Wie Reimarus konnte auch Lichtenberg der große Aufklärer nicht sein, weil die Masse des Materials seiner Gedanken erst für eine späte Nachwelt erschlossen wurde, für die es mehr auf den intellektuellen Witz als auf die Erhellung fortbestehender Finsternisse ankam. Lichtenberg schrieb seine Hefte voll mit Notizen, die er nur zu einem kleinen Teil für Beiträge zu seinem Göttingischen Almanach verwertete, der allzu grelle Aufklärungen nicht austragen konnte, wohl auch nicht sollte, denn Lichtenberg traute der Vernunft zumeist nur in ihrer wissenschaftlichen Verfassung und damit für Adressaten, die zu lernen gelernt hatten, was nur wenigen zugänglich war. Nicht einmal an sich selbst machte Lichtenberg die Erfahrung, daß eine gehörige Zufuhr von Wahrheiten über die Welt genüge, um einen Geist von Zuflüsterungen abwegiger Annahmen endgültig zu befreien; für einige Finsternis war am Rande der größten Helligkeit offenbar immer noch Raum genug. Lichtenberg setzte auf die Erkenntnisse, deren sich schnell mehrende Fülle ihm als dem Herausgeber des meistbenutzten Lehrbuchs der Physik zufloß, kein letztes Vertrauen, obwohl er Ersatz weder anbot noch duldete.
Im Rahmen eines so gedämpften Wahrheitsoptimismus muß auch gesehen werden, wenn Lichtenberg keine eindeutige Erwartung auf die Entkleidung der Wahrheit von ihren schönen poetischen und rhetorischen Gewändern setzte. Er war sich nicht sicher, ob die Wahrheit ansehnlich und erfreulich genug sein würde, jener Verhüllungen nicht zu bedürfen. Dazu kam sein sicheres Empfinden für die Abhängigkeit jeder Vermittlung der Wahrheit von der Sprache. Sie war es, die allein Gewöhnung an die bloßen Inhalte unserer Kenntnis von der Welt zu verhindern vermochte. Es kam schließlich nicht auf die bloße Neuheit von Aussagen an, wenn es schon längst gegeben hatte, was sie mitzuteilen hatten; aber es gab das Vergessen und, noch schonungsloser, die Gewöhnung ans Allzuwahre. Das Alter war eine Gefahr für die Wahrheit. Sie bedurfte, um zu wirken, nicht nur der Bedeutungsfülle, sondern der Auffrischung ihrer verblaßten und verwischten Farben [und] Profile. 164Was als klassisches Mittel der Einkleidung sonst allzu nüchterner Inhalte gilt, die Metapher, ist für Lichtenberg nicht eine erste Stufe der Künstlichkeit gegenüber der bloßen Natur dessen, was schlicht und einfach gesagt werden könnte; im Gegenteil, die Metapher gilt ihm als eine Art einer natürlichen Sprache, die man sich aus den willkürlichen aber bestimmten Wörtern baut.[1] Erstaunlicher noch als diese These, ist der Satz, den ihr Lichtenberg abschließend hinzufügt: Deswegen gefällt sie so sehr.[2] Denn gerade die Künstlichkeit des Schmucks der Rede sollte doch ihre Gefälligkeit für ein Publikum herstellen und damit die Eingängigkeit der Wahrheit – im sophistischen Falle auch der Lüge – sichern. Nicht zufällig schreibt Lichtenberg auf dem Höhepunkt des deutschen Sturm und Drang diese Verbindung eines Kunstmittels mit der Natürlichkeit nieder und scheint nicht zu zweifeln, daß gerade die Metapher die Wendung gekünstelter Schulsprachen wie rokokomäßiger Geziertheiten zur Natur mehr als begünstige, nämlich selbst darstelle. Lichtenbergs Paradox ist: Nacktheit ist nicht die Natürlichkeit der Wahrheit.
Das widerspricht allen Empfehlungen der Philosophen, metaphorischen Ausdruck gefälligst zu meiden, wie sich versteht, um der Präzision willen. Aber gerade die den großen und erhabenen Programmen dienstbaren Wörter erfahren eine Alterung, die ihnen jede Kraft nimmt. Das Wort ›vernünftig‹ habe fast sein ganzes Gepräge verloren, man wisse die Bedeutung noch, aber man fühle sie nicht mehr; dazu habe es schon zu viele Vernünftige – oder zumindest diesen Titel Führende – gegeben: Ein vernünftiges Kind ist ein schlaffer frommer Taugenichts von einem Anbringer, ein unvernünftiger Junge ist viel besser. Das so exemplifizierte Schicksal der Wörter erfordert eine Gegenwirkung, soll nicht Resignation die Programme mit ihren Absichten zunichte machen. Dazu muß der Begriff gleichsam in das Bett seines Ursprungs zurückgelegt, aus dem imaginativen Feld seiner Vorstellungen neu gestärkt hervorgebracht werden: Schimpft nicht auf unsere Metaphern, es ist der einzige Weg, wenn starke Züge in einer Sprache zu verbleichen anfangen, sie wieder aufzufrischen und dem Ganzen Leben und Wärme zu geben.[3] Man könnte es pathologisch ausdrücken: Die Wahrheit erträgt nicht, nackt zu gehen, weil sie dabei allzu rasch erkaltet und ihre Wirkung abnutzt.
