Intertextualität und Traditionalität

Sarah Bowden

Zur Poetik des mehrsinnigen Verstehens

Der allegorische Stil der Hochzeit

Dieser Beitrag ist ein Versuch, den Stil des frühmittelhochdeutschen Gedichts Die Hochzeit zu beschreiben.896 Dabei soll es nicht um eine Erklärung des Stilprinzips oder um die Beschreibung einer Stiltheorie gehen,897 sondern um die Erläuterung der allegorischen Praxis eines einzelnen Gedichts.

Im Kontext dieses Beitrags gilt Stil als sprachliche Erscheinung, d. h. als eine besondere linguistische Ausdrucksweise.898 In diesem Sinne spricht man vom Stil eines besonderen Autors, einer Epoche, einer Bewegung oder einer Gattung.899 Die Forschung zur Stilfrage betont die Diskrepanzen zwischen Stildiskursen oder -theorien900 und den daraus resultierenden Kunstobjekten – eine Diskrepanz, die für das Verständnis und die Erläuterung von Texten und Phänomenen produktiv sein kann.901

Im Fall der Hochzeit ist es schwierig, den Text mit einem besonderen Personen-, Gruppenoder Epochenstil zu assoziieren. Erstens ist der Autor des Gedichts anonym, und ihm wird kein anderer Text zugeschrieben. Außerdem ist der funktionale Kontext des Gedichts zum Teil unklar (wie ich unten diskutieren werde), und die Epoche der frühmittelhochdeutschen Literatur, zu der das Gedicht gehört, ist wegen ihrer einlei tenden Position in der Geschichte der volkssprachigen Literatur divers und schwer zu kategorisieren.902 Das Gedicht steht aber zweifellos in der Mitte der Tradition einer Schreibweise, die sich auf mehrsinniges Verstehen richtet, d. h. die besondere linguistische Ausdrucksweise der Allegorie. Obwohl die Allegorie hauptsächlich als rhetorische Technik verstanden wird, die innerhalb verschiedener Stildiskurse eine persuasive, ästhetische oder didaktische Rolle spielt, bin ich mir bewusst, dass Allegorie auch als selbständige Sprachund Verstehensweise gelten kann. Es geht also hier um den allegorischen Stil der Hochzeit , d. h. um eine Beschreibung der Besonderheiten der Ausdrucksweise des Gedichts in Bezug auf die Theorie des mehrsinnigen Verstehens – der Dichter kennt sich gut in gelehrten, geistlichen Traditionen der Texterzeugung und Texterschließung aus – und die praktischen Innovationen, die hier vorliegen. Das Gedicht enthält keine neue oder radikale Theologie, kann aber durch die geschickte Kombination und Strukturierung traditioneller Elemente als ein stilistisch origineller Text gelten.903

Die Hochzeit wurde um 1160 geschrieben und wird nur in der sogenannten Millstätter Sammelhandschrift überliefert.904 Den Namen Die Hochzeit gab von KARAJAN dem Gedicht, da das zentrale spell die Brautwerbung eines Königs erzählt.905 Allerdings besteht nur ein relativ kleiner Teil des Gedichts (ungefähr 200 von 1089 Versen) aus diesem spell , während dessen Auslegung und der übrige Teil des Gedichts allgemeine – sogar alltägliche – theologische Themen behandelt. Die Hochzeit beinhaltet einen Prolog zum spell , auf den dann die Auslegung dieses spells folgt, die sich grob in zwei Abschnitte gliedert. Im ersten Abschnitt geht es hauptsächlich um die Themen Leben und Tod, im zweiten um Maria, Geburt und Leben Christi sowie Heilsgeschichte im Allgemeinen.906

