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Stilpraxis und Stilideal

Klaus Grubmüller

cristallîniu wortelîn

Gottfrieds Stil und die Aporien der Liebe

Hartman der Ouwære
ahi, wie der diu mære
beide uzen unde innen
mit worten und mit sinnen
durchverwet und durchzieret!
wie er mit rede figieret
der aventiure meine!
Wie luter und wie reine
siniu cristallinen wortelin
beidiu sint und iemer müezen sin!
si koment den man mit siten an,
si tuont sich nahen zuo dem man
und liebent rehtem muote.
swer guote rede ze guote
und ouch ze rehte kan verstan,
der muoz dem Ouwære lan
sin schapel und sin lorzwi. (V. 4621–4637499

„In seinen Bemerkungen zu Vorbildern, Kollegen und Widersachern formuliert Gottfried beiläufig sein eigenes Stilideal, das sich orientiert an den Gesetzen der antiken Schulrhetorik“ – so fasst RÜDIGER KROHN seinem Kommentar die allgemeine Auffassung dieser Stelle zusammen, und er ergänzt: „Hartmann von Aue […] galt Gottfried als Inbegriff vollendeter Dichtkunst, die sich definierte aus dem idealen Beziehungsverhältnis von wort und sin.500

Den historischen Hintergrund von Gottfrieds „Stilideal“ skizziert Peter Ganz in der Einleitung seiner Ausgabe.501

Worauf es ihm vor allem ankommt, ist, daß der Dichter in einer für den Leser502 durchsichtigen Weise seine Erzählung mit dem äußeren Schmuck der figuræ verborum und den inneren Farben der figuræ sententiarum ausstattet. […] Aus solcher Adäquatheit des sprachlichen Ausdrucks zur dargestellten Sache, dem aptum der Rhetoriker, resultiert dann eine durchsichtige Klarheit und Korrektheit des Stils, die es dem Geist des Lesers [!] ermöglicht, dem Gang der Erzählung ungehindert zu folgen, gleichsam als ritte man, ohne über Unebenheiten zu stolpern, auf einer geraden Straße entlang.503

So sehr das einleuchtet, so sehr irritiert gerade vor dieser als rhetorischer Tradition gefestigten, in Darstellungsregeln übersetzten, zu ganzen Lehrgebäuden ausdifferenzierten Dichtungsauffassung Gottfrieds Resignation, ja seine Verzweiflung gegenüber der Aufgabe, das eigentlich nicht sonderlich fordernde Sujet der Schwertleite angemessen zu beschreiben:

wan bi minen tagen und e
hat man so rehte wol geseit
von werltlicher zierheit,
von richem geræte:
ob ich der sinne hæte
zwelve, der ich einen han,
mit den ich umbe solte gan,
und wære daz gevüege,
daz ich zwelf zungen trüege
in min eines munde,
der iegelichiu kunde
sprechen, alse ich sprechen kan,
ine wiste wie gevahen an,
daz ich von richeite
so guotes iht geseite,
mane hæte baz da von geseit. (V. 4600–4615)

Gerade für ein durch Tradition legitimiertes Dichtungsverständnis, wie es sich in den Lehrgebäuden der Rhetorik darstellt, kann es doch keine Hürde sein, dass es insgesamt oder für ein bestimmtes Sujet eine Fülle von Vorgängern gibt; ganz im Gegenteil: es gibt dann ja auch eine Fülle von Vorbildern, einen reichen Schatz von Redemöglichkeiten, die – nach den Regeln rhetorischer Variation – neu verknüpft, verändert, aktualisiert werden können. Wenn das Gottfrieds Anspruch nicht genügt, dann hätte er selbst aber doch kein rhetorisches Dichtungsverständnis. Und dann wäre das ein anderes als das, das er an Hartmann rühmt, dann beschriebe er in der Literaturstelle keineswegs sein eigenes Stilideal.