165Wo kommt die Metapher her und wie verhält sie sich zu dem Gedanken, dem sie zur Ansehnlichkeit aufhelfen soll? Schon im zweiten Heft seiner »Sudelbücher« aus den Jahren 1768/71 hat Lichtenberg das Bruchstück eines Dialogs zu dieser Frage aufgeschrieben. Es beginnt: Lieber Freund, du kleidest deine Gedanken so sonderbar, daß sie nicht mehr aussehen wie Gedanken. Darauf die Erwiderung mit dem Angebot des äußersten Gegenzuges: Sage mir ob dieser nicht seltsam gekleidet ist und du sollst alle die meinigen nackend sehen ehe sie noch meine Sinnen mit ihrer Livree bedecken.[4] Jeder übernehme mit der Sprache ein gebrauchtes Werkzeug, und zwischen Gebrauch, Verbrauch und Mißbrauch sind offenkundig die Grenzen fließend. Gerade für diesen Gedanken selbst greift Lichtenberg nach der Drastik der seltsamen Einkleidung, die er angekündigt hat; die meisten unserer Wörter seien solche mißbrauchte Werkzeuge, die oft noch nach dem Schmutz riechen, in dem sie die vorigen Besitzer entweihten. Dagegen gibt es nur ein Mittel, den Entschluß: Ich will mit neuen arbeiten …[5] Dazu eben ist nötig, die Gedanken noch vor ihrer Einkleidung, die als das Verhältnis von Sinnlichkeit zur Geistigkeit gesehen wird, vorzuführen. Es mag sein, daß dieser Dialog nur ein Selbstgespräch ist, denn im letzten Satz des Fragments wird – vielleicht als Beschreibung der Funktion der Sudelbücher – der Entschluß zur Erneuerung mit der Alternative versehen, nur mit sich selbst in alle Ewigkeit sprechen zu wollen.[6] Dann wäre die Form, in der der Gedanke noch bei sich selbst ist, dem Verschleiß der Sprache noch nicht unterzogen, die fragmentarische Momentaufnahme des Notizbuches. Dann hätte Lichtenberg sich selbst mit der Anrede des Fragments gemeint und ermahnt. Dann bliebe die Metapher von der Nacktheit der Gedanken durch die Intimität des inneren Dialogs aufgehoben. Die tagebuchartige Notiz hebt etwas von der vorsprachlichen Fassung des Gedankens auf, von den Mitteln, die der auf Perfektion zielende Autor vor seinem Publikum verbirgt, indem er nicht die Metapher mitteilt, aus der sein Gedanke hervorgegangen ist, sondern die, in die er eingegangen ist und mit der er eingehen soll.
Damit wäre die frühe Notiz von derselben Ablehnung einer rhe166torisch-didaktischen, aufklärerischen Nacktheit, die Lichtenberg in seiner Ablehnung der Physiognomik praktiziert, die den ›Vorhang‹ vor der Seele der Mitmenschen wegziehen will.[7] Es ist ganz konsequent, auch den Gedanken nur in der eigenen Optik als einen nackten zuzulassen. Für sich selbst muß man sich damit abfinden, sich entblößt zu sein – den Triumph der Selbsterkenntnis, den sich die Erkenntnistheorie mit ihrem unerschütterlichen Fundament verschafft zu haben glaubte, gibt es für den Moralisten nicht, denn er weiß, was es zu ertragen gilt, wenn es solche Erkenntnis geben sollte.