Der Schwerpunkt bisheriger Forschung zur Hochzeit war das spell selbst, insbesondere seine Beziehung zum weltlichen Erzählmuster des Brautwerbungsschemas. Das spell folgt einigen sogenannten Handlungsfixpunkten des Schemas: ein König beschließt, sich eine Braut zu nehmen; die Brautwerbung wird durch die Notwendigkeit eines Erben motiviert; die erwünschte Braut ist allen anderen Frauen überlegen; ein Bote wird zur Braut geschickt; die Braut erhält einen Ring vom Bräutigam.907 Soweit wir wissen, gibt es keine direkte Quelle für das spell der Hochzeit , obwohl ähnliche Erzählungen sich in Prologen zu Hoheliedkommentaren finden, die im Allgemeinen auf die Parabel der königlichen Hochzeit (Mt 22,2–14) zurückgehen. Die engste Verbindung besteht zu der allegorischen Erzählung im Proömium zum Hoheliedkommentar des im Jahre 1183 verstorbenen Prämonstraten Philipp von Harvengt. Dieses kann aber nicht als direkte Quelle gelten.908

Es scheint daher, dass das spell von weltlichen und (zu dieser Zeit auch oralen) Erzählmustern der Brautwerbung beeinflusst wurde. Die ältere Forschung ging wegen der angeblich problematischen Verbindung säkulärer und geistlicher Aspekte im Gedicht von Interpolation aus und untersuchte auch die Beziehung zwischen diesem Gedicht und dem Gedicht Vom Rechte , das der Hochzeit in der Millstätter Handschrift vorangeht.909 Die jüngere Forschung bewertet die Hochzeit im Allgemeinen als kohärentes Kunstwerk, konzentriert sich aber noch immer auf das Brautwerbungsmuster. GANZ warnt in diesem Zusammenhang davor, die Grenzen zwischen geistlicher und weltlicher Literatur in dieser Zeit zu strikt zu ziehen, und weist darauf hin, dass das Gedicht „die Gleichzeitigkeit und das Ineinanderspielen geistlicher und weltlicher Dichtung wiedergibt“; die Verwendung des Brautwerbungsmotivs lasse vermuten, dass es als eine geistliche Kontrafaktur zu weltlicher Heldendichtung konzipiert worden sein könne.910 KUHN zeigt, dass das spell nicht als selbständig zu betrachten sei, sondern auf Auslegung angewiesen bleibe: „das spell füllt in die erzählte Brautwerbung so viele Stichworte für die folgende Auslegung, daß es kaum noch als erzählte Braut-Allegorie, geschweige denn als Brautwerbungs-Erzählung in sich verstanden werden kann“.911 AUCH GANTERT bemerkt die Fragmentation oder Unvollständigkeit des Brautwerbungsschemas und folgert, das Gedicht sei hauptsächlich ein Versuch, die Praxis der Allegorie einem Laienpublikum nahe zu bringen.912

Unabhängig davon, ob man das Brautwerbungsschema für ein normatives Erzählmuster hält, ist es wichtig festzuhalten, dass die Hochzeit keine selbständige Erzählung enthält.913 Stattdessen gibt es ein spell , das auf Auslegung angewiesen ist. Zweifellos wäre ein vom weltlichen Erzählmuster geprägtes spell einem laikalen Publikum vertrauter, aber eine Diskussion des Textstils muss sich auf die sozusagen ‚erfundene‘ Beschaffenheit des spells konzentrieren. Damit meine ich, dass das Gedicht nicht aus der Allegorese einer Bibelpassage, eines Stücks paganer Philosophie oder Literatur oder eines Teils der Liturgie besteht. Der Dichter ist nicht gezwungen, die Techniken der Allegorie zur Auslegung einer bereits existierenden problematischen Bibelpassage zu verwenden; stattdessen konstituiert er die Grundlage der Allegorese selbst. Mehrsinniges Verstehen entsteht hier durch Auswahl statt aus Notwendigkeit.

Eine solche Auswahlallegorie ist zwar grundsätzlich nicht ungewöhnlich, zu ihrer Entstehungszeit und im volkssprachigen Kontext stellt dieses Verfahren der Textgenese aber eine Ausnahme dar.914

