Zu Gottfrieds Tristan und Konrads Goldener Schmiede
Die folgenden Überlegungen wurden durch einen Aufsatz von MANFRED GÜNTER SCHOLZ angeregt.557 Die Forschung hat Gottfrieds Hartmann-Lob im Literaturexkurs ziemlich einhellig dem rhetorischen Stilideal der perspicuitas zugeordnet, das Gottfried auch für sich selbst beansprucht, es sei denn dass er dieses Lob ironisch meint und sich davon distanzieren will. Diese Voraussetzungen gelten auch für die stilistischen Termini in den Passagen über Bligger und Heinrich von Veldeke wie den Musenanruf.558 SCHOLZ verweist nun auf den Befund, den ASMUTH in einem Artikel im Historischen Wörterbuch der Rhetorik herausgearbeitet hat, dass nämlich das klassische rhetorische perspicuitas-Prinzip dem Mittelalter sozusagen unterwegs abhandengekommen sei.559 Die mittellateinischen Stillehren, deren Benutzung für Gottfried als Quelle nachzuweisen ist, kennen es nicht und wurden in diesem Punkt irrtümlich beizitiert.560 Hinzu kommt, dass die einschlägigen Klarheits-Kriterien nicht zu Hartmanns Stilpraxis und noch weniger zu der Gottfrieds passen. Scholz durchmustert einige Verfahren, die für Gottfried gerade im Literaturexkurs eher eine Annäherung an die obscuritas-Tradition nahelegen. Es klingt etwas resignativ, wenn er seinen Aufsatz beschließt: „Urteile, die sich verfestigt haben, so ungeprüft sie auch tradiert wurden, haben eine lange Haltbarkeit. Die Gefahr, daß obscuritas zu Gottfrieds Stilideal erklärt wird, besteht also vorerst nicht.“561
So bleiben Kernaussagen des Literaturexkurses erneut zu bedenken.562 Immerhin finden sich in den viel zitierten cristallînen wortelîn und den Epitheta lûter und reine Stichwörter, die ASMUTH dazu bewegt haben, Gottfried von Straßburg als große Ausnahme in sein Panorama einzureihen.563 Wie sind nun diese im Rahmen des Exkurses zu lesen? Wie passen sie zu anderen, unbezweifelbaren Anleihen aus dem Fundus der mittellateinischen Stilistik? Lässt sich aus der essayistisch sprunghaften Bilderflut von Gottfrieds Literaturrefals der demonstrativ kryptische Neologismusals der demonstrativ kryptische Neologismuslexion überhaupt ein stilistisches ‚Programm‘ gewinnen?
Diese Fragen spricht JENS HAUSTEIN im Rahmen der neueren Theorie-Debatten an.564 Auf der Ebene der historischen Stilistik bewegt sich die Kontroverse, ob Gottfried als Anwalt einer verbindlichen Tradition, der lateinischen nämlich, votiert oder ob er die Brücken dorthin abbricht und im Medium der Volkssprache sich völlig neu und inkommensurabel selbst definiert.565 Andererseits werfen Gottfrieds stilistische Voten Fragen auf, wenn man sie zwischen Sinnbildung und Präsenzeffekten oszillieren sieht. Zwischen Hartmann und der Gegnerfigur werden diese unterschiedlich austariert. Wie immer man sich hier entscheidet, die Betonung von Präsenz und Performanz mit ihrer Konzentration auf sinnliche Effekte, auf Form- und Klangstrukturen, die den Text autoreflexiv als literarischen spiegeln, rücken eine funktionalistisch orientierte traditionelle Stilistik, und damit auch das Klarheits-Prinzip, aus dem Fokus. Ich komme auf diesen Aspekt zurück. Beim erstgenannten Punkt gehe ich allerdings von der methodischen Prämisse aus, dass der Ansatz an der Tradition, namentlich der historischen Stilistik, unverzichtbar ist, auch wenn man auf das Neue und Spontane in Gottfrieds volkssprachlichem Gedankenflug hinaus will. Denn radikal voraussetzungsloses Sprechen ist nicht nur unmöglich, sondern kann gerade im Rahmen des Literaturexkurses nicht Gottfrieds Intention sein, auch im Hinblick auf den von ihm angespielten lateinisch gelehrten Hintergrund.
