Poetik im Diskurs der musica in Konrads von WürzburgGoldener Schmiede
Führt die Frage nach einer Verbindung von poetologischer Selbstreflexion und stilistischer Formgebung in mittelalterlicher Dichtung auch auf die Suche nach den (lateinischen) Theoriefeldern, vor deren Hintergrund die Literatur ihre Ästhetik und Artifizialität entfaltet und reflektiert, so möchte mein Beitrag spezifisch nach der Rolle mittelalterlicher Musikanschauung in diesem Kontext fragen. Denn im Rückgriff auf die Systematisierung der Künste bei Martianus Capella, der die Dichtkunst der Musik zuordnet, erscheint Dichtung auch als ein Inbegriff der musica humana.705 Musik aber, die Musikalität dichterischer Sprache, spielt im Werk Konrads von Würzburg eine herausgehobene Rolle, auch in der Dichtung, die seine Sprachkunst in besonderer Weise vor Augen führt, seinem Marienlob.706
Die Goldene Schmiede Konrads ist in letzter Zeit mehrfach auf ihr poetologisches Konzept hin befragt worden.707 Sah die ältere Forschung in ihr vielfach das Dokument eines in seiner Kunstfertigkeit in höchstem Maße selbstbewussten Autors, kehrt sich dieser Blick in neueren Arbeiten um. So beschreibt MIREILLE SCHNYDER Konrads Poetik als eine „Poetik der Unzulänglichkeit“: In aller Kunstfertigkeit kann es Konrad nicht gelingen, Maria angemessen zu loben. Seine Dichtung mündet in das formvollendete Vorführen ihrer eigenen Begrenztheit und eröffnet genau darin eine Rhetorik,
„mit deren Hilfe die Grenzen des Realisierbaren überschritten werden können, ohne dass sie verletzt werden“.708 Ich möchte dies um eine weitere Beobachtung ergänzen. Das Ich der Goldenen Schmiede, das mit dem irrealen Wunsch einsetzt,
Ei künde ich wol enmitten
in mines herzen smitten
getihte uz golde smelzen (V. 1–3),
um damit der himelkeiserin (V. 6) ein Lob, durliuhtec unde glanz zu schmieden (V. 8 f.), ist keineswegs der Einzige in diesem Text, der Maria zu loben ansetzt.709 Auch die Gesamtheit der Engel, der engel samenunge (V. 233), singt ihr Lob. Was hier zunächst noch wie ein mehrstimmiges Nebeneinander erscheint, wird zuletzt in eine Opposition überführt. Denn Konrads Marienlob schließt mit einer Umschreibung der Todesstunde Jesu mit allen Zeichen, die dieses Ereignis im biblischen Text begleiten:
diu sunne erlasch unt wart vil sal,
ein umbehanc der reiz enzwei,
diu erde erbidemt unde schrei
den starken unverdienten tot.
sus schrie ich, frouwe, durch die not
zuo dir für al die cristenheit:
la sines todes bitterkeit
an uns werden niht verlorn,
sit er dich selbe hat erkorn,
für alle creatiure.
bring uns mit diner stiure
für die heren trinitat,
da lop des endes niht enhat
von süezem engelschalle. (V. 1986–1999)
Die Gegenüberstellung eines dichterischen Selbst, das in seiner Todesangst nicht nur in den wortlosen Schrei der bebenden Erde einstimmt, sondern zugleich den Vers des Psalmisten assoziiert – „Aus tiefer Not schrei ich zu Dir“ (Ps. 130, De profundis) – mit dem überzeitlichen Gesang der Engel, unterstreicht nicht allein die Unzulänglichkeit dichterischer Rhetorik gegenüber Maria. Aufschlussreich erscheint mir zudem, dass Konrad durchaus das Gelingen eines solchen Lobes imaginiert und ihm einen spezifischen Ort zuweist: das Paradies mit dem dort erklingenden Gesang der Engel. Das Bild der sich aufbäumenden Naturgewalten wird überführt in eine poetologische Reflexion, in deren Kern auch die Frage nach den Möglichkeiten von Gelingen und Scheitern von Dichtkunst steht und damit die Frage nach der göttlichen Inspiriertheit des Dichters, dem nichts als der Psalm bleibt, während der Engel den Hymnus intoniert.