Die klassische Rhetorik definiert Allegorie als eine Gruppe von Wörtern, deren wörtliche Bedeutung zu einer anderen Bedeutung führt: aliud dicit, aliud sentit .915 Verfahren und Terminus fanden dann auch Eingang in Theologie, Philosophie und Literatur des Mittelalters. Die Tradition der Bibelexegese, vom vierfachen Schriftsinn – d. h. eine Passage wird in vier Weisen gelesen: historisch (oder wörtlich), allegorisch (meistens als heilsgeschichtlich definiert), tropologisch (moralisch) und anagogisch (eschatologisch) – und der Allegorese der Philosophen und Dichter der Antike geprägt, verbreitete sich in andere Formen des Schreibens und sogar in andere artes , so dass man sagen kann, es gebe eine universelle gelehrte Sprache der Allegorie. Zweifellos wurde auch die volkssprachige Literatur von den Traditionen des mehrsinnigen Verstehens beeinflusst und nahm seine verschiedenen rhetorischen Techniken in Anspruch.916 Dabei gilt es, die Heterogenität allegorischer Schreibweisen ebenso zu berücksichtigen wie die Tatsache, dass sich in verschiedenen Kontexten GANZ ver schiedene Begriffe zu deren Bezeichnung ausgebildet haben.917 Auch innerhalb der verschiedenen Werke gab es keine terminologische Kontinuität.918

Auf der einen Seite stellt die Allegorie deshalb etwas Vielseitiges dar, das nicht generalisiert werden kann, auf der anderen Seite geht es aber um ein allgemeines Phänomen der gelehrten Tradition des 12. Jahrhunderts. Dieses Phänomen kann auch laut der Theorie des vox et res sprachlich verstanden werden, nach der das menschliche Wort mit einem geistigen Sinn belegt wird, wie OHLY erklärt:

Jedes mit einem Wortklang in die Sprache gerufene Ding, alle von Gott geschaffene Kreatur, die durch das Wort benannt wird, deutet weiter auf einen höheren Sinn, ist Zeichen von etwas Geistigem, hat eine significatio , eine be-zeichenunge , eine Be-deutung. Man unterscheidet also eine zweifache Bedeutung, einmal vom Wortklang zum Ding, von der vox zur res , und eine höhere, an das Ding gebundene, die vom Ding wieder auf ein Höheres weist.919

Allegorische Texte machen diese Idee explizit, indem sie den geistigen Sinn des Wortes mit Worten explizieren. In diesem Sinne können wir Allegorie als ästhetisches Stilprinzip verstehen, weil die Enthüllung der Wahrheit, die Offenbarung der verborgenen geistlichen Schönheit, selbst wesentlich schön ist.920 Auch in unserem Text wird der exegetische Prozess als Verzierung der Schönheit des geistlichen Sinnes verstanden, wie unten ausführlicher diskutiert wird.

Die Schönheit des allegorischen Wortes wird von HELLGARDT etwas anders erklärt. In einem Aufsatz zur Poetik der frühmittelhochdeutschen Literatur betont er (unter besonderer Berücksichtigung des vierten Buches der De Doctrina Christiana des Augustinus) die Bedeutung der poetischen Kraft der Allegorie, d. h. dass nicht nur die Wahrheitserkenntnis, sondern auch die poetische Wirkung der Allegorie von großer Bedeutung ist.921 Wenn es um die Allegorese eines wohlbekannten Textes geht, um einen Text, der eine standardisierte, ‚wahre‘ Bedeutung hat (wie etwa einige Bibelpassagen), wird die ästhetische Kraft der jeweiligen Allegorese umso wichtiger, denn nur durch diese Kraft wird der Allegorese ermöglicht, auf irgendeine Weise ‚neu‘ oder effektiv zu sein.