In diesen Zusammenhang gehört der Plan einer Selbstdarstellung, wie er in den Notizbüchern sich findet. Er habe schon lange an einer Geschichte meines Geistes so wohl als elenden Körpers[8] geschrieben, und das solle mit einer größeren Aufrichtigkeit geschehen, als vielleicht irgendeiner seiner Leser glauben werde. Mit anderen Worten: Es gibt kein Kriterium für Aufrichtigkeit, das der Leser gebrauchen könnte, während nur der Autor wissen kann, wie groß sie ist. Was aber kann dann, wenn die Entblößung der Wahrheit nicht das Stigma der Wahrheit sein kann, Zweck und Absicht einer solchen Selbstdarstellung werden? Lichtenbergs schlichte Beschreibung der Wirkung, auf die es ihm ankäme, ist, jene Aufrichtigkeit werde vielleicht manchem eine Art von Mitscham erwecken.[9] Man wird sagen dürfen, dieser Gedanke sei zuvor noch nicht gedacht worden, und dies gerade deshalb, weil die Autoren der rückhaltlosen Selbstdarstellung immer davon überzeugt waren, die Evidenz ihrer Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst werde für die Wahrheit sprechen. Daß demjenigen, der sich selbst darstellt, gerade am meisten die Voraussetzung dafür fehlen könnte, ist ein erst allmählich durch Nietzsche und Freud den Ausgang des folgenden Jahrhunderts beherrschender Gedanke. Worauf es Lichtenberg ankommt, ist nicht der Zweifel an dem Entsetzen, das er über sich selbst empfindet, sondern die Skepsis hinsichtlich der Übertragbarkeit auf den Leser. Denn dieser vollzieht ja etwas, was der Physiognomik nicht unähnlich ist, die bei Lichtenberg selbst immer wieder durchbricht, obwohl er im Vollbesitz ihrer theoretischen Verachtung ist. Glaubt er an die von ihm erfundene ›Mitscham‹ der anderen, wenn sie ihn lesen werden?
167Die Schöpfung des Wortes schon ist etwas, was in seine eigene Sprachtheorie fällt: im Grunde eine Metapher, eine Übertragung der im Begriff der Sympathie steckenden Möglichkeiten auf diejenige Spezialität des emotionalen Lebens, von der am ehesten und meisten gesagt werden müßte, daß sie Einfühlung und Mitvollzug ausschließt. Mag es Mitleid geben, Mitscham wäre der unerreichbare Grenzwert, den eben nur dieses neue und neuartige Stück Literatur anstreben dürfte, von dessen Aufrichtigkeit Lichtenberg eine seiner Innenwelt entnommene Vorstellung hat. Jedenfalls läßt diese Prägung aufhorchen, wie überspannt ihr Anspruch auch immer sein mag, und um solche Auslösung von Aufmerksamkeit geht [es] vor allem, wenn der Abnutzung der Sprache entgegengewirkt werden soll. Lichtenberg hat da eine einschlägige Theorie der Sprachgeschichte und damit der Einzigartigkeit und Exemplarität der frühesten Literatur der Griechen und Römer: Sie konnten sich alles leisten, weil in ihrer Sprache noch alles ungesagt war: Die Alten schrieben zu einer Zeit, da die große Kunst schlecht zu schreiben noch nicht erfunden war, und bloß schreiben hieß gut schreiben. Sie schrieben wahr, wie die Kinder wahr reden.[10] Gegen den verbrauchten Sprachbestand anzugehen und noch wieder die eigene Haushaltung der Natur anzufangen, erfordert sicherlich mehr Kraft als in den ersten Zeiten der Welt, natürlich zu schreiben, jetzt da natürlich schreiben, möcht ich sagen, fast unnatürlich ist. Wie bei der Metapher kommt es zum Paradox der bewußten Natürlichkeit: Unsere heutigen guten Schriftsteller müssen alle die fatale Kunst lernen: zu wissen, daß sie gut schreiben.[11]
Das Problem der Physiognomik hat zwei gegenläufige Aspekte: das der Zulässigkeit eines fremden Willens, sich über die symptomatischen Merkmale eines Gesichts Zugang zu den verborgenen Eigenschaften eines Menschen zu verschaffen; dann die Problematik jedes dieser Prozedur gegebenenfalls Ausgesetzten, den Zugang zu verweigern und sich bei Kenntnis des Katalogs signifikanter Merkmale verzweifelt deren Abwesenheit zuzulegen. Lichtenberg wird, was das erste Problem angeht, gegen die Zudringlichkeit der Physiognomik alle polemischen Mittel aufbieten; hinsichtlich des Rechts aber, sich anders zu geben als man ist, alle Abweisungen fremder Zudringlichkeit ins Innere zu praktizieren, nennt [er] es 168die entsetzliche Abneigung des Menschen, sich zu zeigen, wie er ist, und sich darin jeder Genossenschaft mit den physischen Körpern zu entziehen, die wechselseitig für einander das sind, was sie sein können. Der Mensch ist es nicht: Er scheint mehr das zu sein, was er nicht sein sollte. Die Kunst sich zu verbergen, oder der Widerwille, sich geistlich oder moralisch nackend sehen zu lassen, geht bis zum Erstaunen weit.