Wir packen den Stier gleich bei den Hörnern und kümmern uns um die cristallînen wortelîn (V. 4629). Die metaphorische Kombination, die hier im Deutschen zum ersten Mal belegt auftaucht,566 ist nur scheinbar klar und bei näherem Hinsehen kaum weniger rätselhaft als der demonstrativ kryptische Neologismus der bickelwort (vgl. V. 4641). Bei der Übersetzung ist man mit „kristallen“ jedenfalls auf der sicheren Seite, mit „kristallklar“ legt man sich auf die perspicuitas fest, was um alles in der Welt aber meint WALTER HAUG mit „kristallen-zierlichen“ Worten?567 Die Kommentare halten sich auffällig zurück und referieren allenfalls, wenn sie ausführlich sein wollen, die naturkundliche Lehre vom Kristall als durch Kälte, Dunkelheit und Druck ‚zusammengewachsenem‘, verfestigtem Eis, woraus sich für die Stelle kein Honig saugen lässt.568
Konsultiert man die bedeutungskundliche Forschung zur theologischen Edelsteinallegorese bei CHRISTEL MEIER, erfährt man, dass der Kristall aufgrund seines Auftauchens an schwierigen Bibelstellen ungewöhnlich ausgelegt wird.569 Dominant ist hier zwar die Semantik der Durchsichtigkeit, der Reinheit, des Leuchtens und Glänzens, wie sie den Edelsteinen allgemein zugesprochen wird.570 Die Reinheit kann so als Ungetrübtheit vom Schmutz der Sünde interpretiert werden. Aber mit den lithologischen Vorgaben vom Kristall als verfestigtem Eis, das unter Schwierigkeiten auch wieder zu verflüssigen ist, kommen Deutungsperspektiven in malam partem ins Spiel. In dem allegorischen Handbuch des Hieronymus Lauretus findet sich dazu eine kompakte Synopse:571 Positiv gesehen wird die Verwandlung vom Instabilen zum Festen, vom Weichen zum Harten etwa in Bezug auf die menschliche Natur Christi durch das Leiden; auf die Natur der Engel nach ihrer Versuchung; auf den Glauben.572 Die im kristallisierten Eis gewonnene Festigkeit kann aber auch als Verhärtung, als sündige Verstocktheit ausgelegt werden, die aufgelöst werden muss.573 Prinzipiell modifiziert der Edelstein das Licht durch seine Farbe; andererseits werden an ihm auch Verunreinigungen und Trübungen beobachtet und gedeutet. Edelsteine können so das Durchscheinende repräsentieren, das weder völlig klar noch völlig undurchlässig ist, oder auch das ganz Undurchsichtige, Dunkle.574 CHRISTEL MEIER referiert einen bemerkenswerten Beleg im Reductorium des Petrus Berchorius (14. Jh.), der eine textbezügliche Allegorese-Richtung einschlägt. Der Edelstein Alectoria, der als dunkler Kristall gilt, bezeichne so zum einen die claritas sapientiae der Bibel, zum anderen aber auch ihre difficultas und obscuritas.575
In einer anderen Ecke der Tradition lagert ein mythologisch-magisches Requisit, der kristallene Schild des Perseus, der im Kampf gegen die Gorgo durch seine Spiegelungseffekte wirkte und in der Mythenexegese psychologisch und ethisch rationalisiert wurde und so beim Marner auch in die volkssprachliche Dichtung Eingang fand. Wir lassen ihn dort ruhen.576
In Gottfrieds Hartmann-Lob jedenfalls wird das Kristalline ausdrücklich mit dem Lauteren und Reinen verbunden. Die Gegner-Polemik hebt dagegen auf das Obskure, auf die Absenz von Sinn oder bewusste Täuschung, auf sprachliche Verwirrung und Verdunkelung ab. Doch bringt die Bilderfolge des Literaturexkurses auch auf der positiven Seite Tendenzen zur Geltung, die der Wortkunst eine ornamental dichte, fremde, exotische, eher opake Seite zusprechen, vor allem im Bligger-Abschnitt. Hier wird der von Feen gesponnene und geläuterte sin im geistigen Hintergrund der Worte zu einem reich verzierten Textgewand verarbeitet. Dieser Sinn des Gedichtes ist nicht leicht einzufangen, sondern schwebt hoch in der Luft wie ein Adler.577 Quast ordnet diese semantisch opake Region dem ,Nichthermeneutischen‘ zu, welches über die Feen auf der sin-Ebene eine magisch-mythische Begründung erhält und gleichermaßen auf der Gegenseite wie bei den gepriesenen Literaten gefunden werden kann.578 Im Musenanruf verwandelt sich das Wasser der Pegasus-Quelle unvermittelt in eine Goldküche der camenischen sinne, um die Worte wie arabisches Gold in ein fremdartiges Wunderwerk einzuschmelzen.579 Das Flüssige wechselt hier zum festen, opaken, glänzenden Material. In dieser Perspektive wird man schon im Hartmann-Teil das durchverwen und durchzieren, die Durchformung des Textes mit ornatus eher als Modifizierung und Trübung der reinen Durchsichtigkeit sehen.