Damit markiert Konrad zugleich eine Differenz zwischen dem himmlischen und dem irdischen Gesang, wie sie auch in der lateinischen gelehrten Tradition präsent ist. Denn vielfach, etwa bei Origenes und Clemens von Alexandria, so führt REINHOLD HAMMERSTEIN aus, werden die „Hymnen als Engelsgesang, die Psalmen als Menschengesang verstanden“.710 Neben dem Gloria und dem Alleluia, so zeigt Oliver Huck, gilt gerade das Sanctus als Lobpreisung der Engel und ihrer neunfachen himmlischen Hierarchie.711 Entsprechend wird in „den Tropen-Texten […] der Sanctus-Gesang häufig als ‚hymnus angelicus ‘ gedeutet, in dem die himmlischen Chöre und die Sänger auf Erden im Lobgesang vereint sind“.712
Das himmlische Sanctus ist insbesondere durch seinen nie verklingenden Wechselgesang charakterisiert, durch das sine fine, una voce und alter ad alterum, mit dem der englische Gesang die Zeitlosigkeit des Schöpfungswortes auf seine Weise abzubilden vermag.713 Sprache kennzeichnet Augustinus im IV. Buch seiner Confessiones als eine klangliche Bewegung.714 So wie die schönen Dinge nur im Werden und Vergehen existieren,
so vollwirklicht auch unser Reden sich in tönenden Zeichen [signa sonantia]. Denn nie ergäbe sich ein Ganzes von Rede, wenn nicht das eine Wort, sobald es seine Rolle verlauten ließ, ent- schwände, damit ihm ein anderes folge.715
Genau das aber bezeichnet die grundlegende Differenz zwischen der menschlichen und der göttlichen Sprache, denn Gottes Schöpfungswort verklingt gerade nicht, wie Augustinus im XI. Buch der Confessiones betont. Gegenüber der menschlichen Stimme, die in der Abfolge ihrer Silben klingt und verklingt, vollzieht sich Gottes Schöpfungswort nicht im ‚Nacheinander‘ der verklingenden Silben, sondern ‚zugleich und immerwährend‘ und damit außerhalb der Begriffe von Zeit, Wandel und Bewegung.716 Doch auch der nie verklingende Wechselgesang der Engel – da lop des endes niht enhat (V. 1998), wie Konrad sagt – findet einen Modus der Darstellung von Zeitlosigkeit innerhalb der Bewegung und korrespondiert darin dem schweigend-zeit-losen Schöpfungswort Gottes. Im Gegensatz dazu steht das menschliche Tönen, das nicht nur innerhalb der geschaffenen Zeit erklingt, sondern das Augustinus geradezu als Hilfsmittel zu ihrer Messung heranzieht. Denn die Länge und Kürze der gesungenen Silbe kann, so argumentiert Augustinus, in Verbindung mit dem Erinnerungsvermögen zum Maß für die Zeit werden.717 Das Beispiel, das Augustinus hier wählt, um die Zeiterfahrung zu erläutern, ist nichts anderes als Gesang, denn er nennt einen ambrosianischen Hymnus (Deus, creator omnium), den er früher bereits in De musica analysiert hat.718
Musik, insbesondere der Blick auf die musica coelestis, steht damit am Ende der Dichtung Konrads, als Zielpunkt oder Ideal des Marienlobs. Musik steht aber auch an ihrem Anfang. Konrad beginnt im Konjunktiv, der, so SCHNYDER, „die Aufgabe der Dichtung definiert, die Möglichkeit, die in der Realität nicht erreicht wird“.719
Ei künde ich wol enmitten
in mines herzen smitten
getihte uz golde smelzen,
und liehten sin gevelzen
von karfunkel schone drin
dir, hohiu himelkeiserin!