Man wird einwenden, dass Gottfried den Grund benennt, dessentwegen die Beschreibung der Schwertleite nicht gelingen kann: sie kann nicht mehr gelingen, weil schon zu viel darüber geschrieben (oder geredet) worden ist:

ja ritterlichiu zierheit
diu ist so manege wis beschriben
und ist mit rede also zetriben.(V. 4616–4618)

Aber gibt es für eine rhetorisch verfasste Kunst überhaupt einen Zeitaspekt? Wie ließe sich denn noch das Vertrauen auf ein mindestens eineinhalb Jahrtausende altes System begründen, wenn auch nur der Gedanke sich einschliche, dass es sich verbrauchen könne. Auch wenn dieser Gedanke nur auf die Sprache, diu rede (diu wort?), eingeschränkt würde (so weit das überhaupt möglich ist), es bliebe ein irritierender Originalitätsanspruch: der Wunsch, anders zu schreiben als alle, der Wunsch, aus dem System auszubrechen, und die Verzweiflung darüber, dass eine verbrauchte Sprache dem entgegensteht (als befänden wir uns im frühen 20. Jahrhundert und redeten über Hofmannsthal).

Ich versuche diese Widersprüche durch die Beantwortung von drei Fragen aufzulösen:

1. Von welcher Art ist der Stil, den Gottfried rühmt?

2. Redet Gottfried, wenn er Hartmanns (oder auch [V. 4691–4722] Bliggers von Steinach)504 Sprache rühmt, überhaupt von „sein[em] eigene[n] Stilideal“ KROHN505 u. a.)?

3. Wie verhält sich Gottfrieds Sprachauffassung zu seiner sprachlichen Praxis und wie diese zur gedanklichen Faktur seines Werkes? Ist seine rede […] ebene unde sleht (V. 4661)? Sind diu wort durchsichtig auf den sin? Schmiegen sie sich ihm an (V. 4631 f.)?

1  Von welcher Art ist der Stil, den Gottfried rühmt?

Gottfried charakterisiert sein sogenanntes ‚Stilideal‘ durch Bilder und Umschreibungen: cristallin sind die wortelin und deshalb luter und reine (V. 4628 f.) bei Hartmann von Aue; geliutert und gereinet ist die Rede bei Bligger von Steinach (V. 4703); durliuhtec wünscht sich Gottfried mit Hilfe der Musen die Worte seines Werkes, als ein erwelte gimme (V. 4902 f.).

Die Musterung des Wortgebrauchs lässt keinen Raum für Zweifel. Ich greife hier nur einige wenige Beispiele auf: lûter ist das Wasser (Parzival506 576,10; Kudrun507 1201,4), das Glas (Parzival, 236,3; Flore und Blanscheflur508 V. 6849), das Eis (Amis509 , V. 1003), eine Furt (Parzival, 129,17) und auch das lop kann lûter unde klâr sein (Walther510 27,33): ‚hell, durchsichtig und aufrichtig‘ sind als Bedeutung anzusetzen. liutern heißt, diesen Zustand der Klarheit und Reinheit herbeizuführen: das Gold wird in der Glut geliutert (Parzival, 614,13), und so haben nach Gottfried auch die Feen den reinen sin der Worte des Bligger von Steinach in ir brunnen / geliutert und gereinet (Tristan, V. 4703). Durliuhtec übersetzt translucide (Herrad-Glossen,511 Nr. 891); die Qualität eines Edelsteins bemisst sich nach seiner Durchsichtigkeit (Konrad von Megenberg, Buch der Natur512 S. 486,18 zum Jaspis); Dinge (und auch Menschen) können durchliuhtig sein als ein glas (Ottokar513 V. 1870) oder auch durchlewchtig als christallen (Teichner514 Nr. 564, V. 339), sie können aber auch hell leuchten, besonders wiederum Edelsteine und der rote Mund der Frauen. Durchsichtigkeit ist im Vergleich des Teichners die Eigenschaft, die den Kristall kennzeichnet; sie wird auch im Wigamur515 benutzt, wenn vom Kristall gesagt wird, er sei lûterr danne ein glas (V. 10362). lûter ist dementsprechend das stehende Epitheton für den Kristall,z. B. im Himmlischen Jerusalem516 (V. 62), im Straßburger Alexander517 (V. 5976), bei Herbort518 (V. 7219), bei Ulrich von Zatzikhoven519 (V. 4121), bei Heinrich von Neustadt (Gottes Zukunft520 V. 2362) usw. Am deutlichsten zugespitzt hat diesen Zusammenhang Gottfried selbst anlässlich der Beschreibung des kristallenen Bettes in der Minnegrotte:

er hæte ir [der Minne]reht vil rehte erkant,
der ir die cristallen sneit
zir legere und zir gelegenheit:
diu minne sol ouch cristallin,
durchsihtic und durchluter sin. (V. 16980–16984)

Einhellig bezieht die Forschung – von Sawicki521 bis Ganz522 KROHN523 und HUBER524 – diese Umschreibungen auf die rhetorischen Grundbegriffe525 der claritas und der ihr übergeordneten perspicuitas.

