlecht des Ausdrucks für Wahrheit in unserer Tradition ungeheuer erschwert, an die nackte Wahrheit als eine erschreckende und unerträgliche Größe zu denken. Um dies zu erreichen, mußte das mythisch-religiöse Moment hinzugenommen werden, von dieser weiblichen Gestalt als einer Göttin zu sprechen.