so wolte ich diner wirde ganz
ein lop durliuhtec unde glanz
daruz vil harte gerne smiden. (V. 1–9)
Konrad setzt mit dem Wunsch ein, seine Dichtkunst gleichsam als ein Schmuckstück aus glänzendem Gold zu verfertigen, in dem der leuchtende sin wie ein Karfunkel erstrahlt. Seine Dichtung soll nicht allein schön sein, sondern eine feinsinnig gestaltete, glänzende Fassung für den sin darstellen.720 Vor allem die in der Dichtung vermittelte Wahrheit also soll erstrahlen, und so bindet Konrad die ästhetische Dimension kunstvoller Dichtung an die Möglichkeit zur Erkenntnis.721 Über die Lichtmetaphorik klingt auch hier, wie nicht zuletzt in Gottfrieds Tristan und im Entwurf idealer Poesie in der Medea-Episode in Konrads Trojanerkrieg, das Ideal einer Dichtung an, die nicht nur Wort und Klang, sondern auch Glanz in sich vereint und damit auf die synästhetische Dimension vollendeter Dichtkunst zielt, wie sie gleichfalls der Musik zugeschrieben wird. CHRISTIAN KADEN hat diesen Zusammenhang einer vielfältigen, alle Sinne umschließenden Musik beschrieben.722
Doch warum verwendet Konrad hier nun ausgerechnet das Bild einer Schmiedewerkstatt für sein poetisches Verfahren, grenzt er sich doch andernorts, der Prolog zum Trojanerkrieg zeigt dies deutlich,723 so vehement davon ab, seine Kunst als ein Handwerk verstehen zu wollen? Hier indessen beschreibt der Dichter, wie BEATE KELLNER ausführt, sich selbst als einen Goldschmied, „dessen Körper sowohl als das Material wie auch als das Werkzeug des Schmiedens aufgefasst wird“, so dass seine Dichtung, die im Innersten des Herzens entsteht, den Körper über Wort und Klang der Sprache verlässt.724 Konrad führt fort:
nu bin ich an der künste liden
so meisterliche niht bereit,
daz ich nach diner werdekeit
der zungen hamer künne slahen. (V. 10–13)
Die Nennung der Künste, die ihm nicht so meisterlich zu Gebote stehen, wie er es sich wünscht, lenkt den Blick auf die septem artes liberales. Die Sieben freien Künste zu beherrschen, ist als Voraussetzung gelingender Dichtkunst formuliert. Und wie im Trojanerkrieg, räumt der Dichter eine Schwäche ein, die es ihm – in der Metaphorik der Goldenen Schmiede – unmöglich macht, seiner Zungen Hämmer so zu schlagen, dass es der Würde seines Gegenstandes, Maria, angemessen wäre.
JOHANNES KIBELKA hat gezeigt, dass das Bild der Schmiedewerkstatt für die Dichtung in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters auf eine lange Tradition zurückweist.725 Doch auch in den musiktheoretischen Traktaten des Mittelalters besitzt die Schmiedewerkstatt ein prominentes Vorbild. Denn die Schmiedewerkstatt gehört auch zur Ursprungslegende der Musik, wie sie Boethius im ersten Buch von De insti tutione musica entwickelt.726 Es ist Pythagoras, der aus dem harmonischen Klang, den die verschiedenen Hammerschläge in einer Schmiedewerkstatt erzeugen, die grundlegenden Gesetze der Musik findet. Durch Zufall an einer Schmiede vorbeigehend, hört Pythagoras die Intervalle, die durch das Hämmern der Schmiedegesellen hervorgerufen werden. Er lässt die Gesellen die Hämmer tauschen, doch es zeigt sich, dass nicht die Kraft, mit der die Schläge ausgeführt werden, sondern die unterschiedlichen Gewichtsverhältnisse der Hämmer den reinen Klang harmonischer Intervalle verursachen. Durch Auswiegen der Hämmer kann Pythagoras den verschiedenen Konsonanzen jeweils ein festes Zahlenverhältnis zuordnen und entdeckt so das zahlenmäßige Fundament aller Konsonanzen und Konkordanzen: den Halbton, den Ganzton, die kleine und große Terz, die Quarte, die Quinte und die Oktave.727