MANFRED GÜNTER SCHOLZ hat Zweifel gesät, ob dieses intuitive Verständnis auch das richtige sei. Er geht davon aus, dass „das Stilprinzip der perspicuitas […] im Mittelalter keine Konjunktur526 hatte; bekannt war es aber, z. B. über die Rhetorica ad Herennium527 durchaus (und das räumt Scholz auch ein). Fraglich ist nur, wie rudimentär oder elaboriert es rezipiert wurde, etwa beschränkt auf das pure, aperte und dilucide dicere, so etwa in der Herennius-Rhetorik oder ähnlich bei Isidor528 (z. B. II 16) oder unter Einschluss des von einigen, keineswegs allen Autoren formulierten Vorbehalts gegen ambiges und widersprüchliches Sprechen, gegen gesuchte Metaphern und gegen Allegorien. Für den zweiten Fall würde in der Tat Gottfrieds Vorliebe für llegorien ein Problem, aber eben nur dann, wenn man ein elaboriertes Modell zum Maßstab nimmt, und selbst da, z. B. bei Cicero und Quintilian, wird die Allegorie keineswegs pauschal abgewiesen, sondern nur dazu aufgerufen, auf die Gefahr der obscuritas zu achten.

Für den ersten Fall einer pauschalen, rudimentären Kenntnis gesteht auch SCHOLZZU: „Die drei Metaphern [er meint die Adjektive lûter, reine,cristallîn] stehen […] zu nahe am lateinischen Modell, als daß die Koinzidenz bloßer Zufall sein dürfte“529

Ich kann keinen Grund erkennen, in Gottfrieds Stil-Terminologie nicht einen Rückgriff auf die rhetorische Tradition zu erkennen.lûter, rein, durhliuhtec zitieren purus, dilucidus und perspicuus und berufen sich damit auf das Ideal des perspicue loquendum, wie es bei dem im Mittelalter allgegenwärtigen Isidor heißt (II 16).

2  Hartmanns und Bliggers Sprache und Gottfrieds Stilideal

Unverkennbar entwickelt Gottfried seine Kategorienam Beispiel anderer, eben Hartmanns und Bliggers, also von Vorgängern. Man könnte also vielleicht annehmen, in der Vergangenheit, also bis hin zu ihm, sei das die richtige, die beste Form sprachlicher Darstellung gewesen. Nun aber sei neu und andersanzusetzen. Abgesehen davon aber, dass dies eine Überbietungsgeste erforderte, die bei Gottfried gerade nicht vorliegt, bezieht Gottfried im Musenanruf (V. 4851–4905) das für Hartmann und Bligger formulierte Stilideal ausdrücklich auch auf sich. Der Unfähigkeitstopos (dem man im übrigen nicht gerecht wird, wenn man ihn – wie Krohn – als „affektierte Bescheidenheit“530 einstuft) wird in die Bitte an die Musen überführt,das Werk des Dichters mit genau den Eigenschaften auszustatten, die er an den besten seiner Vorgänger gerühmt hatte: Klarheit, Durchsichtigkeit und die Fähigkeit, in das Herz der Hörer vorzudringen:

diu minen wort muoz er [der Tropfen aus der Musenquelle] mir lan
durch den vil liehten tegel gan
dercamenischen sinne
und muoz mir diu dar inne
ze vremedem wunder eiten,
dem wunsche bereiten
als golt von Arabe.
die selben gotes gabe
des waren Elicones,
des oberesten trones,
von dem diu wort entspringent,
diu durch daz ore clingent
und in daz herze lachent,
die rede durchliuhtec machent
als eine erwelte gimme,
die geruochen mine stimme
und mine bete erhœren
oben in ir himelkœren
und rehte als ich gebeten han. (V.4889–4907)

