147XXIII
Die Aufklärung

Nacktheit ist keine Konstante, als Metapher für die Wahrheit erst recht nicht. Es geht dabei nicht einmal um die bloße Proportion von Verhüllung und Entblößung, sondern durchaus um die Qualität der Mittel, mit denen sie betrieben werden. Wie durchsichtig muß, wie undurchsichtig darf die Wahrheit eingekleidet sein, um sowohl durch- als auch anzukommen?

Die Fabel nach Art des Äsop – wohl die längste und kontinuierlichste Tradition aller literarischen Gattungen in unserer Geschichte – erscheint den einen als Inbegriff listiger Verkleidung der Wahrheit, erschließbar erst durch angehängte Epimythia, den anderen als frühester Ausdruck einer erbarmungslos nüchternen Mitteilung nackter Wahrheiten. Neuerdings hat man geglaubt, es käme auf das Publikum an, dem solche Dinge dargeboten werden; erdacht von einem phrygischen Sklaven, wäre eben die zumeist aus Tiergestalt kommende Wahrheit zugänglich nur und gerade für die Genossen dieser Klasse. Zulässig ist allenfalls noch die Vermutung, schon damals hätte es hier und da die Spezies des intellektuellen Verbündeten der Unterdrückten gegeben, der auch verstanden habe, was unter dem Geschmack der hohen Herren und ihres Epos hindurchgelaufen sei. Eine der ewigen Anwendungen des Prinzips, Gleiches werde nur von Gleichem aufgefaßt und angeeignet – immer auch die Verkennung der rätselhaften ästhetischen Lust derer, die angeblich gemeint sein sollen, an der gegen sie gerichteten List. Solche Theoreme befriedigen nur die, die nichts anderes erwartet hatten, nicht einmal anderes erwarten durften.

Die Herrschaft der Fabel über die Gemüter hat verwickelte innere wie harmlose äußere Gründe. Zu den harmlosen äußeren gehört, daß die Kürze der Texte und die Einfachheit der Spruchlagen ideale Vorgaben für Übungen in der Übersetzung wie in der Versifizierung anbieten. Es gibt einen heimlichen Wettbewerb der Formen und Stoffe, so früh wie möglich an die noch unbesetzte menschliche memoria heranzukommen; wer zuerst da ist, placiert sich zuerst.

Eine eher romantische Vermutung über die Affinität des Ge148müts zur Fabel ist das Zurückreichen ihrer Tradition bis in die Urzeiten der Menschheit – womöglich bis in jenes Paradies, in dem die Tiere nicht nur ihre Namen bekommen hatten, sondern auch sprachen. Durch den todesbereiten Sokrates gehört Äsop in die Geschichte der Philosophie, zweifellos; aber auch dadurch, daß unter seinem Namen vielleicht älteste Menschheitsweisheit erhalten und überliefert worden wäre? Läßt die Ähnlichkeit der moralistischen Tiergeschichte bei fast allen uns literarisch bekannten Völkern auf einen archaischen Fundus schließen, der von der Disjunktion Verhüllung oder Nacktheit gerade deshalb noch so weit entfernt gewesen wäre, weil diese eine Sache kultureller Spätzeit geworden ist?

Cette ancienne sagesse est simple et nue dans le premier auteur.[46] Voltaires Satz in dem Stückchen seines »Philosophe ignorant«, das er dem Äsop einräumt, geht auf den ursprünglichen Zustand der Wahrheit, nicht auf den, der ihr durch die Aufklärung erst gegeben werden muß. Sowenig Voltaire die Geschichte der Menschheit als eine des Niedergangs von anfänglicher Höhenlage aufzufassen vermochte, so selbstverständlich ist ihm doch, daß es eine Verbindung von vor- oder außerkultureller Ursprünglichkeit und Unbefangenheit für die Wahrheit gibt. Der Aufklärungsbedarf ist zwar nicht allein, doch auch durch die Geschichte entstanden; sonst könnte es den ratlosen Blick des edlen Wilden auf die Skurrilitäten der europäischen Zivilisation nicht geben. Die äsopische Fabel enthält keine Allegorese der Physik Newtons, aber die ewige und doch so leicht vergessene Lehre der Gerechtigkeit. Sie ist einfach und doch rhetorisch: c’est la vérité elle-même avec le charme de la fable.[47]