Johannes de Grocheo, dessen um 1300 entstandener Traktat De Musica als ein Text gelten kann, der das musikalische Wissen der Zeit zusammenträgt, referiert die Pythagoras-Legende nun in der Weise, dass sie nicht allein die musica als zahlhafte Wissenschaft des Quadriviums begründet, sondern ihr zugleich einen Bezug zur Transzendenz einschreibt:728
Wie Boetius erzählt, wurde jener gleichsam von göttlichem Geiste zu einer Werkstatt von Schmie den geführt. Als er dort von den Hammerschlägen her eine wunderbare Harmonie hörte, trat er zu ihnen hin und ließ die Hämmer in den Händen der Schläger auswechseln.729
Göttliche Eingebung lenkt die Schritte des Pythagoras, und den harmonischen Klängen eignet über jedes Zahlenspiel hinaus etwas Wunderbares, wie es explizit im Text heißt.730 So steht im Zentrum der Ursprungserzählung nicht allein die handwerk liche Kunst, sondern zugleich ihre Wirkung, das Vermögen also, mittels einer solchen Kunstfertigkeit eine wunderbare Harmonie zu erzeugen und so eine Öffnung zur Transzendenz zu erwirken. Zugleich aber bedarf es eines Beobachters, dem die Klänge der Schmiedehämmer – mit göttlicher Fügung – grundlegende Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten der musica eröffnen: über ihre Harmonien und Proportionen, die sich zugleich in der kosmischen Ordnung wiederfinden und so auf diese verweisen. Gesetzmäßigkeiten also, die, wie MAX HAAS beschreibt, Gott „der Natur eingeschaffen“ hat, und die der Beobachter entdecken, niemals aber erschaffen kann.731 ELLINORE FLADT weist die aristotelische Tradition dieses Ansatzes nach, nach dem die Konsonanzen als ein Werk der Schöpfung Gottes ausgewiesen sind, so dass der Mensch die Gesetzmäßigkeiten der harmonischen Klänge, die schon immer Teil der Natur waren, finden, nicht aber erfinden kann.732
Theorie und Praxis stehen damit im Bild der Schmiedewerkstatt unmittelbar nebeneinander: der Schmied vertritt die Poiesis als ein Herstellungswissen, wie es auch zu den artes mechanicae gehört. Die Rolle des Beobachters hingegen verdeutlicht, dass zur ars musica zugleich ein theoretischer Bezirk gehört, der „das Erwägen musikalischer Prinzipien“ umfasst.733
Lassen sich nun auch die Anfangsverse der Goldenen Schmiede auf die Schmiede des Pythagoras beziehen, so wäre mit der Selbstvergewisserung des Dichters über seinen Wunsch, Maria mit dem rechten Hammerschlag seiner Zunge ein Lob zu schmieden, zugleich die Aitiologie der Musik aufgerufen, als deren Untergattung, wie Martianus Capella darlegt, sich die Poesie selbst begreift. Musik – mit ihrer poetischen wie mit ihrer erkenntnisvermittelnden Seite – steht damit auch am Anfang der Goldenen Schmiede und so erscheint Konrads Dichtung gerahmt von Reflexionen auf Musik.