Wir brauchten also keine Skrupel zu haben, das an Hartmann oder Bligger entwickelte Stilideal tatsächlich auch auf Gottfried zu beziehen. Diese Skrupel existieren aber. MANFRED GÜNTER SCHOLZ stellt ausdrücklich fest: „In ihre [d. h. Hartmanns, Bliggers, auch Veldekes] Fußstapfen will Gottfrieds Erzähler […] nicht treten.“531 Wenn man SCHOLZ folgt, ist das abzulesen an einer ironischen Distanzierung des Erzählers gegenüber seiner eigenen rühmenden Rede. Um das zu illustrieren, referiert er (nicht unbedingt repräsentative)532 Forschungspositionen:533

Auf J. A. Asher wirke der Preis Hartmanns im Vergleich mit dem Bligger-Lob „lukewarm“534 die Verse Wie luter und wie reine / siniu cristallinen wortelin / beidiu sint und iemer müezen sin (V. 4628–4630]), seien „possibly with some sarcasm“535 formuliert. Auch für Dieter Goebel stelle der Preis Hartmanns nur „ein relatives Lob“ dar.536 Im überschwenglichen [!] Lob Bliggers erkenneer ebenfalls, wie schon Ute Schwab, ironische Züge.537 URSULA LIEBERTZ- GRÜN schließlich komme zu dem Schluss: „Im Scheinlob Bliggers von Steinach parodiert der Erzählermit burlesker Komik den Schwulst preziöser Stilblüten ideologischen Sprechens“538

SCHOLZ folgert aus dieser Revue: „So kann damit gerechnet werden, daß – wie in der Minnesänger-Partie […] – auch in den Abschnitten zu Veldeke, Hartmann und Bligger Ironie im Spiel gewesen seinmag.“539

Ich kann die Signalenicht finden, die alle diese Textpartien als ironisch kennzeichnen sollen. Mir bleibt immer nur die Gegenfrage: woran sieht man das? Bei Bligger sollen es z. B. die Übertreibung sein und die gesuchten Bilder: „Bei einem Zungenharfner, Messerwerfer und Buchstabenvogel wird man die keuschen und ehrenhaften Ideale der Reinheit und Durchsichtigkeit zu allerletzt suchen.“540 Um die Passage so zu verstehen, muss manaber schon den wortwîsen zum‚Buchstabenvogel‘ verunstalten, die präzise Kunstdes Messerwerfens541 zur Zirkusnummer entwerten und das perfekte Zusammenspiel von Stimme und Harfe im ‚Zungenharfner‘lächerlich machen. Verzichtet man auf solche Manipulation, dannist auch in der Bligger- Rühmung Gottfrieds sogenanntes Stilideal, ergänzt um das harmonische Zusammenspiel von wort und sin (vgl. V. 4623 und V. 4867), ausformuliert:

er hat den wunsch von worten:
sinen sin denreinen
ich wæne daz in feinen
ze wundere haben gespunnen
und haben in in ir brunnen
geliutert und gereinet:
er ist binamen gefeinet.
sin zunge, diu die harphen treit,
diu hat zwo volle sælekeit:
daz sint diu wort, daz ist der sin:
diu zwei diu harpfent under in
ir mære in vremedem prise. (V. 4698–4709)

Woran liegt es, dass durchweg klare, durchsichtige, cristallîne Textaussagen nicht beim Wort genommen werden? Woher kommt der Drang nach ironischer Verfremdung? Noch einmal kann uns vielleicht MANFRED GÜnter SCHOLZ auf die rechte Spur setzen:

Wenn Gottfrieds Erzähler nach dem Literaturexkurs in einer von rhetorischer Ironie dominierten Passage (V. 4828–4858 [die Unfähigkeitsbeteuerung])konstatieren muß, daß ihm angesichts der Übermacht der schone redenden sein sin und seine zunge ihren Dienst versagen, bedeutet dies, daß, was immer an den einzelnen Autoren gerühmt wurde, nicht dazu taugt, die Schilderung von Tristans Schwertleite zu befördern.542

Das bedeutet es nicht. Das beschriebene und in den gerühmten Vorbildern verkörperte Ideal wird in keiner Weise angetastet. Aber Gottfrieds Erzähler sieht sich nicht in der Lage, es zu erfüllen. So sagt es der Text:

man sprichet nu so rehte wol,
daz ich von grozem rehte sol
miner worte nemen war
und sehen, dazs also sin gevar,
als ich wolte, daz si wærenan
vremeder liute mæren
und alse ich rede geprüeven kan
an einem anderen man.
nun weiz ich, wies beginne:
min zunge und mine sinne
dien mugen mir niht ze helfe komen;
mir ist von worten genomen
enmitten uz dem munde
daz selbe, daz ich kunde. (V. 4845–4858)

