Einleitung

Trauma und Folgen – ein aktuelles Thema •

An wen richtet sich dieses Buch? • Meine Prägungen

• Was erwartet Sie in diesem Buch?

„Warum scheint bei mir ‚normale Seelsorge‘ nicht zu funktionieren? Warum verändert sich so wenig, obwohl ich es wirklich möchte? Warum geht bei mir nicht, was bei anderen so einfach wirkt?“ Diese verzweifelten Fragen wurden mir schon häufig von traumatisierten Christen gestellt. Die Betroffenen haben, wie schon so oft in ihrem Leben, das Gefühl zu versagen, nicht normal oder sogar ein hoffnungsloser Fall zu sein. Aber das stimmt nicht: Für Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle! Gerade für gläubige traumatisierte Menschen ist die Chance auf Besserung ihrer Probleme oder sogar auf Heilung sehr groß, wenn sie die richtige Hilfe bekommen.

Franz Ruppert, Psychotherapeut und Dozent an der katholischen Stiftungsfachhochschule München, beschreibt, wie tiefgreifend das Wissen über Trauma und seelische Spaltungen seine Wahrnehmung veränderte:

Seit ich es bei mir und vielen anderen Menschen entdecke, dass seelische Spaltungen etwas sehr Häufiges sind, verändert sich mein Menschen- und Weltbild von Grund auf. Es wird klarer und viele Rätsel, warum wir Menschen uns so oder so verhalten, werden lösbarer.1

Auch Ihnen werden viele Probleme der von Ihnen begleiteten Menschen verständlicher werden. Bestimmte Reaktionsweisen können ganz anders eingeordnet und im Rahmen der Traumabegleitung unter völlig neuen Aspekten gewertet werden.

Während traditionelle Ansätze im Symptom selbst das Problem sehen, macht die Traumatheorie einen radikalen Perspektivenwechsel möglich: Das Symptom ist ein notwendiger Schutzmechanismus zur Bewältigung einer traumatischen Erfahrung. Daher kann man Symptome nicht einfach wegtherapieren. Man muss ihre eigentliche Funktion verstehen … Erst wenn daher die wahren Ursachen gefunden und (therapeutisch) bearbeitet werden, kann auch das Symptom zu Ruhe kommen oder sich in eine andere seelische Struktur verwandeln.2

Trauma und Folgen – ein aktuelles Thema

In den letzten Jahren wurden im Bereich Trauma viele neue Erkenntnisse gewonnen, Forschungsergebnisse der Neurobiologie und der Bindungstheorie lieferten wertvolle Beiträge. Das aktuelle Wissen über Trauma, Hintergründe und Folgen sowie therapeutische Möglichkeiten nimmt immer mehr Einzug in die Fachliteratur und findet Beachtung und Anwendung in der Praxis. Trotz dieser positiven Entwicklung besteht in manchen Bereichen weiterhin ein großes Informationsdefizit, gerade auch im christlichen Umfeld. Dabei suchen Menschen, die so schwer verletzt worden sind, oft gerade hier Hilfe und Unterstützung. So ist es für Seelsorger, Berater oder Gemeindeverantwortliche besonders wichtig, verständliche Informationen und Hilfen für die Wegbegleitung Betroffener zu erhalten.

Die Einbeziehung des christlichen Glaubens bei der Trauma-Aufarbeitung spielt in der allgemeinen Traumatherapie bisher kaum eine Rolle und wird häufig sogar eher negativ bewertet. Für viele Christen ist es daher schwierig, sich einer säkularen Psychotherapie anzuvertrauen. Oft haben sie grundsätzliche Vorbehalte gegen die Erkenntnisse der Psychologie und Psychotherapie, Ängste vor dem, was dort mit ihnen geschehen könnte, oder vor Einflüssen aus anderen Glaubensrichtungen. Leider nehmen aus diesen Gründen manche betroffene Christen wertvolle Hilfe nicht in Anspruch und bleiben so in ihrer Not gefangen.