Doch ist zu differenzieren: Die Prologverse spielen auf die Kunst der Musik an, die als ars des Quadriviums Theorie und Praxis, Erkenntnisfähigkeit und Vortragskunst in sich vereint. Sie beziehen sich damit auf eine Musik der Harmonien und Proportionen, die als musica humana oder mundana zu bezeichnen wäre,734 und damit auf Musik als die Kunst, die mit ihrer Unterteilung in die Stofflehre, die Lehre von der kompositorischen Anwendung und die Vortragslehre, wie Martianus Capella gliedert, mit ihrer reflexiven und performativen Seite also, triviales und quadriviales Wissen in sich vereint.735 Damit ist nicht allein gemeint, dass die Kunst der Musik nur derjenige beherrscht, dem es gelingt, das Wissen um die musikalischen Zusammenhänge zu reflektieren, es in seine Komposition einfließen und diese erklingen zu lassen.736 Die Sonderstellung der Musik im Zusammenspiel der Sieben freien Künste beschreibt Max Haas als grundlegender.737 Denn mit dem ihr eingeschriebenen Zusammenhang von theoretischem und praktischem Wissen enthält die musica in ihrem Kern zugleich all das, was das Wissenssystem der septem artes liberales insgesamt ausmacht: das Zusammenspiel von einerseits Wissen und andererseits dem Vermögen, dieses Wissen zur Sprache zu bringen. Musik kann als diejenige Kunst gelten, die das Ineinandergreifen der zahlhaften und der sprachbezogenen Künste paradigmatisch abbildet. Orpheus und Eurydike sind die Figuren, die dieses Zusammenspiel verkörpern.738
In den letzten Versen der Goldenen Schmiede dagegen rückt die musica coelestis ins Zentrum der Betrachtung: die Musik der Engel, die Gott ohne Unterlass und immer schon, also zeitenthoben, loben und denen das mühelos gelingt, was Konrad erstrebt und woran er trotz aller Kunstfertigkeit zu scheitern fürchtet. Damit ist zugleich eine wesentliche Differenz zwischen dem englischen und dem menschlichen Lob benannt. Gott zu loben ist etwas, was dem Engel immer schon angehört als Teil seines Wesens. Der Mensch hingegen, insbesondere der Dichter, so verdeutlicht der Rahmen der Goldenen Schmiede, sucht ein solches Vermögen zu entfalten auf der Grundlage seiner Kunstfertigkeit und seiner Erkenntnisfähigkeit. So sieht der Dichter Konrads im Bild der Schmiede sich selbst nicht in der Rolle des Beobachters, sondern in der Rolle dessen, der mit Hilfe der Schmiedehämmer ein Schmuckstück fertigt, mit dem er den liehten sin (V. 4) wie einen karfunkel (V. 5) auf kunstvolle Weise einzufassen und ihn damit ‚zum Strahlen zu bringen‘ versucht. Entsprechend bezeichnet er sein dichterisches Vorbild Gottfried als houbetsmit (V. 98). Das Hervorbringen des Sinnes gelingt nur mittels einer angemessenen dichterischen Sprache, die die harmonisch vollkommenen Intervalle auf ihre Weise zum Klingen bringt. Wie der gelehrte cantorseinen Gesang nach den Gesetzen der musikalischen Harmonie zusammenfügt – ars componendi und ars cantandi bilden eine Einheit, wie KARLHEINZ SCHLAGER gezeigt hat – so bedarf auch die Dichtkunst der rhetorischen und kompositorischen Fertigkeiten des Dichters.739 Die Musik bildet ein Referenzsystem, sie stellt Regeln bereit, nach denen auch zu dichten sei. Damit legt Konrad der Goldenen Schmiede ein Dichtungskonzept zugrunde, das sich – mit Blick auf die Aitiologie der Musik bei Boethius – an der theoretischen Fundierung der Musik wie zugleich an ihrer Kompositionskunst orientiert – und das doch zugleich der Gnade Mariens bedarf: ich wil uf diner gnaden phede / setzen miner sinne fuoz (V. 128 f.).
Den herausragenden Rang der Musik unter allen Künsten betont Johannes de Grocheo in seiner Vorrede zu De musica mit einem etwas anders gelagerten Argument. Ihr vor allem komme das Vermögen zu, Gott unmittelbar zu loben: „Darin übertrifft sie auch die anderen artes, dass sie unmittelbarer und gänzlich zum Lobe und Ruhme des Schöpfers angeordnet ist“,740 so übersetzt ELLINORE FLADT.