Es ist erstaunlich, daß der Begründer der Geschichtsphilosophie des Fortschritts mit dem Gedanken einer ursprünglichen Freundlichkeit der Wahrheit für den Menschen so umzugehen vermag, auch wenn es ihm unvermeidbar erschien, die ihm sonst mehr als suspekte Pascal-Metapher des ›Abgrunds‹ eigens einzuführen, um auf jene Zeitenferne zu verweisen, aus der die Tierfabel kommt: … que l’origine s’en perd dans une antiquité dont on ne peut sonder l’abyme.[48] Ein Abgrund ist, bei Pascal wie bei Voltaire trotz ihres Antagonismus, was alles erklärt und nicht erklärt zu werden braucht. Das alte Chaos, aus dem die Ureltern der Götter empor149stiegen, war ein klaffender Abgrund. Alles danach ist begreiflich, dieses nicht. Aus dieser Unbestimmtheit kommt die Fabel her, und sie bedarf der Hüllen nicht, um ihre Sache zu sagen. Es ist ein spätes und pedantisches Mißverständnis, daß die Fabel noch nicht sage, was zu sagen sei, und es ihr als Moral nachgeschoben werden müsse. Daher wollen die Moralen so selten ›passen‹. Die Tradition der Fabel ist bestimmt durch die Unterstellung, sie verhülle ihre Wahrheit – gerade weil sie in unfaßbarer Weise ›nackt‹ war, suggerierte man mit dem Epimythion, sie sei es nicht.

Aber sie ist eben auch von Natur moralisch. Wie steht es mit den Wahrheiten der Aufklärung, die zumindest im Verdacht stehen, der Moral den Boden zu entziehen? Da geht es wieder darum, wieviel Hülle man der Wahrheit lassen muß, soll nicht alles an menschlicher Ordnung zusammenstürzen, da doch diese Ordnung, wie man wiederum bei Pascal hatte lernen können, auf dem Schein und nicht auf der Wahrheit beruht. Darf der Aufklärer alles sagen, was er zu sagen hat? Dieses Problem ließ sich aufs deutlichste erörtern am Grenzfall: an der moralischen Zuverlässigkeit des Atheisten. Voltaire war der Ansicht, der Atheismus sei für die Moral fast so gefährlich wie der Fanatismus. Der Adressat seiner »Lettre sur Spinosa« sei von diesen beiden Extremen, so fingiert Voltaire, gleichermaßen entfernt, und deshalb könne man ihm all das sagen, was er zu sagen habe und schon gesagt habe – etwa so, als hätte Voltaire seinen Brief an einen ungenannten Fürsten etwa mit den Worten geschlossen: Ich hätte Ihnen das alles, wenn ich es recht überlege, nicht sagen dürfen, aber man kann doch auf Ihre Diskretion vertrauen? Seinen Adressaten in der gleichen Entfernung von Fanatismus und Atheismus – also doch wohl in der Mitte zwischen beiden? – zu sehen, habe ihn zur Entblößung der Wahrheit ermutigt: c’est ce qui autorise la liberté que j’ai prise de mettre la vérité sous vos yeux sans aucun deguisement.[49] Es gibt keine generelle Aufklärung, keine öffentliche Vorführung der nackten Wahrheit; der Aufklärer muß sich der Fähigkeit seines Konfidenten versichern, eine Prozedur zu ertragen, aus der die Bedenklichkeit seiner eigenen Stellung hervorgehen könnte. Nichts könnte rhetorischer sein als dieser Kunstgriff, die Erwägung über die Rezeptionsfähig150keit des Adressaten einer Folge von Briefen über die Verächter des Christentums von Rabelais bis Spinoza an deren Schluß zu stellen – nachdem alles gesagt war, die Frage aufzuwerfen, ob es hätte gesagt werden dürfen, und sie nun positiv zu bescheiden. Die Umständlichkeit der Konfidenz macht das Angebot der Aufklärung unwiderstehlich: Sein Adressat ist justiert als genau derjenige, der die Höchstdosis verkraften konnte, die Wahrheit ganz enthüllt zugeführt zu bekommen. Da der Korrespondenztypus fiktiv ist, sieht sich jeder Leser in der Rolle des Verschworenen. Ich führe dies an, um zu zeigen, daß die Technik der Vernunft eine andere Sache ist als ihr Begriff.