[12] Lichtenberg hat in der entblößenden Selbstbeschreibung nicht ein Mittel der Selbstanalyse und der Selbstbefreiung gesehen, sondern sich auf das uralte Theologumenon berufen, daß Gott in die Herzen blickt und kraft dieser Nacktheit vor ihrem Richter die Menschen gleich seien, ihre Einstellung zueinander auf dieser Gleichheit allein beruhen kann und beruhen muß. Aufhören würde die Differenz zwischen der Äußerlichkeit des Gehabes und der Innerlichkeit einer Realität, die allein für sich selbst zu kennen dem einzelnen nicht die Möglichkeit gibt, an seine Gleichheit mit den anderen zu glauben, die sich ihm in ihrer ritualisierten Ehrbarkeit darstellen. Wegen dieser Enttäuschung, die jeder mit sich selbst auszutragen hat, gebricht es am Willen zur Selbsterkenntnis: Wir kennen uns nur selbst, oder vielmehr, wir könnten uns kennen, wenn wir wollten; allein die andern kennen wir nur aus der Analogie, wie die Mondbürger.[13] Die Selbstbeschreibung als literarische Erscheinung einer neuen Aufrichtigkeit, von der Lichtenberg durch Rousseau als Kennzeichen der eigenen Zeit überzeugt zu sein scheint, weckt das Erstaunen davor, daß andere auch nicht anders sind: So lange wir nicht unser Leben so beschreiben, alle Schwachheiten aufzeichnen, von denen des Ehrgeizes bis zum gemeinsten Laster, so werden wir nie einander lieben lernen. Hiervon hoffe ich eine gänzliche Gleichheit. Je härter es wider den Strich geht, desto getreuer muß man gegen sich selbst sein. Dieses scheint unsern Zeiten aufbehalten zu sein.[14] Für den Philosophen gehe es um ein Opfer seines weltlichen Kredits für die Philosophie, und vor Gott sei damit doch nichts schlimmer zu machen. Lichtenberg hält es nicht für wahrscheinlich oder bedrohlich, daß es mit der Kenntnis, die ein jeder von sich selbst hat, nicht besser bestellt sein könnte als mit der, die er von anderen hat. Und wenn ihm da ein Verdacht kommt, genügt ihm immer der Gedanke, man befinde sich noch in 169der ›Kindheit der Welt‹, und alles sei noch möglich und alles noch zu tun. Auch und sogar in der Physiognomik, deren Erkenntnisprinzip Lichtenberg insgeheim billigt, obwohl er sich über ihren Hauptvertreter so unerbittlich lustig macht – wohl eben gerade deshalb, weil er ihren Zustand für ein Stück Kindheit der Welt hält. Ihre große Chance liegt nicht nur im Prinzip der Gleichheit, sondern in dem der gleichen Qualität. In einer Notiz zur Verteidigung der Vorteile, die uns unsere Unwissenheit gewährt, steht der Satz: Ich glaube die vollkommenste Physiognomik wird endlich dahin führen, wo uns jetzt schon analogische Schlüsse hinführen: es ist alles gut. Schwerlich würde es aber menschliche Physiognomik so bald dahin bringen …[15] Dennoch gilt gerade hier, wo nur die Selbsterkenntnis in Selbstdarstellung übergehen und dem Prinzip der Gleichheit aufhelfen kann, ebenso der Schutz des anderen vor der Art von Einblick, über die jeder nur für sich selbst verfügt und die er nur aus seiner Freiheit preisgeben kann: Den Vorhang, der über der Seele unserer Neben-Menschen hängt, muß man so gut wie den der unser Schicksal betrifft nicht aufzuziehen trachten. Auch werden die Bemühungen alle vergeblich sein.[16] Das wird es also nicht sein können, da beide Sätze in derselben Notiz stehen, was am Ende einer Fortbildung der Physiognomik stehen würde. Der Vorzug unserer Unwissenheit ist zugleich der Schutz, der uns gegenüber anderen gewährt ist und den wir allein, sofern Philosophen, als Opfer an die Philosophie aufreißen können – doch wohl nur eine Empfehlung an den Philosophen, der in der Nähe des Todes für sein Leben davon keine Nachteile mehr zu befürchten braucht?