Doch mit der Betonung der Sprache verdeutlicht Konrad auch den Gegensatz zwischen seiner Kunst und dem Gesang der Engel. Denn die Engel mögen zwar im jubilus mitunter auch wortlos singen – insbesondere singen sie dem Menschen nicht hörbar –, der Dichter aber benötigt die Sprache, um Maria zu loben.741 Anders als Maria, die in den Himmel emporgehoben wird, um dort zu hören, ob die türteltuben/ ir stimme lazen hœren (V. 220 f.), schwingt sich im Bild des Adlerfluges nicht der Dichter selbst auf, sondern allein seine Sprache:
ob iemer uf ze berge flüge
min rede alsam ein adelar,
din lob enkünde ich niemer gar
mit sprüchen überhœhen,
sus kan din wirde enphlœhen
so verre sich den sinnen min,
daz ich den hohen eren din
niemer mac genahen. (V. 16–23)
Ein vergebliches Bemühen wie den Diamant mit Blei oder das Elfenbein mit Gras zu durchbohren, erscheint Konrad noch eher durchführbar, als dass er Marias wirde (V. 36) mit tiefer rede vinde [n] (V. 37 f.), mit worten übergiude [n] (V. 43) oder ihr Lob biz an den grunt erkirne [n] (V. 47) könne. Konrad fokussiert damit immer wieder auf Sprache. Nicht das Marienlob selbst steht im Zentrum seiner poetologischen Überlegungen, sondern die Suche nach einer Sprache, die einem solchen Lob angemessen sein könnte.
So eröffnet die Metaphorik des Adlerfluges eine Bildlichkeit des Raumes in der Weise, dass sie ein Moment von Distanz veranschaulicht. Die Überwindung der Distanz von Immanenz und Transzendenz gelingt mittels der Inkarnation, wie in der Goldenen Schmiede vielfach im Bild des Panthersprungs eingespielt ist, dem Menschen aber, und spezifisch dem Dichter, ist ein solcher Sprung verweigert. Er kann dem Adlerjungen gleich den Blick zur Sonne richten, seine Worte aber können sie nicht erreichen. Im Zentrum der poetologischen Reflexion steht damit eine dichterische Sprache, die sich selbst gleichsam ‚aufschwingen‘ soll zur Berührung nicht einer Transzendenz, wohl aber des englischen Gesangs. Ein ursprünglich theologisch fundiertes Aufstiegsmodell erscheint damit hier in eines der Sprache überführt.
Wie aber könnte eine dem Engelsgesang adäquate poetische Sprache geformt sein? Nimmt man die Sprachkunst der Goldenen Schmiede in den Blick, so fällt zunächst ihre vielfache und vielschichtige Bildlichkeit auf, mit der die Spannung zwischen Transzendenz und Immanenz metaphorisch ausgedeutet wird. Zugleich scheint es in Konrads Absicht zu liegen, so KARL BERTAU, „möglichst viele, wenn nicht alle bisher auf Maria angewendeten Bilder und Gleichnisse zu verarbeiten“, so dass die Goldene Schmiede den ‚enzyklopädischen Summen‘ ihrer Zeit gleicht.742
SUSANNE KÖBELE hat diese Sprachkunst zuletzt in einer präzisen Analyse als einen Wechsel von Klangsemantik und Metaphernreihung beschrieben und dabei gezeigt, in welcher Weise die besondere Dynamik des Marienlobs – im Zusammenspiel der Bildfeldwechsel und Reimbrechungen – auf Konrads spezifischer Verbindung von „Klangkunst und Metaphernkunst“ fußt: „Von Verspaar zu Verspaar in szeniert Konrad ein Aufmerksamkeitsgefälle zwischen der Kohärenzbildung durch Reime und der Kohärenzbildung durch Bilder.“743 So werden in den folgenden, auch von ihr zitierten Versen, Fließ- und Lichtmetaphorik allein über den Reim miteinander verknüpft:
swie gar der wilde siticus
grüen als ein gras erliuhte,
er wirt doch selten fiuhte
von regen noch von touwe (V. 1850–1853).