Eine Brücke schlagen

So verfolge ich mit diesem Buch zwei Ziele: Zum einen will ich informieren, eine Wissensgrundlage schaffen, sodass Wegbegleiter das Thema Trauma, Folgen und mögliche Hilfsangebote verstehen und einordnen können. Zum anderen will ich den Ansatz einer christlichen Wegbegleitung beschreiben. Mein Anliegen ist, Wegbegleiter zu ermutigen, Gottes Hilfe und die Kraft des Glaubens in den Wiederherstellungsweg miteinzubeziehen, wenn die Betroffenen dies wünschen.

Mir ist wichtig, mit diesem Buch eine Brücke zu schlagen: Als Ärztin und christliche Therapeutin habe ich im Bereich der Psychotherapie viel Gutes, Hilfreiches und Wertvolles gelernt. Von diesem fachlichen Hintergrund fließen wesentliche Bestandteile in den vorgestellten Ansatz einer christlichen Traumabegleitung ein. Als Christin bin ich geprägt von meinen eigenen Glaubenserfahrungen, meiner persönlichen Beziehung zu Gott. Entstanden ist ein integratives Konzept, in dem theoretische und praktische Anregungen aus verschiedenen traumatherapeutischen Richtungen ebenso wie seelsorgerliche Aspekte und persönliche Glaubenserfahrungen Raum und Anwendung finden.

Dabei erhebe ich nicht den Anspruch eine Wegbegleitung vorzustellen, die alle Betroffenen gleichermaßen anspricht – auch wenn sie für alle offen ist. Sie soll Möglichkeit, Angebot, Chance und Bereicherung sein. Vor allem sollen die Betroffenen das Recht und die Freiheit haben, ihren Aufarbeitungsweg so zu gestalten, wie es für sie gut und hilfreich ist.

Der verstorbene Psychotherapieforscher Klaus Grawe untersuchte, welche Faktoren in der Psychotherapie nachweisbar wirksam sind. Unter anderem betonte er, wie bedeutend es sei, dass der Therapeut sein Angebot ganz auf die Möglichkeiten, Eigenarten und innersten Motivationen des Klienten abstimmt. Viele Christen wünschen sich sehr, ihren Aufarbeitungsweg auf der Basis und mit Hilfe ihres Glaubens gestalten zu können, in ihrer tiefen Verletztheit Gottes Heilungskraft zu erleben. Sie sehnen sich nach einem Ort, wo ihre Fragen und ihre Suche nach Hilfe durch Gott Verständnis finden, ernst genommen werden und Raum bekommen. Sie wollen als ganzer Mensch gesehen und nicht nur auf ihr Problembild ohne ihre Lebensinhalte und Werte reduziert werden.

Querdenken erwünscht

Der vorgestellte Ansatz fordert heraus, alte, eingetretene Pfade zu verlassen und Neues zu wagen, Anregungen und Ideen zu überprüfen, aufzugreifen oder zu verwerfen. Es gibt viele Wege einer Trauma-Aufarbeitung. Der in diesem Buch beschriebene christliche Wiederherstellungsweg ist einer davon – einer, den ich bereits mit vielen Betroffenen gegangen bin. Aufgrund der zahlreichen positiven Erfahrungen, dem Erleben, wie in und durch Gottes Wirken tiefgreifende Heilung stattfinden kann, und der Hoffnung, die sich daraus für betroffene Christen ergibt, habe ich mich entschlossen, diesen Weg zu beschreiben.

An wen richtet sich das Buch?

Traumatisierte benötigen auf dem herausfordernden, oft langen und beschwerlichen Wiederherstellungsweg Menschen, die mit ihnen gehen. In ihrem Alltag sind dies Angehörige, Freunde und Mitchristen, der Hauskreis, die Gemeinde, Pfarrer oder Pastor. Im Aufarbeitungsprozess stehen Seelsorger, Berater und Therapeuten an ihrer Seite. Jeder Wegbegleiter ist wichtig und wertvoll! Alle diese Leser werde ich im Folgenden als „Wegbegleiter“ ansprechen, sie will ich ermutigen und auf den Weg der Wiederherstellung mitnehmen.