Nicht zufällig vergleicht Lichtenberg die Lage des entschlossenen Menschenkenners, zugespitzt in der des Physiognomikers, mit der nur imaginären Situation, in die wir gegenüber den Bewohnern des Mondes kämen, gleichgültig ob diese uns oder wir sie besuchten. Wir könnten gar nicht anders, als sie nach Analogie der Kenntnis einzuschätzen und zu behandeln, die wir einzig von uns selbst besitzen. Eine Physiognomik könnte nur dann Erfolg haben, wenn sich bei diesen Weltfremden eine empirische Zuordnung zwischen Ausdruck und Verhalten allmählich herstellen ließe, was beim Menschen doch vor allem deshalb scheitert, weil jeder, der eine solche Zuordnung kennt, sie selbst als Mittel zu be170herrschen lernt, um denjenigen Eindruck zu bewirken, den er als Ausdruck für ein bestimmtes absehbares Verhalten schon kennt. Diese Verfügbarmachung des Ausdrucks als Mittel zum Eindruck macht die Aussichten der Physiognomik gerade in dem Maße zunichte, wie sie sich einem Erfolg nähern würde – und das wird Lichtenberg gemeint haben, wenn er seine Überzeugung auf die kurze Formel bringt, die Physiognomik werde in ihrem eigenen Fette ersticken.[17] Es ist also nicht das schlichte Versagen einer Kunstfertigkeit der Deutung von Ausdruck, die beim Eindringen in die Hintergründe des anderen gleichsam steckenbliebe; vielmehr ist es die archaische Fähigkeit des zum Bewußtsein seiner selbst vordringenden menschwerdenden Lebewesens, jede seiner Wirkungen in Ausdruck und Gestus auf das Verhalten anderer seinesgleichen umsetzen zu können in Mittel, dieselben Wirkungen zu erzielen, ohne daß die inneren Äquivalente des Ausdrucks und damit das jenen konkludente Verhalten vorhanden wären oder zustande kämen. Mit dieser Trennbarkeit von Einstellung und Ausdruck, von Intimität und Anschaubarkeit ist der Mensch potentiell ein hinterhältiges, sich vorenthaltendes und ständig den Vorbehalt des anderen aufzulösen gewilltes Wesen. Darauf beruht die Vergeblichkeit der Physiognomik, die Lichtenberg mit den Spekulationen eines seiner frühesten Genossen in Sachen der Aufklärung über die Befahrbarkeit des Weltraumes gleichsetzt: Die Hoffnung, die man sich von Physiognomik macht, hat sehr viel mit den Träumen Fontenelles gemein, der von dem Fliegen in der Luft auf das Fliegen nach dem Monde fällt. Die Damen glaubten ihm auch.[18] Physiognomik wäre, am Ziel ihrer Vollendung angelangt, eine Art von Wissen, das sich im Maße ebendieser Vollendung selbst zerstören müßte, weil es eo ipso als Fremderkenntnis zur Technik der Selbstdarstellung würde. Nichts könnte es vor diesem Schicksal bewahren.
Dies ist nun eine Zwangsläufigkeit, deren Ähnlichkeit mit dem Schicksal sprachlicher ›Natürlichkeit‹ als alter oder erneuerter Bilderfrische nicht zu übersehen ist. Für die Geschichte der Naturwissenschaft hat Lichtenberg sowohl die Unentbehrlichkeit der Metapher für die Begriffsbildung als auch ihre Bedenklichkeit und Gefährlichkeit gesehen, angesichts dieser Ambivalenz die Schärfe des Urteils ihrer berühmten Kritiker vermieden. In dem von 171J.Chr.F. Erxleben 1772 begründeten und nach seinem Tod 1777 mit der dritten Auflage übernommenen und allmählich durchdrungenen Lehrbuch »Anfangsgründe der Naturlehre« hat Lichtenberg eine seiner mit der vierten Auflage beginnenden Anmerkungen und Zusätze dem Sprachproblem der Physik zugewendet. Die Bildung des anschaulichen Ausdrucks der ›Attraktion‹ war ein Glücksgriff, doch zugleich die Versuchung, darin eine Erkärung zu finden und das ›offenbare Geständnis einer gänzlichen Unwissenheit‹ zu vermeiden. Es sei gut, den unbekannten Ursachen Namen zu geben, dürfe aber nicht vergessen lassen, daß es nur Namen und keine Erklärungen sind: So wie Bildersprache Aberglauben erzeugt, so erzeugen Metaphern in der Physik bey dem unbehutsamen Denker oft ähnliche Irrthümer, die der Philosophie so schädlich seyn können, als jene der Religion. Was würde nicht mancher daraus gefolgert haben, wenn Newton diese Erscheinung Sehnsucht genannt hätte! Das Wort darf nicht zum Argument werden und braucht es nicht zu werden, denn es ist kaum möglich noch einen Augenblick zu streiten, sobald man das nackte, unläugbare Phänomen ansieht, ohne sich die unphilosophische Mühe zu geben, Folgerungen aus der bloßen Benennung zu ziehen.[19] Freilich ist es mit der Kritik am Wort noch nicht getan, da nur zu leicht uns oft unvermerkt über das alte Bildwerk ein neues gebreitet wird. Haller habe zwar gesagt, unser Auge stoße sich am Kleid der Dinge, doch hat man sich zu hüten, wie Lichtenberg hinzufügt, über dieses Kleid noch andere zu ziehen, an denen sich die Einbildungskraft stößt noch ehe das Auge bis zu jenem undurchschaubaren eindringt.[20] Vorschriften würden freilich wenig helfen, da sie sich auch gegen das durchzusetzen hätten, was sich den Sinnen darstellt, wie im Falle der Attraktion die Näherung der Körper durch Kräfte unmittelbar anschaulich darzubieten scheint, wie sie sich einander ziehen, sich nach einander sehnen, gegen einander gestoßen werden, gegen einander zu fallen (man nehme welchen Ausdruck man will) …[21] So heißt auch die begrifflich erscheinende Rede, die Körper hätten eine ›anziehende Kraft‹, nichts anderes als: man bricht ebenfalls die Untersuchung ab, im Glauben, man habe das Phäno172men erfaßt, und in Vermeidung des ›offenherzigen Geständnisses der Unwissenheit‹. Entscheidend ist die Beobachtung, daß Kritik an der einen Einkleidung des Phänomens noch nicht die Gewähr dafür gibt, nicht eine andere Einkleidung an deren Stelle zu setzen, weil es offenkundig die größten Schwierigkeiten bereitet, das Phänomen nackt vorzuweisen und dennoch darüber zu sprechen.