Die Klang-Sinn-Interaktion ist, wie Köbele zeigt, noch dadurch gesteigert, „dass Syntax und Reimspannung nie gleichzeitig zur Ruhe kommen“. So lässt sich die Textbewegung vor allem als ein Schwingen bezeichnen, das, in der „je wechselnden Priorität von Sinn und Klang“, wesentlich und sinntragend zu sein scheint.744 Diese Beobachtung möchte ich versuchen weiterzuentwickeln mit der Frage, ob dieses Schwingen möglicherweise auf eine Kompositionskunst verweist, die zu verorten wäre in der Nähe einer ars componendi vel cantandi. Denn auch für die Musik ist der Begriff der Bewegung konstitutiv. So definiert Augustinus im ersten Buch von De musica Musik als ars bene modulandi et movendi.745 Guido d’Arezzo, so zeigt KARLHEINZ SCHLAGER, führt im Micrologus aus, dass Musik nichts anderes sei als Bewegung, denn Melodie entstehe allein aus dem Schreiten von Klang zu Klang.746 Johannes de Grocheo betont in der Vorrede zu seinem Traktat De musica, die Kenntnis der Musik sei „für diejenigen notwendig, welche eine Vollständige Kenntnis von dem Bewegenden und dem Bewegten haben wollen“.747 Vom frühen Mittelalter an, so zeigt FRITZ RECKOW, wird Musik „als Bewegung beschrieben, als processus, ein Ablauf von einem Anfang hin zu einem Ziel“. Das heißt jedoch nicht nur, dass jede Musik ein Ereignis ist, das Zeit in sich enthält, sondern auch in dem Sinne, so Reckow, „dass eine Komposition bewusst als Ablauf in der Zeit konzipiert und ausgeführt sein kann“.748
Bewegung bestimmt auch das poetische Grundmuster der Goldenen Schmiede. Der stete Bildfeldwechsel erzeugt eine Textbewegung von großer Dynamik. Dennoch fehlt ihr das Ziel. Denn der Text verweigert sich zugleich jedem Erzählen.749 Stattdessen bewirken die Metaphernketten eine Gleichzeitigkeit von Bewegung und Stillstand und erzeugen damit ein Moment von Zeitlosigkeit, wie es dem himmlischen Gesang eignet, wenn die Engel beim Sanctus einerseits durchaus Silben erklingen und verklingen lassen, andererseits aber im sine fine ihres Wechselgesangs dafür sorgen, dass Anfang und Ende sich stetig überlagern. Insbesondere mit Blick auf die Schlussredaktionen der Goldenen Schmiede hat SUSANNE KÖBELE herausgearbeitet, dass Konrad darauf zielt, seine Dichtung nicht zum Ende kommen zu lassen, sondern dieses Ende aufzuhalten, zu verbreitern, zu verschieben.750 Es bleibt zu fragen, ob es ihm nicht genau darauf ankommt, in der zeitgebunden menschlichen Dichtersprache einen Weg zu finden, Ewigkeit abzubilden – auch mittels einer Metaphorik, deren vielfache Wiederholung und Variation die Dynamik eines Kanons spiegelt – als dem eigentlichen und einzig gültigen, irdischen Abbild des Engelsgesangs, wie OLIVER HUCK betont.751 Im sine fine seines Marienlobs läge so ein Verweis auf die Zeitlosigkeit, die der Engelsgesang in seiner nicht endenden Bewegung darstellt und die der Dichter abzubilden sucht. So durchzieht der Verweis auf das coelum Empyreum mit dem dort erklingenden Gesang den Text wie der Grundton einer Fuge. Neun Mal ist von den Chören der Engel die Rede – entsprechend der Neunzahl ihrer himmlischen Hierarchie.752
Doch Konrad geht es nicht allein darum, der harmonischen Vielstimmigkeit des Engelsgesangs eine weitere Stimme hinzuzufügen. Stattdessen tritt er zum Gesang der Engel in Konkurrenz:
durliuhtec und dursihtec
din lop vor allem prise vert,
wan ez vil manec zunge bert
in himel unde uf erden.