Das Vorbild der Redekundigen, dem er sich so ausführlich gewidmet hatte, mache ihn, den man, der niht wol reden kann (V. 4835), stumm:

der sin wil niender dar zuo;
son weiz diu zunge, waz si tuo,
al eine und ane des sinnes rat. (V. 4827–4829)

Die Passage ist schnell als Unfähigkeitstopos zu erkennen. Aber deshalb ist sie nicht schon ironisch. Einem solchen Verständnis läge die Vorstellung zugrunde, topische Aussagen seien nicht so ganz ernst gemeint. Das sind sie aber sehr wohl. Sie sind nur in gewisser Weise vorformuliert. Auch ein Unfähigkeitstopos ist ernst zu nehmen. Das bedeutet hier: Gottfrieds Erzähler beteuert seine Unfähigkeit, aber die Interpreten glauben ihm nicht. So wenig wie sie ihm die Beschreibung seines Stilideals glauben oder die Rühmung der Erzähler ernst nehmen wollen, an denen er es exemplifiziert. Auf einen sehr banalen Nenner gebracht, heißt der Einwand: Gottfried weiß, wie es geht und er macht es dennoch nicht. Also muss die Rede ironisch gemeint sein. Denn schließlich wissen wir ja, dass Gottfried Ironiker ist: ein Meister zweideutigen Sprechens, wie er ja schon in der Eidesformel des Gottesurteils zeigt.

Das aber ist wiederum eine falsche Voraussetzung. Gottfried ist kein Ironiker, er ist ein Dilemmatiker. Damit komme ich zu meiner dritten Frage.

3  Gottfrieds Sprachauffassung, seine sprachliche Praxis und die gedankliche Faktur seines Werkes

Gottfrieds Tristan erzählt Auswegloses. Die sprachliche Figur, die dem Ausdruck gibt, ist das Oxymoron543 (die gedankliche, darauf hat Hans Fromm544 schon vor 40 Jahren hingewiesen, das sic et non Abaelards). Die ‚Mehrdeutigkeit‘ Gottfrieds liegt nicht an irgendeiner verwaschenen Ironie, sondern am Zusammenstoß der Gegensätze. Das Oxymoron kann nur funktionieren, wenn die beiden Bestandteile der oxymoralen Aussage in sich glasklar bestimmt sind: cristallîn.545 Zweideutigkeit wie sie beispielhaft beim Eid des Gottesurteils vorgeführt wird, setzt eindeutige Formulierungen voraus. Isolde formuliert zwei einander ausschließende Wahrheiten in einem Satz, aber beide sind eindeutig.546

Aporie, Paradox, Antithese als die gedankliche Grundfigur von Gottfrieds Tristan sind immer schon gesehen worden. JULIUS SCHWIETERING hat 1943 Kontradiktion und Paradox als das Zentrum des Werkes herausgestellt (und einseitig auf die mystische Unio bezogen),547 GOTTFRIED WEBER 1953 die Antithese betont (und daraus ganz zu Unrecht eine Krise des mittelalterlichen Weltbildes abgeleitet).548 Auch DIETMAR MIETH betont 1976 die antithetische Struktur (sieht aber eine „Versöhnung der Oppositionsbeziehungen in der Form“549 – auch das ist frühes 20. Jahrhundert). STEPHEN JAEGER arbeitet 1977 die „Two-foldedness“ heraus (und will sie über die Integumen- tum-Lehre auflösen, die dazu nicht geeignet ist)550 So sehr die antithetische Grundstruktur des Tristan dabei auch gesehen wird, so wenig wird sie als Ausdruck der grundlegenden thematischen Dilemmatik akzeptiert. Sie gilt der Forschung als ein irgendwie zu überwindender defizitärer, vorläufiger oder vordergründiger Zustand. Nur Hans Fromm macht sie zur Basis seiner Interpretation und nähert sich dabei auch einer historisch zu verortenden Lösung.551 Er erkennt in ihr den Ausdruck eines„im genauen Wortsinne heillose[n] Zustand[es]“ (S. 180) dieser Welt und der Erfahrung, dass sie „in der Eindeutigkeit der Werte, die sie bestimmen, nicht aufgeht“ (S. 181). Den gedanklichen Hintergrund sieht er im aufkommenden Aristotelismus des 12. Jahrhunderts, der seinen konsequentesten Ausdruck in der Dialektik des Petrus Abaelard, insbesondere in der Dicta-Sammlung Sic et non und auch in seinem moraltheologischen Hauptwerk Ethica seu Scito te ipsum, finde. Für den Schluss freilich, dass damit auch die Voraussetzung gegeben sei, für eine „neue […] Wertethik […], [in der] die Liebe zum höchsten innerweltlichen Gipfel erklärt“ (S. 183) werde und es nur eines gebe, in dem „die Antinomien sich auf[höben], in der Ganzheitserfahrung der reinen Liebe, wie sie von Tristan und Isolde exemplarisch verwirklicht wird“ (S. 181), braucht Fromm den Rückgriff auf die spektakuläre Lebens- und Liebesgeschichte Abaelards, die er – durchaus mit einer gewissen Berechtigung – als weithin bekannt voraussetzt.