An dieser Stelle kann der Blick auf Konrad von Würzburg dem stilistischen Entwurf Gottfrieds weiteres Profil geben. In dem Marienpreis Die Goldene Schmiede, einem Kabinettstück gelehrter Rhetorik, führt Konrad den Kristall zweimal als Marienmetapher aus.580 In einer Reihe von mariologisch gedeuteten Pflanzen und Steinen tauchen nebeneinander der Kristall und der Beryll auf.581 Sie werden verglichen mit Marias Keuschheit, da sie, obwohl kalt von Natur, als Brennglas wirkend, eine Kerze entzünden können. Entsprechend habe Maria, selbst keusch, den göttlichen Schein aufgenommen, do wart uns von der tugent din / Crist, daz ware lieht enzunt (V. 854 f.). In der vorhergehenden Bilderreihe wird Maria immer wieder als Mittlerin zwischen Gott und Menschen und als deren Helferin gepriesen, wobei das Thema Licht, Klarheit, Reinheit, Keuschheit582 und Verweise auf die jungfräuliche Geburt sich durch den Text ziehen, nicht als logisch verankerte Argumente, sondern als Motivzusammenhang, der in zahllosen Querverbindungen das Gedicht durchwebt. Dabei wechselt Konrad auch auf die Metaebene und lässt Qualitäten seines Sprechens und seiner Sprachgestaltung anklingen: schon unde luterlichen / wirt iemer hie din pris getwagen (V. 362 f.). Ein traditionelles Bild beschreibt die Inkarnation mit dem Weg des Sonnenlichtes durch unverletztes Glas:
diu sunne verwet nach dem glase
ir claren unde ir liehten glanz:
swa si durch ez schinet ganz,
ez si gel rot oder bla,
si [die Sonne] wirt nach im [dem Glas] gestellet sa
und in die varwe sin geleit;
sus wart diu luter gotheit
nach dir geverwet, frouwe guot.
du striche ir [der Gottheit] an fleisch unde bluot,
do Crist, diu ware sunne
[…]
schein dur dinen ganzen lip. (V. 778–789)
Was hier vom Glas gesagt wird, ist offensichtlich eine Variante zur inkarnatorischen Exegese von Kristall und Beryll, wobei die Farbe im Glas zusätzlich die Vermittlung der menschlichen Natur durch Maria einbringt. Kurz darauf heißt es vom Marienlob: durliuhteclichen sol erbrehen / din name zaller zite (V. 800 f.); und wenige Verse hinter die Kristall-Auslegung setzt Konrad im sogenannten ‚Zwischenprolog‘ seine Inspirationsbitte an Maria, die ihm helfen soll, daz ich müeze / von minen cranken sinnen / diu linden wort gewinnen / diu dinem namen wol gezemen (V. 876–879). Sie möge ihm helfen, dem Tadel der meister, der wisen, zu entkommen. Wie von einfältigen Schafen die Wolle für das Kleid eines Kaisers gesponnen wird, so schir ich tumber CUONRAT / ab einvaltigem sinne / die rede uz der ich spinne / dir ein richez erenkleit (V. 890–893). Konrad kombiniert und überlagert also heterogene Bildbereiche, um sein literarisches Unternehmen zu formulieren.