Mitte zwischen Atheismus und Fanatismus? Doch nicht ganz, wenn man weiter auf Voltaires Werk sieht. Zwar seien, läßt er den Helden von »Jennis Geschichte« sagen, dies die beiden Pole eines Weltalls voller Wirrnis und Schrecken, und die schmale Zone der Tugend liege zwischen den Polen von Atheismus und Fanatismus; aber man könne, wie er immer beobachtet habe, den Atheisten kurieren, den Fanatiker nicht. Denn der Atheist sei ein Ungeheuer, das alles verschlingt, um seinen Hunger zu stillen, der Fanatiker aber ein Ungetüm, das die Menschen aus Pflichtgefühl zerreißt. Es gibt also doch keine Symmetrie, auf deren Achse man sich zu halten hätte. Der Grund dafür ist, daß der Atheist ein Merkmal mit dem Aufklärer teilt: das des Selbstdenkens, während der Fanatiker von fremden Gedanken beherrscht wird, deren Vollstreckung ihm zur Pflicht geworden ist: l’athée est un homme d’esprit qui ce trompe, mais qui pense par lui-même; le superstitieux est un sot brutal qui n’a jamais eu que les idées des autres.[50] Diese Asymmetrie scheint schon zu den Wahrheiten zu gehören, die nicht allerwärts entblößt werden können.

Die Natur liebe es, sich zu verbergen, soll der dunkle Heraklit gesagt haben. Es wird eine lange Geschichte sein bis zu der umfassenderen und schrecklichen These nach dem Ende der Philosophie, das Sein selbst gehe aus freien Stücken in die Verborgenheit. Etwas von diesem Problem hatte die Aufklärung, denn sie mußte zu sagen versuchen, wie es so lange an ihr gefehlt haben konnte. In der »Voyage de la Raison« läßt Voltaire die Vernunft zu ihrer Tochter, der Wahrheit, sagen, ihre Herrschaft könne nach 151einer so langen Gefangenschaft nun wohl beginnen. Es müsse da einige Propheten geben, die sie in ihrer Verborgenheit besucht hätten und daraufhin mit Wort und Werk sehr erfolgreich gewesen seien. Es komme alles spät, und der Weg habe durch Abgründe der Unkenntnis und der Lüge geführt. Darin teile man, was der Natur zugestoßen sei, die während unzähliger Jahrhunderte durch einen scheußlichen Schleier bedeckt und entstellt gewesen sei, bis schließlich Galilei, Kopernikus und Newton gekommen seien, qui l’ont montrée presque nue, et qui en ont rendu les hommes amoureux.[51] Wer die Natur verschleiert und entstellt hatte, bleibt offen, weder sie selbst noch andere scheinen daran beteiligt. Entscheidend ist aber die leichte Erotisierung des Vorgangs: Der Schleier hatte die Natur entstellt und häßlich gemacht; ihre fast unverhüllte Darstellung hatte nicht nur ein falsches Bild berichtigt, sondern auch die Menschen zu Liebhabern der Natur gemacht. Die Vernunft, die in Figur ihre so lange in der Tiefe eines Brunnens verstoßene Tochter endlich zurückkehren sieht in ihr Lichtschloß (palais de lumière), liest am Schicksal der Natur das der Wahrheit ab, das mit einer Verzögerung jenem zu folgen scheint: Vous voyez que tout vient tard … II nous arrivera ce qui est arrivé à la nature …[52]