Es bedarf aber nicht der Propagierung einer neuen ‚Liebesreligion‘ (die ja doch wieder vom Wunsch nach einer Versöhnung der Gegensätze und der Überwindung des dialektischen Widerspruchs ausgelöst ist). Der Widerspruch selbst, die Antinomie, das Dilemma sind nicht nur Gegenstand des philosophischen Denkens des 12. Jahrhunderts, sie rücken, in den Poetiken des 12. Jahrhunderts, auch nahe an Gottfrieds poetisch-rhetorisches Umfeld heran, und sie werden abgehandelt gerade auch am Thema der Liebe.

ROBERT GLENDINNING hat 1987 auf die grundsätzliche Bedeutung dieses Zusammenhangs für das Denken von Gottfrieds Zeit aufmerksam gemacht:

[The] rhetorical lore provided Gottfried’s age with a method of exploring the ‘problem’ of eros without diminishing its irony and its contradictory qualities.552

Er stellt die These auf,

that the increasing interest in antithesis and its verbal vehicles, especially the oxymoron, displayed in a succession of medieval rhetorical treatises, represents an important and profound attempt on the part of the age to analyse and understand the basis of its own thought.553

GLENDINNING zeigt überzeugend, dass Gottfried Matthäus von Vendôme gekannt und benutzt hat, und zwar sowohl die Ars versificatoria wie seine Fassung von Pyramus und Thisbe, in der Matthäus eine Vorstellung von Liebe entfaltet, die genauso doppeldeutig und ausweglos ist wie die Gottfrieds: beglückend und zerstörend.554 Diese Geschichte gehört zu den Erzählungen, in denen die Unmöglichkeit demonstriert wird, „wahre passionierte Liebe im Rahmen der gesellschaftlichen Normen und Regeln zu verwirklichen. Die Liebenden scheitern an gesellschaftlichen Instanzen […] und finden sich erst im Tode“555

GLENDINNINGS Folgerung lautet:

It seems a reasonable inference that the late 12th century objectified its ambivalent and contradictory feelings about eros by creating a theory of love according to which this contradictoriness was the essential nature of love itself. Thus the oxymoron, and particularly the chiastic oxymoron would ipso facto be a natural organizing structure for the expression of thoughts or experience related to eros, and this explains further why theorizing about the nature of eros should have taken place in rhetorical manuals and in works written by rhetoricians.556

Es ist also nicht schwer, von hier aus den Zusammenhang zwischen Gottfrieds Sprachauffassung und dem gedanklichen Kern seines Werkes zu erkennen. Auf beiden Ebenen wird ein Dilemma, vielleicht sogar eine Aporie benannt: die Unmöglichkeit, unbedingte Liebe in der Realität der Gesellschaft zu verwirklichen auf der einen Seite und auf der anderen die Unmöglichkeit, ein unbezweifelt gültiges (rhetorisches) Ideal, das der claritas und perspicuitas, zu erreichen. Das Dilemma ist im Sprechen und Schreiben wie in der Minne die strukturierende Figur. Der unaufgelöste Widerspruch seiner Vorstellung über die richtige Sprache folgt aus der rhetorischen Forderung nach dem aptum. Er erfüllt sie perfekt: Andere mögen eindeutig und wider- spruchsfrei formulieren können, aber Gottfried kann seinem Thema, den Aporien der Liebe, nur im Widerspruch, im Dilemma des sic et non, gerecht werden.