Die autoreferentielle Dimension der Edelsteinallegorese, die durchweg mitschwingt, drängt sich vor allem bei der zweiten Kristall-Deutung auf. Hier geht es um die natürliche Wirkung des Kristalls als Vergrößerungsglas:583
er hat an im die grozen
und die gewalteclichen art,
daz nie kein schrift so cleine wart,
ir schin enwürde breiter,
ob dirre stein vil heiter
si dahte und übergriffe:
swer in ot dünne sliffe
und uf die schrift in wollte haben,
ern saehe ir cleinen buochstaben
durch in groezer schinen.
davon genoze ich dinen
durliuhteclichen glast darzuo,
wand ich geloube daz er tuo
gelich dem selben steine. (V. 1800–1813)
So lasse Maria dem Sünder die Schuld, die ihm klein dünkt, größer erscheinen und motiviere ihn zur Reue. Die auf den Text, und zwar den schriftlich vermittelten, beziehbare Eigenschaft des Kristalls liegt hier auf der literalen Ebene. Der Kristall fungiert dabei als Medium, welches das Transportierte verändert. Über die vermittelnde Funktion hinaus wird so dem Kristall und vergleichbaren diaphanen Medien auch eine modifizierende Leistung mit einer besonderen Wirkung auf den Betrachter zugesprochen. Dass über diese proprietates der Brückenschlag zur theologischen Aussage gefunden wird, steht auf einem anderen Blatt.
Wir stoßen hier auf einen Themenkomplex in Konrads Literaturreflexion, der mir im Zusammenhang mit Gottfrieds Exkurs von Bedeutung zu sein scheint. Schon 1958 hat Wolfgang Monecke in einem bemerkenswert verfallsresistenten Buch das ‚Erzählprinzip der wildekeit‘ herausgearbeitet, das über Narratives hinaus ein allgemeines Stilprinzip beschreibt.584 wilde ist bei Konrad im Zusammenhang mit anderen Verwendungen des Adjektivs als stilkritischer Terminus ausführlich belegt. Er bezeichnet, wie MONECKE nachweist, in einem semantischen Feld neben spaehe, waehe, fremde, cluoc (S. 10) das Erlesene, Kostbare, Faszinierende: „die wilde Erzählung weckt Aufmerksamkeit und Wißbegier, […] erregend durch die Reize des Besonderen, ja Ausgefallenen“. (S. 11). Thematisch nähert sich das wilde Sprechen dem unfassbaren Gegenstand (vgl. S. 9). So reflektiert die Goldene Schmiede die unerschöpfliche Fülle der Mariensymbolik in einer Anrede an Maria:
du bildaer und exempel [Maria als schöpferisches Urbild vor der Zeit],
daran diu welt ie wunder kos,
din wunder ist so bodemlos
daz aller engel sinne
grundes niht darinne
kiesent noch erreichent.
bi dir ist uns bezeichent
so manec sache wilde,
daz nieman din unbilde [das bildliche Vorstellung Übersteigende]
mit worten mac volenden. (V. 558–567)
Nicht von den Dingen wird auf Maria geschlossen, sondern die Gottesmutter ist eine Art inkommensurables Urbild, ein Archetypus, der sich in zahllosen wilden Dingen wunderbar ausprägt und nicht angemessen in Worte zu fassen ist. In der mittelalterlichen allegorischen Hermeneutik ist diese Umkehrung der üblichen Verweisrelation von den Zeichen auf den unaussprechlichen Gegenstand vorgezeichnet.
Auf der Ebene der Sprachgestaltung verbindet sich wilde mit dem rhetorisch kunstvoll durchgestalteten Stil. Der Prolog der Goldenen Schmiede wendet dies als Unfähigkeitstopos, der das, was erforderlich wäre, dem Dichter abspricht: Einsicht (sinne), wilde ausgefallene Reimkunst, in der Tradition aufgestöberte fünde und die Fülle der rhetorischen Kunstmittel im Bild von Vegetation und Schmiedekunst.
davon dir [Maria] miner worte satz
vil ungemæze ist harte.