Voltaire kennt den Fanatismus auch als erbitterte Gegnerschaft von philosophischen Schulen, zumal der Cartesianer gegen den Newtonianismus, also auch dort, wo empirische Entscheidungen möglich zu sein schienen. Sein Zuständigkeitsgebiet ist aber vor allem das Reich des Unentscheidbaren, wo Kants letzte Auflösung durch die transzendentale Dialektik noch nicht in Sicht ist. Als 1751 der erste Band der »Enzyklopädie« erschien, hatte der Abbé Yvon den Artikel über die Seele dazu geliefert; aber Diderot hatte seinen gefürchteten Zuschuß, immer durch einen Asteriskus gezeichnet, daran gehängt. Voltaire nahm 1770 in den »Questions sur l’Encyclopédie« auch zu diesem Artikel Stellung. Es verstehe sich, daß dieser wie alle auf die Metaphysik bezügliche Artikel sich zunächst den unbezweifelbaren Dogmen der Kirche zu unterwerfen habe: La révélation vaut mieux, sans doute, que toute la philosophie.[53] 152Neigte man dazu, dies beim Wort zu nehmen, so müßte man die Ironie des folgenden Satzes übersehen, in dem der Name der Aufklärung gerade auf der Seite dessen erscheint, wozu sich nur die Haltung der Unterwerfung empfehlen ließ, während die Systeme der Philosophie in der niederen Funktion des bloßen intellektuellen Trainings erscheinen: Les systèmes exercent l’esprit, mais la foi l’éclaire et le guide.[54] Aber dieser Gegensatz beherrscht gar nicht den Text, sondern der zwischen der Unfruchtbarkeit theoretischer Verhandlungen über derartige Gegenstände und der Unbedenklichkeit der praktischen Ausübung und Einübung ihrer Fähigkeiten. So wird gesagt, daß in einigen Werkstätten die Handwerker ihren Maschinen die Eigenschaften des Seelischen (la qualification d’âme) zu geben vermöchten, ohne daß man sie jemals über dieses Wort disputieren hörte, wie es bei den Philosophen üblich sei.[55] Wir kennten den Geist so wenig, daß wir ihn als Substanz bezeichneten, und das bedeute ›etwas darunter‹. Solches Dahinter und Darunter aber falle ins Geheimnis der Schöpfung, das uns für immer entzogen bleibe: mais ce dessous nous sera éternellement caché.[56] Darin sei der Geist nicht rätselhafter als die Materie, also die Erkenntnis der Natur nicht weniger betroffen als die Metaphysik. Diese Gleichsetzung von Materie und Geist, Physik und Metaphysik, schlägt nach beiden Seiten derart aus, daß sie von Zudringlichkeiten der Erklärungsbedürfnisse geschützt bleiben. Habe man tüchtig über den Geist und über die Materie disputiert, verstehe man sich schließlich selbst nicht mehr; und da sei eben die Natur ganz anders, die wirke statt zu streiten: Aucun philosophe n’a pu lever par ses propres forces ce voile que la nature a étendu sur tous les premiers principes des choses; ils disputent, et la nature agit.[57] Was Kant ein Jahrzehnt später zugunsten der reinen praktischen Vernunft feststellen sollte, daß es nämlich für sie keine Unsicherheit ihrer Prinzipien geben könne und dürfe, während die Aussperrung der theoretischen Vernunft von der Einsicht in das, was hinter den Erscheinungen liegt, unter Kriterien der zureichenden Versorgung des Lebewesens Mensch mit Einsicht in die Bedingungen seiner Existenz durchaus hingenommen werden könne, spricht Voltaire mit dem Blick auf 153die »Enzyklopädie« als Gnädigkeit der Natur selbst aus, sich derart in ihren letzten Gründen vor dem Menschen zu verhüllen, daß die Philosophen aus eigenen Kräften nicht weiter kämen, um zugleich mit ihrer Verhüllung gegen den theoretischen Anspruch dem Menschen das Vorbild ihrer ständig präsenten Wirksamkeit zu geben. Es ist die ewige Wiederkehr der einen Grundformel, die Voltaire am Ende des »Candide« mit dem Entschluß zur Gartenpflege des Helden proklamieren läßt und der Kant die nicht weniger bildkräftige Prägung geben wird: Wenn Diogenes anstatt sein Faß zu wältzen den Acker gebauet hätte so wäre er groß gewesen.[58]

Auch Voltaire hat eine Variante der letzthin so beliebten soziologischen Funktionsdeutung der Fabel geliefert, und zwar nicht im eigens so benannten Artikel über die Fabel seines »Dictionnaire Philosophique«, sondern in den »Questions sur l’Encyclopédie«. Hier nimmt er den Ursprung der Fabel in Asien an, weil ihre Voraussetzung die Erfindsamkeit unterjochter Völker sei. Freie Menschen hätten nämlich niemals die Besorgnis gehabt, die Wahrheit zu verhüllen (des hommes libres n’auraient pas eu toujours besoin de déguiser la vérité); gegenüber einem Tyrannen aber kann man nur in Parabeln sprechen, und sogar diese Umständlichkeit ist noch gefährlich.[59] Voltaire scheint zu schwanken, ob er einer ursprünglichen Vorliebe der Menschen für die Geschichten vor aller Geschichte, für Bilder und Gleichnisse, die größere Wichtigkeit bei der Urzeugung der Fabel geben soll oder der ›Sklavensprache‹ unter der Tyrannis. Jedenfalls ist der Zusammenhang von Einbildungskraft und Freiheit die Dienstbarkeit noch des Unnützesten für das Überleben des Wesentlichen, in diesen Andeutungen eindrucksvoll hergestellt. Die Wahrheit überlebt durch Verkleidung, und ununterscheidbar mit ihr die äußerlich verlorene Freiheit. Diese Koppelung ist so selbstverständlich, daß die Frage nicht einmal gestellt zu werden braucht, was die Bildwelt der Unfreiheit am Tage der Befreiung noch zu bedeuten haben kann: Vor wem muß sich die Wahrheit fortan verkleiden? Etwa vor denen selbst, die frei geworden waren, aber nun dennoch oder erst recht nicht den unverhüllten Anblick dessen ertragen konnten, was sie zuvor nur den Tyrannen zu verbergen hatten?