du solt gerüemet werden
von uns liuten allermeist.
wir sin für engelischen geist
gedrungen an der wirde. (V. 1034–1041)
So wie der Mensch mit der Aufnahme in den zehnten Engelschor die Würde der Engel noch übersteigt, wird auch der englische Gesang noch übertroffen von der Dichtkunst.753 Denn in ihrem Zusammenspiel von Klang und Sinn, in der Goldschmiedearbeit, die den Karfunkel umschließt, liegt zugleich ein hermeneutisches Potenzial. Was die Engel nicht erreichen können, denn din wunder ist so bodemlos / daz aller engel sinne / grundes niht darinne / kiesent noch erreichent (V. 560–563), ist der poetischen Sprache mit ihrer Zeichenhaftigkeit als Möglichkeit gegeben.
KARL BERTAU hat herausgearbeitet, dass von den Stellen, an denen der Dichter in der Goldenen Schmiede „ich“ sagt, die Masse der Belege zu zwei Formeln gehöre, „deren eine (ich geliche und ähnlich) ein poetisches Darstellungsverfahren und deren andere (ich meine) eine Form subjektiven Urteilens zu bezeichnen scheinen“.754 Der Dichter stellt sich selbst als denjenigen heraus, der die Bilder setzt, vergleicht und ausdeutet: swenn ich dann uz erkirne (V. 410), so prüeve ich (V. 414), ich gemerke ir underscheide (V. 412), ich zel (V. 816), ich maze (V. 599). „Das poetische Verfahren des Analog-Setzens scheint für Konrad zugleich Erkenntnis schaffend zu sein“ (S. 190 f.), so hebt BERTAU hervor. Doch liegt darin nicht, wie ich meine, das „Bewusstsein von beinahe selbstmächtiger, ja auserwählter Schöpferpotenz“ (S. 191), wie er Konrad vorhält. Denn alle Weisheit – und damit auch menschliche Erkenntnis, die kosmologische Ordnung vom Grund der Hölle bis zu den höchsten Himmelschören – gründet in Maria und ihrer ordnenden Kraft:
frouw aller kiusche ein überlast,
du bist diu frone wisheit
von der uns Salomon da seit
und alle die propheten.
die zirkel der planeten,
sunn unde manen bilde,
wind regen doner wilde,
wazzer fiur erd unde luft,
der himel kor, der helle gruft,
und alle creatiure
von diner helfe stiure
geschephet und gordent sint. (V. 688–699)
Maria erst schafft die Gesetzmäßigkeit der Sternenbewegung und ist damit Ursprung und erste Ursache auch der Musik, die sich mit der Harmonie der Sphären und ihrer Bewegung entfaltet.755 Auch Dichtkunst wirkt damit nicht aus sich selbst heraus, sondern untersteht der göttlichen Kraft.756 Kaum zufällig ist hier von der stiure die Rede, die Konrad auch für das Gelingen seiner Dichtkunst erbittet.
Für Dantes Divina Commedia hat GERHARD REGN die Minnedame Beatrice als „Ermöglichungsbedingung“757 für das Werk bezeichnet. Gleiches lässt sich hier für Maria sagen. Dennoch: Konrad widmet sich in der Goldenen Schmiede nicht allein Maria, sondern nicht minder dem Verhältnis des Dichters zu ihr. Sein Blick richtet sich auf die Sprache, auf die Möglichkeiten und Grenzen poetischen Sprechens – auch im Blick auf die Engel, denen das Lob Marias so mühelos gelingt, und er steht damit im Diskurs auch der mittelalterlichen musica. Doch Konrad will nicht in einen wortlosen jubilus einstimmen, sondern vielmehr die dichterische Sprache so formen, dass sie das englische sine fine mit ihren ureigenen Mitteln poetischen Sprechens abzubilden vermag. Damit richtet er seinen Blick auf die Mitte der Sprache selbst, auf den Bereich dichterischen Sprechens, der selbst Erkenntnis trägt.