Der künste meiengarte
ist leider mir ze wilde,
darinne ich lobes bilde
dir, frouwe, solte würken
[…]
von liehter sinne glanze
wirde ich niht gemüejet,
der wilde rim niht blüejet
vor mines herzen ougen,
noch clinget für mich tougen
der claren fünde bechelin
[…]
ich sitze ouch niht uf güenem cle
von süezer rede touwes naz,
da wirdeclichen ufe saz
von Strazburc meister Gotfrit,
der als ein wæher houbetsmit
guldin getihte worhte. (V. 76–81; V. 86–89; V. 94–99)
Da haben wir Gottfried als Stilvorbild auf dem rhetorisch geblümten campus verborum mit dem Goldschmiedehammer in der Hand! Sein Literaturexkurs als Prätext von Konrads stilkritischen Ausführungen! In einer grundlegenden Interpretation der Goldenen Schmiede hat kürzlich SUSANNE KÖBELE Konrads stilistisches Experimentieren analysiert und auf ein „Gottfried-Idiom“ zurückgeführt.585 Dabei geht es um die Dialektik von rhetorischer Virtuosität und Unverfügbarkeit des Inkarnations- Wunders; von Klangkunst und Metaphernkunst, die in einem Verhältnis von wechselnder Prioriät die Aufmerksamkeit des Rezipienten bald mehr auf die sprachlichen Präsenzeffekte, bald mehr auf die komplexe Sinnbildung richten. Die Beobachtungen zu metaphorischer Überblendung, zu Bildbrüchen und Zeitsprüngen, denen wir in der eben zitierten Prologpassage der Goldenen Schmiede begegneten, macht Köbele auch in Gottfrieds Sprachtechniken.586 Für beide, Gottfried wie Konrad, kann in dieser Hinsicht ein Programm der perspicuitas im Sinne von rhetorischer Klarheit und Eindeutigkeit nicht angesetzt werden.
Die literarhistorischen Verästelungen eines spezifisch ‚wilden‘ Stils hat seinerzeit schon MONECKE in den Blick genommen. Initial wirkt vor allem Wolfram von Eschenbach (wildiu maere, wilder vunt, wildiu wort).587 In die Wolfram- und Gottfried-Nach-folge stellt sich später Rudolf von Ems.588 Dieser konzipiert im Literaturexkurs vor dem 2. Buch des Alexander589 nach Gottfrieds Vorbild die deutsche Literaturgeschichte als Baum, mit Veldeke als Stamm und den folgenden drei Klassikern als Pfropfreisern, die sich dar ûf in mange wîs / vil spælîche zerleitet / und bluomen ûz gespreitet (V. 3120– 3122) hätten. Die Kunst eines jeden wird in einer Adjektivreihe charakterisiert: Hartmanns Dichtung sei sleht, süeze und guot (V. 3123). Das Reis Wolframs sei starc, in mange wîs gebogn, / wilde, guot und spæhe, / mit vremden sprüchen wæhe (V. 3130– 3132). Gottfried schließlich erhält den meisten Raum und die meisten Adjektive, mit denen er Hartmanns und Wolframs Qualitäten verbindet. Sein Reis sei spæhe guot wilde reht, / sîn süeziu bluot ebensleht / wæhe reine vollekomn usw. (V. 3143–3145). Dass er getihte krümbe slihten (V. 3164) könne, ist offensichtlich im Hinblick auf Wolfram gesagt. Zu Recht betont Monecke wie andere nach ihm, dass diese volkssprachliche Stilistik, wenn man sie so nennen darf, sich mit der lateinischen Tradition gerade nicht zur Deckung bringen lässt: „Etwas will sich zeigen, wovon die Schulpoetiken nicht wissen und wofür es keine Namen, keine leitenden Ideen gibt.“590
Wir versuchen dennoch, die Verpflichtung an die rhetorische Norm und die Absetzung von ihr genauer zu fassen. Bekanntlich hat das Prinzip der ‚Klarheit‘ seinen Platz unter den vier aretai tes lexeos, den virtutes elocutionis, die auf die Rhetorik des Aristoteles-Schülers Theophrast zurückgehen und mit Cicero und Quintilian in der lateinischen Tradition etabliert wurden.591 Sie übergreifen die sprachtechnischen Einzelverfahren der elocutio und deren systematische Einteilungen und sind offensichtlich als übergeordnete Prinzipien angesetzt. Die Gesichtspunkte der latinitas, des korrekten lateinischen