Wie können Wegbegleiter, die verschiedenste Hintergründe, unterschiedlichen Wissens- und Ausbildungsstand haben und verschiedenste wichtige Aufgaben im Verlauf des Weges ausfüllen, dieses Buch nutzen? Die Wegbegleitung aus dem Trauma erfordert Hintergrundwissen und Erfahrung. Informationen sind wichtig, um Denk- und Verhaltensweisen der Betroffenen einordnen und verstehen zu können, um Sicherheit im Umgang zu gewinnen und die Etappen des Wiederherstellungsweges nachvollziehen zu können. Die Begleitung mancher Wegabschnitte ist denen vorbehalten, die eine fundierte Ausbildung durchlaufen haben, manches gehört in die Hände einer fachkundigen therapeutischen Begleitung.

Immer müssen Wegbegleiter im Blick behalten, dass traumatisierte Menschen sehr verletzt sind und somit besonders leicht erneut verletzt werden können. Wir alle sind herausgefordert, uns für sie einzusetzen, dabei aber äußerst verantwortungsvoll und sorgfältig zu handeln. Dazu gehört es, die eigenen Grenzen und Begrenzungen wahrzunehmen und zu achten. Es liegt somit in der Verantwortung des Lesers, je nach Schwerpunkt seiner Wegbegleitung, nach Ausbildung und beruflicher Qualifikation dieses Buch auf seine Weise anzuwenden. So werden einige Wegbegleiter bestimmte Kapitel als wertvolle Hintergrundinformation lesen, während andere sie als direkte Anregung nehmen, um weitere Schritte mit den Betroffenen zu gehen. Alle will ich ermutigen, sich auf die Begleitung einzulassen, mitzugehen, offen und lernbereit zu sein. Wenn jeder in der Verantwortung vor Gott seinen Platz einnimmt und die eigenen Möglichkeiten einbringt, können alle miteinander zum Segen für die betroffenen Menschen werden.

Es gibt also nicht entweder Seelsorge oder Beratung oder Psychotherapie, sondern es gibt ein breites Spektrum von Hilfen für unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Problemen und Fragestellungen – und das ist gut!3

Meine Prägungen

Meine Arbeit und auch dieses Buch sind geprägt von den Menschen, denen ich auf meinem Werdegang begegnet bin oder die mich begleitet haben. Meine Ausbildung zur christlichen Therapeutin bei der Ignis-Akademie für christliche Psychologie und die langjährige bereichernde Mitarbeit bei der überkonfessionellen Familienarbeit Team.F bilden die Grundlage meines seelsorgerlichen und christlich-therapeutischen Ansatzes. Die wiederholte Zusammenarbeit mit der Seelsorgerin Sandra Skinner-Young, einer ehemaligen Mitarbeiterin des Seelsorgedienstes Elijah-House in den USA, hat mich auf die Spur gebracht. Sandra Skinner-Youngs Schwerpunkt liegt auf der christlichen Arbeit mit Menschen mit dissoziativen Störungen. Ich konnte ihr bei der Arbeit „über die Schulter schauen“ und so ganz praktisch miterleben und lernen. Dann folgten wertvolle und äußerst hilfreiche Fortbildungen in der allgemeinen Traumatherapie, die ich bei Michaela Huber und Lutz Besser absolviert habe. Ihr Engagement und ihre Kompetenz haben mich fasziniert und angesteckt. Auch Franz Ruppert, Luise Reddemann und die Lehre der strukturellen Dissoziation von Onno van der Hart und Kollegen haben meinen Ansatz beeinflusst.

Die Menschen, die ich begleiten konnte, – einige davon werden in diesem Buch zu Wort kommen – haben mich zu vielen Erkenntnissen geführt. Ich staune über ihren Mut und ihren Glauben und bin bewegt von ihrem Zeugnis.