Lichtenberg gehört zu den Urahnen der philosophischen Sprachkritik. Wittgenstein hat ihn gelesen und hat vor allem den berühmtesten Text aus dem Sudelbuch der Jahre 1784-1788 in Varianten nachgesprochen: Unsere falsche Philosophie ist der ganzen Sprache einverleibt; wir können so zu sagen nicht raisonnieren, ohne falsch zu raisonnieren … Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs, also, die Berichtigung einer Philosophie, und zwar der allgemeinsten.[22] Darin steckt aber schon das Problem, in welcher Sprache denn die Berichtigung des Sprachgebrauchs vorgenommen werden kann, und bei diesem Problem gibt es kein Ausweichen vor dem Sachverhalt, den schon Lichtenberg festgestellt hat: Es wird also immer von uns wahre Philosophie mit der Sprache der falschen gelehrt.[23] Doch da sitzt auch zugleich die Vereinfachung gegenüber Einsichten, die Lichtenberg im Zusammenhang mit dem anderen Sprachproblem, dem der Auffrischung einer durch Geschichte und Gewohnheit abgebrauchten Sprache, sich gestellt hat. Dabei kann getrost zugestanden werden, daß das erfrischende Element der Sprache noch etwas falscher ist als alles, zu dessen Erfrischung es dient. Die Metaphorik, derart gegen die geschichtliche Selektion des Brauchbaren und Fungiblen eingesetzt, enthält alle Gefahren der Verleitung und Mißweisung zum Fehlverstand dessen, was nicht dazu bestimmt sein kann, beim Wort genommen zu werden.
Dieses Paradox löst sich erst auf, wenn man bemerkt, daß die Berichtigung des Sprachgebrauchs als Inbegriff der Philosophie es zu schwer hat, sich an der gewöhnlichen Falschheit der Alltags- und Schulsprachen zu betätigen, weil diese in ihrer Verschliffenheit der Aufmerksamkeit keine ausreichenden Konturen anbieten. Man kann sagen, daß die Einführung von Metaphern in die abgelebte Sprachwelt so etwas ist wie das Präparat in aller morphologischen Erkenntnis: Überdeutlichkeit. Die vorbegriffliche Metapher der ›Anziehungskraft‹, für das Verhältnis der Sonne zu ihren Planeten 173gebraucht, ist zunächst einmal eine Übertreibung für ein Verhältnis unterschiedlicher Massen gegeneinander, bei dem die weit überwiegende Zentralmasse als alleiniger Träger der Anziehungskraft für das System erscheint, während doch tatsächlich die Anziehungskräfte der kleinen Körper gegenüber der Zentralmasse wie untereinander nicht weniger vorhanden sind, aber für die Konstitution des Systems eine vernachlässigungsfähige Größe darstellen. Daß dies systematische Konzept in der Natur nicht allein herrschend ist, wurde erst durch Entdeckung der Doppelsternsysteme sinnenfällig. Für die Kritik der metaphorisch ansetzenden Begriffsbildung war es unerläßlich, darauf zu bestehen, daß nicht nur die Erde den fallenden Apfel anzieht, sondern auch der fallende Apfel die Erde, mag niemals einer imstande sein, dies empirisch zu beweisen: die Größenordnung des Verhältnisses wird angebbar. Aber die neue Metapher der Anziehungskraft machte eine gänzlich überlebte und durch Systemdogmatik entselbstete Metapher hinfällig, die der Rede von den natürlichen Örtern und dem freien Fall als hervorgehend aus der Hinneigung eines Körpers zu jenem natürlichen Ort als seiner Heimat, seiner Zugehörigkeit zu einem Ganzen, dessen irgendwann einmal abgelöster Teil er sein muß. Die neue Metapher ersetzt nicht einfach eine alte und macht sie ›richtiger‹, sondern sie indiziert vor allem und zunächst an dieser Stelle den Metapherngebrauch als solchen und offenkundig noch unentbehrlichen, fortan aber als solchen im Bewußtsein gezeichneten.