Ausdrucks, und des aptum, der inneren Kohärenz bzw. des kommunikativ adäquaten Situationsbezuges,592 laufen beide auf die perspicuitas, die in der Prozesskultur erforderliche Klarheit der Rede, zu. Zwischen perspicuitas und ornatus aber besteht ein Antagonismus, den schon die Antike wahrnimmt und erörtert. Denn die Klarheit mit Einzelanweisungen wie der Wahl des eigentlichen, treffenden, eindeutigen Wortes, der Vermeidung von Metaphern, Archaismen, Neuprägungen, Ambiguitäten, einer zu komplizierten oder zu kurzen Syntax usw. läuft Gefahr, in Banalität und Abgedroschenheit abzugleiten und die Aufmerksamkeit des Zuhörers zu verlieren. Zwischen Klarheit und Redeschmuck muss eine Balance gefunden werden, die sich je nach Geschmack für mehr oder weniger Schmuckformen entscheidet.593
Eine schlichte, hinter dem Redeschmuck auf Eindeutigkeit zielende perspicuitas, wie sie vielleicht noch in der Charakterisierung von Hartmanns Leistung anklingt, dass er mit rede figieret / der âventiure meine (V. 4626 f.),594 wäre schon für Hartmann problematisch595 und hat vollends in Gottfrieds Sprachästhetik keinen Ort. Mit dem Wegfall der Prozess-Rhetorik im mittelalterlichen Kontext hat sie ohnehin längst ihre Funktion verloren. Sie kann nach unseren Überlegungen auch in Gottfrieds Kristall-Metapher nicht anvisiert sein. Die Gottfried-Forschung ist hier einem Phantombild aufgesessen. Der Kristall spielt in der mittelalterlichen Wahrnehmung wie auch andere Edelsteine eine das Licht modifizierende Rolle. Auch bei hoher Durchlässigkeit verändert und bricht er das Licht, er vergrößert und verzerrt das Wahrgenommene. Genau das erfolgt bei einer durchfärbten und durchzierten Sprache. Der Kristall funkelt und reflektiert wie auch das goldene Geschmeide, das im Schmelztiegel der Sprachkunst ze vremedem wunder (V. 4893) geformt wird. Wir haben also bei Gottfrieds Stilbeschreibung von einem Konzept auszugehen, das nicht nur Kompromisse schließt, sondern Polares zusammenbringt, Strategien, welche die rede durchliuhtec machent / als eine erwelte gimme (V. 4902 f.) mit Verfahren, die sie durchverwen und durchzieren (vgl. V. 4625). Ich nenne diese kristalline Qualität nicht ‚Klarheit‘, sondern ‚Transparenz‘ im Sinne von trans-parere, ‚durch etwas hindurch erscheinen‘. Während mit perspicuitas /‚Klarheit‘ der traditionelle Sachbezug mit einer durchschlagenden Wirkung angezielt ist, tritt hier die Funktion des Mediums stärker in den Vordergrund, das den Blick hindurch auf etwas anderes öffnet, aber auch spontan wirken und als solches wahrgenommen werden kann und dabei Sinnhaftes im Redeprozess erschließt.596
Bei dieser Verschiebung wird die rhetorische Tradition von den mittelalterlichen Theoriefeldern zur Ästhetik und zur semantischen Mehrschichtigkeit überlagert. Asmuth begründet das mittelalterliche Verschwinden der perspicuitas-Norm ausdrücklich mit dem zweiteren, dem Gewicht der schrifthermeneutischen und allegorischen Verfahren.597 Außerdem ist der Schönheits-Diskurs im Spiel, der seit Cicero neben der Proportion Lichthaftigkeit und Farbe als Definitionsmerkmale anführt.598 Ich werde jetzt diese geläufigen Theoriekontexte nicht in Gottfrieds Literaturexkurs einzeln aufweisen; sie sind dort als Subtexte allgegenwärtig, präsentieren sich aber wie das Rhetorische in der Form eines funkelnden Essays, der das schulmäßig Gelehrte abstreift und aus tradierten Materialien im überraschenden Wechsel der Facetten neue, komplexe Evidenzen stiftet. Ich möchte im Folgenden aber noch auf drei poetologische Felder eingehen, die sich sachlich dem Transparenzprinzip anlagern und namentlich in Gottfrieds Literaturreflexion Akzente setzen.