In der Hochzeit werden allegorische Techniken auf beeindruckende Weise verwendet, um die verborgene Schönheit des geistlichen Sinns zu enthüllen. Das Gedicht verwendet die Allegorie – wie von verschiedenen artes praedicatoria vorgeschlagen – vor allem um zu lehren. Indem es wohlbekannte Bibelpassagen, exempla , sogar ein bekanntes weltliches Erzählmuster nutzt, sichert es sich die Aufmerksamkeit des Publikums durch die Verwendung bekannter Modelle. Einige Zeichen werden dann explizit ausgelegt, und das Publikum wird auch dazu angeregt, selbst tiefere Verbindungen zu erkennen.922 Das Gedicht ist allerdings durch einen besonderen allegorischen Stil ausgezeichnet und übt dadurch eine poetische und auch eine didaktische Wirkung aus. Die Eigenschaften dieses Stils können auf folgende Weise kurz zusammengefasst werden: Es gibt Bilder innerhalb des spells , die explizit ausgelegt werden, mit den Worten daz bezeichent : das bedeutet dies, a ist b. Diese Auslegungen können dann zu tropologischen oder anagogischen Überlegungen führen. Es gibt aber auch weitere Bedeutungen, die nur angedeutet werden, insbesondere die, die sich auf die elementaren narrativen Komponenten des spells beziehen. Es gibt auch einige Bilder, Wörter oder Wortgruppen, die das GANZe Gedicht durchdringen, auch wenn die Situationen, in denen sie vorkommen, miteinander nur wenig zu tun haben. In diesem Sinne besteht eine bildliche Kohärenz, die eindeutige Zuordnungen auf assoziativ ästhetische Weise sprengt. Es gibt aber auch eine thematische Kohärenz, obwohl diese zum Teil schwer zu erkennen ist. In diesem Beitrag wird es zuerst um den assoziativen Aufbau des Gedichts im Bezug auf den Prolog und die verschiedenen Bilder des Goldes gehen. Im Anschluss daran werde ich die Auslegung des spells im Allgemeinen besprechen, die auf zwei Ebenen – explizit und implizit – aufgebaut wird.

I Assoziativität

Zu Beginn des Gedichts macht der Dichter seine Intention explizit:

Nu mugent ir horen zellen
von einem heren spelle
umbe einen chunich richen,
umbe manich schone zeichen,
da michil sin an stat.
gesach in got, der ez begat. (V. 1–6)

Das Gedicht präsentiert ein spell , das von einem mächtigen König erzählt und viele bedeutungsvolle Zeichen enthält. Diese Zeichen enthalten michil sin , d. h. nicht bloß einen literalen Sinn, sondern auch einen tieferen geistigen Sinn.923 Gott möge denjenigen segnen, der das spell und seine inhaltlichen Zeichen ausdeutet. Der Prozess des zeichen began setzt guoten list voraus, eine Fähigkeit, die mit der Kunst des Goldschmieds verglichen wird:

Swer diu zeichene wil began,
der sol guoten list haben,
also der smit vil guot
die wiere in daz golt tuot.
daz insigele er fur blat,
als erz gelernt hat,
deiz vil herlichen stat
unde niht zergat. (V. 7–14)

Bevor man etwas auslegen kann, muss man deshalb eine gute Theologiekenntnis besitzen. Solche Forderungen sind topisch.924 Doch hier erfüllt die sprachliche Form der Forderung zugleich die Funktion, die geforderten Voraussetzungen zu beweisen: Die elegante Goldschmiedeanalogie demonstriert die Übertragungsfähigkeit des Dichters, der die Zeichen innerhalb des spells auslegen wird. Die metaphorische Verbindung von ars ferraria und ars poetica ist seit der Antike bekannt und beruht wohl auf der Analogie technischen Vermögens, denn wie der Schmied lernt der Dichter empirisch gewonnene praecepta anzuwenden.925 Der Schmied bearbeitet das Metall, der Dichter die Sprache, und beide erschaffen das Gewünschte geschickt aus ihrem Material.926 Der Schmied stellt das Gold nicht selbst her, sondern bearbeitet einen schon existierenden, schönen Stoff, den er in diesem Fall zu einem insigele verarbeitet, das er mit wiere verziert (wiere bedeutet eingelegtes, eingegrabenes Gold).927 Der Exeget (der diu zeichene wil began ) wird mit dem Schmied verglichen, und der Prozess der Enthüllung der verhüllten Wahrheit der Zeichen kann so mit der Verzierung des Goldes assoziiert werden. In diesem Sinne wird nicht nur die Schönheit der verhüllten Wahrheit (des Goldes) hervorgehoben, sondern auch diejenige des exegetischen Prozesses (der wiere ).928

Auf diese Analogie folgt das erste Beispiel des assoziativen Stils der Hochzeit : Das ‚goldene‘ Bild des Schmieds geht in das Bild der mit Gold geschmückten Frau über. Zwischen den beiden Bildern besteht eine lexikalische Kontinuität (golt , wiere , ziere ):