Besonders tief prägt mich meine persönliche Beziehung zu Gott. Als liebender Vater wünscht er von Herzen, dass seine tief verletzten Kinder Veränderung, Trost und Heilung erleben, ihren Stand als Königskinder wieder neu einnehmen können und auf diese Weise frei werden, in die für sie vorbereitete Berufung einzutreten. Die Wiederherstellung, die durch diesen lebendigen Gott möglich ist, habe ich in so vielen Wegbegleitungen erlebt, dass ich davon weitergeben möchte.

Was erwartet Sie in diesem Buch?

Dieses Buch bezieht sich in erster Linie auf die Begleitung von Menschen mit Langzeittraumata, die sich bereits in der Kindheit ereignet haben.

Der eher informative Teil I beschreibt die theoretischen Grundlagen von Trauma und Folgen. Zugrunde liegende Theorien, neue Erkenntnisse der Traumatherapie und entsprechende Erklärungen aus der Neurobiologie und der Bindungstheorie werden erläutert. Teil II nimmt den Leser mit auf einen christlichen Wiederherstellungsweg und ist sehr persönlich gestaltet. Anfangs beschreibe ich die Glaubensbasis, die allen weiteren Schritten zugrunde liegt. Dann folgen die einzelnen Wegetappen mit einer Fülle von Ideen und praktischen Hinweisen. Eine beispielhafte Wegbeschreibung und ein Kapitel zu vermeidbaren Fehlern schließen sich an. Immer wieder finden sich persönliche Zeugnisse und Beispiele von Betroffenen, die den Lesern Einblick und tieferes Verstehen ermöglichen. Zum Schutz der Betroffenen und um der besseren Verständlichkeit willen sind Namen, Umstände und Zeitabläufe zum Teil leicht verändert. Ulrike Willmeroth, die ihren persönlichen Weg der Trauma-Aufarbeitung in unserem Buch „Berufen zum Königskind“ schildert, ergänzt die Thematik aus Sicht einer Betroffenen und Seelsorgerin. Sie bereichert das Buch durch die Kapitel „Trauerprozesse und Umgang mit dem Leid“ und „Lebensbegleitung im Alltag“. So zeugt auch das Buch von gegenseitiger Ergänzung und Unterstützung. Den Abschluss bilden Ideen zur Selbstfürsorge der Wegbegleiter und Gedanken zum Zusammenspiel von psychotherapeutischen und Glaubens-Aspekten. Alle Leser werden der Einfachheit halber als Wegbegleiter angesprochen, wobei dieser Begriff sowohl Frauen als auch Männern, sowohl Seelsorgern als auch Beratern sowie Therapeuten und all den anderen Menschen gilt, die sich mit auf den Weg gemacht haben. Ebenso können alle Abschnitte, in denen von Betroffenen gesprochen wird, auf beide Geschlechter bezogen werden. Ich habe bewusst versucht, den gesamten Text einfach und verständlich zu formulieren, um damit auch Lesern ohne medizinischem oder psychologischem Hintergrund einen guten Einblick zu vermitteln.

Das Handbuch zur Traumabegleitung soll Zuversicht und Hoffnung transportieren. Durch Gottes Wirken ist viel mehr möglich, als wir uns vorstellen können. Wenn wir Wegbegleiter diesen Menschen, die in Not sind, unser Herz öffnen, werden auch wir selbst Gottes Segen erleben.

Dann wird dein Licht in der Dunkelheit aufleuchten und das, was dein Leben dunkel macht, wird hell wie der Mittag sein. Dann wird dich der Herr beständig leiten und dir selbst in Dürrezeiten innere Zufriedenheit bewahren. Er wird deinen Körper erfrischen, sodass du einem soeben bewässerten Garten gleichst und bist wie eine nie versiegende Quelle. (Jesaja 58,10–12)

Ist das nicht eine wirklich Mut machende Perspektive?