1. Gottfrieds Wirkungsästhetik: Auffällig ist bei Gottfrieds stilistischen Ausführungen der große Anteil der Wirkungs-Kalküle. Die stilistischen Devisen kommen letzten Endes in der Kommunikation zum Tragen. GERT HÜBNER hat diese Grundorientierung der älteren Rhetorik und ihren Unterschied zur modernen mimetischen oder antimimetischen Ästhetik im Zusammenhang mit dem evidentia-Prinzip herausgestellt.599 Von den Kristallwörtchen heißt es, dass sie so rein, wie sie sind, iemer müezen sîn (V. 4630). si koment den man mit siten an, / si tuont sich nâhen zuo dem man / und liebent rehtem muote (V. 4631–4633). Positiv besetzt wird so ein publikumsfreundliches, ansprechendes, geradezu einschmeichelndes Sprechen, das in ruhiger Affektlage rezipiert werden soll. Seine Wirkung soll wertend wahrgenommen und von einem kunstkritischen Konsens bestätigt werden. Der insinuierende Vermittlungsmodus findet sich auch bei der Konzipierung von Schönheit, die sich nicht durch Reiz und grelle Effekte, nicht durch den Verstoß gegen Erwartungen aufdrängen soll. Eine glatte Oberfläche soll die affektiv ausgeglichene Rezeptionshaltung garantieren.600 In diesem Punkt, nicht in der Verwendung des ornatus, zieht Gottfried eine klare Trennlinie zwischen dem positiven Entwurf und seinem Gegenstück. Das deckt sich mit der Charakterisierung seines Romanpublikums, das auf Übereinstimmung mit den inhaltlichen Grundwerten des Romans vorverpflichtet und zu einer empathischen Grundeinstellung eingeladen wird.
Die Frontlinie zum negativen Gegenbild verläuft also weniger in den sprachlichen Techniken selbst: Zwar werden der hasenhaft sprunghafte Stil verspottet und eine Reihe von Sprachqualitäten propagiert bzw. abgelehnt, aber das ästhetische Urteil ist zunächst Verhandlungssache. Die Entgleisungen einer abgelehnten Kunstpraxis werden ausführlich im Raum der Wirkung als Rezeptionsphänomene angeprangert. Der oder die schlechten Dichter bernt uns mit dem stocke schate usw. (V. 4673). Keine reinen Sonnenstrahlen, sondern üppig grünender Schatten sind angenehm, auch mit diesen Bildern stellt sich der Text gegen eine ungefilterte Lichthaftigkeit. Die Verfahren der Gegenseite sind nicht grundsätzlich und per se obskur. Vor allem kritisiert werden die Gaukelkünste im Jahrmarktstil, die Unverständige zu täuschen vermögen; oder an anderer Stelle eine Kommentarbedürftigkeit, die nur durch fragwürdiges Wissen in magischen Quellen (in den swarzen buochen, V. 4690) zu befriedigen wäre. Nun werden dem Kristall in der Tradition auch zwielichtig-mantische Funktionen nachgesagt,601 und Gottfried siedelt am Ursprung der reinen Inspirationsquelle Feen mit ihren Zauberkräften an. Das Magisch-Numinose erscheint so aus dem Sprachwerdungsprozess nicht prinzipiell verbannt, und das attackierte Gegnerbild bewegt sich weitgehend von sprachlichen Oberflächenphänomenen weg in die Richtung auf ästhetische Wirkungen und auf die prekäre Vermittlung von Wahrheitswerten zu. Dieser Akzent gilt gerade für das Wildheits-Merkmal, wenn es in der Gegner-Beschreibung gehäuft auftritt,602 wobei das Kostbare, Fremde, Exotische durchaus positiv konnotiert sein kann.
2. Metaphorische Interferenzen: Es geht also um die im transparenten Medium erfahrbaren Wahrheiten, aber diese zeichnen sich nur verschwommen ab. Der Literaturexkurs übernimmt keine traditionellen Systematiken. Er etabliert seine Einteilungen nicht über abstrakte Termini und nicht über geschlossene Abschnitte (Die Dichterparagraphen können als solche nicht gelten.). Es sind vielmehr Metaphern, die sich gruppieren und einerseits Felder von Äquivalenzen, andererseits die Grenzlinien zwischen Oppositionen zeichnen. Da ist die Sprache im Zeichen von Kristall und anderen Edelsteinen, von Gold, von herabströmendem Licht oder Wasser;603 Festes wechselt mit Flüssigem usw. Das überlappt sich zum Teil mit dem Wildheits-Diskurs auf der Gegenseite, wo aber die Konfrontation mit dem Publikum gesucht wird, nicht eine Strategie der Vereinnahmung.
Nachdem die Zusammenhänge durch Metaphern gestiftet werden, wird man nicht umhin können, deren textweite Vernetzung zur Kenntnis zu nehmen (Anders Scholz, der die kristallinen wortelin, die erweltiu gimme und das Kristallbett der Minnegrotte säuberlich auseinanderhalten möchte.604). In Konrads Goldener Schmiede haben wir die ständige Versetzung der Metaphorik zwischen Objektbezug und Reflexivität beobachtet. Die Bilder für Maria mit ihren zahlreichen Überlappungen und Kontrasten treiben, wie auch Köbele betont,605 nicht nur die labyrinthische, begrifflich unabschließbare Gedankenfolge des Gedichts voran, sondern setzen dabei auch ständig mariologisches Thema und Kunstreflexion in Relation.