Die unverkennbare Antinomie zwischen der geschichtlichen Auffrischungsbedürftigkeit der Sprache durch Einschüsse metaphorischer Erfrischungen einerseits und der unvermeidlichen Irreführung durch jede Art imaginativer Belebungen andererseits kommt bei Lichtenberg der Auflösung näher, wenn man die Formel von der ›Berichtigung‹ der Sprache nicht als Empfehlung zur Herstellung einer fortan unanfechtbaren Orthosprache auffaßt. Die Sprache zu berichtigen heißt nicht, sie zu ersetzen. Hinter der These von der falschen Philosophie der Sprache verbirgt sich noch einmal der genius malignus des Descartes; und noch einmal der Vernunftglaube, es sei noch mit einer Macht der universalen Irreführung fertig zu werden – und gerade dies das Wesen der Vernunft. Der Unterschied ist, daß gegen den Trug der Sprache Beweise nichts mehr helfen (abgesehen davon, daß sie schon gegen den genius malignus nichts geholfen hatten, obwohl helfen sollten). Lichtenberg 174empfiehlt auch nicht, eine andere Sprache zu sprechen. Für ihn ist das zugleich überraschende und eindrucksvolle Resultat der kopernikanischen Reform, daß ihr vollständiger Sieg bis in das Alltagswissen der Leute hinein nichts an dem Fortbestand der vorkopernikanisch verfahrenden Sprache zu ändern vermochte. Der Grund ist klar: Die Wahrnehmung wird niemals kopernikanisch. Dasselbe gilt nun für die Erkenntnistheorie. Nichts ist leichter einzusehen, als daß die Rede von der Erkenntnis äußerer Gegenstände einen Widerspruch enthält und es dem Menschen unmöglich ist, aus sich herauszugehen. Hier ist die Sprache nicht nur, wie es bei der Wirkungslosigkeit des Kopernikanismus scheinen könnte, durch Trägheit beharrlich; sie ist es durch die Macht der Natur selbst, die die Menschen daran hindern muß, sich als innerlich einzuverleiben, was doch seiner Verfügung entzogen ist, und dadurch eine bedrohliche Illusion für sein Handeln entstehen zu lassen. Unsere Sprache dürfe in diesem Stücke nicht philosophisch sein, so wenig als sie in Rücksicht auf das Weltgebäude kopernikanisch sein darf.[24] Das ist die eine Seite, die der Lebensdienlichkeit eines Irrtums, der durch seine sprachliche Impertinenz nicht sinnlos herrscht, sondern eine Art höchster Bewährungsprobe hinter sich zu haben manifestiert. Die andere Seite ist, daß des Menschen höherer Geist gerade daraus hervorleuchtet, daß er sogar den Betrug ausfindig zu machen weiß, den ihm gleichsam die Natur spielen wollte[25] – und mußte, hätte Lichtenberg hinzufügen dürfen. Es sei eben kein Betrug mehr, sobald ich es weiß. Daraus folgt die Lizenz, in der Klammer einer Art früher phänomenologischer Reduktion so weiter zu sprechen wie bisher: Die Philosophie ist, wenn sie spricht, immer genötigt, die Sprache der Unphilosophie zu reden.[26] Wenn aber dies, dann deren ›frischeste‹ Sprache, die eine Art Ironie gegen sich selbst insofern enthält, als sie durch die Innovationen ihrer Metaphorik erkennen läßt, daß keines ihrer Bilder sie zur Endgültigkeit eines bestimmten Irrtums zu verdammen vermag. Hierauf konvergieren die beiden Linien der Sprachkritik, die an der Alterung und die an der Verführung. Die Sprache ist ein Kleid, unter dem es keine Nacktheit gibt. Da wußte Lichtenberg schon zu viel von der Verzweiflung im Begriff des ›Ding an sich‹.