Entsprechend gilt bereits für Gottfrieds Stilreflexion, dass ihre Metaphorik der Minnemetaphorik homolog gebaut ist. Die sprachlichen Verfahren spiegeln das zentrale Thema des Romans. Das kristallene Minnebett der Grotte hat der Künstler aus dem Edelstein konform dem Namen der Höhle geschnitten, es bedeutet Reinheit. Zahlreiche Proprietäten des Weißen, Glatten, Lichthaften charakterisieren die Höhle und symbolisieren die Minnetugenden. Vom goldgetriebenen, edelsteinbesetzten Kunstwerk des Schlusssteins strahlt das Idealbild der exemplarisch Liebenden nieder und zieht die Betrachter nach oben, nicht nur in ihren Blicken, sondern ihrer veritablen Minneexistenz. Die Grotte ist als Kunstwerk ein Abbild des Kosmos und zugleich des mikrokosmischen Herzinnenraums,606 sie ist der fiktionale Raum des Autors Gottfried von Straßburg und auch ein Bild seines Romans. In FRANZISKA WESSELS Studie zur Minnemetaphorik des Tristan kann man zur Vernetzung der Lichtmetaphorik nachlesen. Lichthaftigkeit bestimmt die Portraits der blonden Isolde wie die Beschreibung Tristans als Ritter, der zum Morold-Kampf aufbricht. Licht und Farben evozieren hier nicht nur die Qualitäten des Schönen, sondern auch des Exotischen, des Gefährlichen und Gefährdeten. Licht und Glanz werden ambivalent besetzt.607
3. Täuschende Transparenz und ästhetische Lüge: Die Ambivalenz des Schönen und die ethische Gespaltenheit des Liebesideals durchziehen als dominante Züge die Liebesgeschichte von Tristan und Isolde. Die Ambivalenz des Kunstwerks, das ästhetischen Genuss und Wirklichkeitsflucht anbietet, gestaltet eindringlich die Petitcreiu-Episode. Der Verlust sprachlicher Transparenz, des Sinnes hinter den Worten, zieht sich als roter Faden bis zur Weißhand-Episode und zu Tristans Verwirrung an der Bruchstelle des Fragments. Wie ist der sprachästhetische Entwurf des Literaturexkurses seinerseits davon betroffen? Scholz und viele andere weisen darauf hin, dass der immense reflektierende Aufwand des Triptychons mit Dichterschau, Inspirationsbitte und mythologischer Rüstungsschmiede, mit dem auf die Defizienzerfahrung eines verbum tritum reagiert wird, ins Leere läuft und kein Ergebnis für die Beschreibung von Tristans Differenzqualität im Vergleich mit den Gefährten seiner Schwertleite bringt.608 Tristan wird gleich eingekleidet wie sie, aber das braucht nicht mehr beschrieben zu werden. Es ist daran zu erinnern, dass Differenzästhetik auch das christliche Konzept einer negativen Theologie prägt. Gott und das Inkarnationsgeheimnis sind sprachlich nicht adäquat zu fassen, müssen aber im unzulänglichen Spiegel der Dinge permanent als Unbeschreibbares beschrieben werden. Die differente und exzeptionelle Qualität der Protagonisten Tristan und Isolde und ihrer Minne entziehen sich einsinniger Darstellung, aber Gottfried verfasst zu diesem Thema einen Roman.
So ist der kristalline Stil nicht in der Alternative von rhetorischer perspicuitas oder obscuritas zu fassen. Er bringt das Andere zur Erscheinung, aber er entzieht es damit auch der Eindeutigkeit. Wieweit vergleichbare Modelle ‚transparenten‘ Sprechens außer bei Gottfried und Konrad auch in anderen literarhistorischen Kontexten des Mittelalters – namentlich im Lateinischen und Französischen – ausgebildet werden und Felder jenseits der traditionellen rhetorischen perspicuitas aufbauen, die laut Asmuth im Mittelalter keine Konjunktur hat, ist in dieser Skizze nicht weiter zu verfolgen.