175Jetzt ist ins Auge zu fassen, daß die schon behandelte Notiz von der Einkleidung der Gedanken, daß sie nicht mehr wie solche aussehen, und dem Versprechen,[27] dem fiktiven Dialogpartner solche nackend zu zeigen, gerade zwei Jahrzehnte älter ist und die Problematik der Sprache erst im rhetorischen Ornatus sieht, noch nicht aber in der Wesentlichkeit der niemals adäquaten Sprache für den Gedanken, in ihrem wesentlichen Betrug[28] und der natürlichen Funktion desselben für die Selbsterhaltung. Die Nacktheit verschwindet im Maße, wie die Sprache nichts übrig läßt, was sich außerhalb ihrer Gewandungen zeigen könnte. Die Gedanken sind niemals nackt, also auch ursprünglich nicht nackt; sie werden nicht erst durch die Sprache bekleidet, sondern allenfalls sprachlich umgekleidet – und alles kommt darauf an, diesen Moment zu erfassen, nicht um die Lücke zu erspähen, die den Voyeur ins Bild setzt, sondern um die Kontingenz der sprachlichen Investitur zur Erfahrung zu machen, die immer nur auf der Frische der jeweils eingeführten Mittel beruhen kann. Das Gegenangebot an jenen fiktiven Dialogpartner, die eigenen Gedanken vor ihrer Einkleidung zu zeigen, erweist sich im nachhinein als unsolides Versprechen. Und sollte Lichtenberg in seinen Kant so weit vorgedrungen sein, daß er auch die innere Erfahrung als Erscheinung durch Selbstaffektion schon akzeptiert hatte, mußte er inzwischen auch resigniert eingestanden haben, daß selbst das ewige Gespräch mit sich selbst keine Ausnahme von der Unzugänglichkeit der nackten Wahrheit zuläßt. Dieses Theorem der kantischen Philosophie verdient größere Beachtung als ihm durch die allzu schlichte Unterstellung zugebilligt worden ist, es diene einer bloßen systematischen Ausgleichung und Konsistenz.
Die andere Gruppe der Notizen, die sich mit der erfreulichen Auffrischung der Gedanken durch Metaphern beschäftigen, liegen zeitlich genau in der Mitte zwischen dem frühen inneren Monolog mit dem Versprechen der zu zeigenden Nacktheit und dem späten sprachkritischen Stück Vor-Wittgenstein mit seiner Konsequenz der Unmöglichkeit der Anschauung des nackten Gedankens. In dieser mittleren Gruppe der Texte, die vom Verschleiß der Wörter ausgeht, vom bloßen Wissen der Bedeutungen ohne lebendiges 176Gefühl für sie,[29] wird die Einführung neuer Metaphern statt alter Wörter zum Programm, um die fest eingeschliffenen, dem Begriff der Assoziation vorgreifenden Verbindungen aufzuheben und neue Gedanken durch neue Verbindungen zumindest möglich zu machen. Lichtenberg hat dafür eine Metapher, der man ansieht, daß sie aus seinen frühen elektrischen Versuchen gewonnen ist und auf die Neigung elektrischer Ladungen hinblickt, sich zur Entladung jeweils ihre Wege neu zu suchen: Wenn man ein altes Wort gebraucht, so geht es oft in dem Kanal nach dem Verstand den das ABC-Buch gegraben hat, eine Metapher macht sich einen neuen, und schlägt oft grad durch.[30]
Schließlich ist noch an Lichtenbergs Einsichten beachtlich, daß er die Metapher zum Paradestück dessen heraushebt, was wir inzwischen einen ›hermeneutischen‹ Gegenstand zu nennen uns geneigt haben. Die Metapher ist der Inbegriff eines sprachlichen Mittels, das einen Überschuß über die Intention seines Autors enthalten kann und diesen Überschuß denen anbietet, die nicht zufrieden wären mit der Beantwortung der historischen Frage, was die Intention des Autors denn gewesen sei – [und] statt dessen lieber fragen wollen, was die Intention hätte sein können oder müssen und was sie gewesen wäre, wäre sie nicht durch faktische historische Umstände auf die Bedingtheit ihres Ursprungs festgenagelt gewesen. Dazu genügt Lichtenberg, im Gegensatz zu seinen späten hermeneutischen Nachfolgern, ein einziger Satz: Die Metapher ist weit klüger als ihr Verfasser und so sind es viele Dinge.[31] Die Stärke der Metapher ist ihre Vieldeutigkeit. Dies zu sagen, ist identisch mit der anderen These, die Metapher sei wesentlich ästhetisch. Auch das ist wiederum nur ein anderer Ausdruck dafür, daß sie nicht so etwas wie die bloße Umhüllung des nackten Gedankens ist, an den man als an das letztlich und eigentlich zu erreichende Ziel ihrer Interpretation und Aufschließung ständig zu denken hätte. Wer ständig über sie hinausdenkt, verliert, was er hat, ohne zu bekommen, was er nicht haben kann.