Siu spannet fur ir bruste
daz ist geworht mit listen,
ain guldin gewiere,
daz ez ir lip ziere . (V. 21–24)

Beide Stellen teilen das gleiche Bild des eingegrabenen, durch Schmiedekunst geformten Goldes. Es besteht kein narrativer Zusammenhang, der es dem metaphorischen Schmied erlauben würde, sein metaphorisches Kleinod der metaphorischen Frau anzulegen: Die Verbindung dieser Bilder besteht lediglich auf einer assoziativ ästhetischen Ebene.929

Der Körper der Frau wird mit Gold geschmückt, doch sie verliert dieses Gold, wenn sie es in den Kehricht fallen lässt und nicht wiederfinden kann; es wird dann aus dem Haus gefegt. Das im Dreck begrabene Gold bezeichnet – an dieser Stelle tritt die Vokabel bezeichent (V. 47) erstmals im Gedicht auf – die Weisheit, die nicht mitgeteilt wird (V. 43–50). Der aus dem Haus gefegte Kehricht bezeichnet den weisen Mann selbst, der andere nicht lehrt, denn er wird in der selben Weise aus dem Himmel ausgeschlossen werden (V. 51–58). Es gibt also eine thematische Kontinuität zwischen den beiden Auslegungen des Goldes, da beide Weisheit und Lehre bezeichnen: Die wiere , die in der Schmiedmetapher den schönen exegetischen Prozess bedeutet, bezeichnet hier die Weisheit, die der Exeget besitzen muss, um diese Aufgabe zu unternehmen.

Die Parabel der Frau, die das Gold verliert, stammt aus Lk 15,8–10. Dort geht es um eine Frau, die einen Pfennig verliert, das GANZe Haus fegt und jubelt, als sie ihn endlich wiederfindet. Es geht dabei um Reue oder Buße, denn die Engel erfreuen sich an jedem reumütigen Sünder, der vom Christentum wiedergefunden wird.930 Die Verbindung mit Buße müssen wir im Kopf behalten, aber es geht im Moment lediglich darum zu zeigen, dass das Publikum diese Parabel wahrscheinlich aus Predigten kannte.931 Die Auslegung in der Hochzeit hat aber nichts mit Buße zu tun, denn das Gold wird nicht wiedergefunden. Stattdessen thematisiert das Gedicht den geläufigen Exordialtopos der Notwendigkeit der Mitteilung des Wissens.932 Das Bild der mit Gold geschmückten Frau kehrt aber wieder und nimmt dadurch eine wörtliche Bedeutung innerhalb des spells an, dass die Braut auch goldenen Schmuck trägt:

er watet si mit vlizze
in gewæte daz wi zze,
mit porten behangen,
mit guldinen spang en;
die guldinen wiere
fuort die maget here. (V. 279–284)

Wieder erscheint wiere , und die beiden mit Gold ausgeschmückten Frauenkörper ähneln sich, sie haben aber keine explizite Verbindung, denn das erste Bild ist schon ausgelegt worden, das zweite noch nicht. Letzteres spielt bis jetzt nur eine wörtliche und logisch konsistente Rolle innerhalb des spells , denn eine Beschreibung der Kleider der Braut erscheint nicht ungewöhnlich. Der Schmuck der Braut wird erst nach 400 Versen ausgelegt, nach einer Beschreibung dreier verschiedener Arten der Beichte: Kupferbeichte, Silberbeichte und die beste aller Beichten, die Goldbeichte. Das Thema der Beichte wird nach der einleitenden Metapher der Verjüngung des Adlers explizit angesprochen, die zuerst durch das Baden der Braut im spell und dann durch die Beichte ausgelegt wird.933 Es gibt hier also zwei Ebenen verhüllter Wahrheit, die eine wird durch die andere erklärt, und diese Verbindung führt schließlich zur Erkenntnis der Wahrheit. Soweit ich weiß, ist die Unterscheidung von Beichtarten, die man hier findet, ungewöhnlich:934 Die Kupferbeichte wird von demjenigen unternommen, der sein Leben weltlichem Vergnügen widmet und keine Opfer spendet, bis er im Sterbebett liegt und einem Priester endlich seine Sünden bekennt; die Silberbeichte ist die regelmäßige Beichte eines weltlichen Mannes, der regelmäßig Buße und Fasten verrichtet; aber zur Goldbeichte zu gehen heißt, Gott eine Sünde zu bekennen, sobald sie begangen worden ist, dem Priester mit Worten und Werken zu beichten und das GANZe Leben im Dienst Gottes zu verbringen. Nach dieser Erklärung kehren wir aber wieder zur goldenen Spange der Braut zurück:

diu bihte ist guldin;
daz lat die spangen sin,
die diu brout an ir hæte,
also schone an ir wæte . (V. 692–695)

Die zuvor nicht erklärte Spange der Braut wird jetzt ausgelegt. Diese Auslegung ist anders als die frühere Auslegung des von einer Frau getragenen Goldes im Prolog; eine assoziative Verbindung wird aber durch das Thema der Beichte geschaffen, denn das erste Bild stammt aus der Parabel über die Bedeutung der Buße. Eine solche Bild- fragmentation fällt auf und ist sehr kreativ. Es ist fraglich, ob das Publikum einen solchen Zusammenhang tatsächlich auch erkannte, aber diese Zusammenhänge können zweifellos gefunden werden.

Selbst wenn wir das verlorene Gold außer Acht lassen, ist es auffällig, dass das Bild einer mit Gold geschmückten Frau zweimal unterschiedlich ausgelegt wird. Es war durchaus üblich, dass einem Dingzeichen mehr als eine Bedeutung zugesprochen wurde, aber an dieser Ausprägung ist interessant, dass ein Bild – das Gold – das Gedicht durchdringt und sich mehrmals verwandelt.935 Die Beziehung zwischen den jeweiligen Auslegungen des Goldes und der wiere ist ebenfalls interessant. In der ersten Auslegung bezeichnet das Gold die verhüllte Wahrheit, die wiere den exegetischen Prozess. In der zweiten Auslegung bezeichnet das Gold die Beichte, die wiere das rehte riwen und die Liebe des Menschen für Gott. In beiden Fällen bezeichnet die wiere etwas, das in das Gold eingelassen wird, um es brauchbar oder schöner zu machen, aber die wiere ist auch immer selbst wertvoll.

Ähnliche Lektüremöglichkeiten ergeben sich auch bei anderen Bild- und Wort- gruppen, die das Gedicht durchziehen. Besonders prominent ist das Wortfeld des Lichtes bzw. des Glanzes. Andere Stichwörter sind reht und leren . Es gibt auch weniger stark akzentuierte Parallelen, z. B. zwei bildlich ähnliche Metaphern über Vögel (den Adler und den Pelikan) und zwei über einen Hund.936

II Explizite und implizite Auslegung

Nun werde ich die Auslegung des spells im Allgemeinen diskutieren.937 Wie bereits erwähnt, ist die GANZe Auslegung grob in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil geht es um das Leben und den Tod, wie der Mensch sich auf der Erde benehmen sollte, die Qualitäten des Menschen, die Macht Gottes über die Menschheit, das Letzte Gericht usw. Im zweiten Teil geht es eher um Heilsgeschichte, Maria und das Leben Christi. Spezifische Details des spells werden mit der Vokabel daz bezeichent ausgelegt,938 und solche expliziten Auslegungen folgen grundsätzlich dieser Strukturierung. Im ersten Abschnitt z. B. bezeichnet die michele huote um die Braut daz mennisch guot (V. 238), das dem Menschen dabei hilft, sich gegen den Teufel zu verteidigen, und die michel wirtschaft des Brautumzugs bezeichnet die mæren gotes chraft (V. 332), durch die Gott die Erde und den Himmel ordnet. Im zweiten Abschnitt bezeichnet das Strahlen der Braut als ein liehtir tagesterne die heilige maget , die noch glänzender als ein Engel leuchtet (V. 791–800). Die Leute, die während der Brautwerbung zu Hause bleiben, bezeichnen schließlich die Menschen der fünf Zeitalter in der Hölle, die auf die Himmelfahrt Christi warten (V. 807–812). Es gibt aber Überschneidungen: Im ersten Abschnitt (V. 339–358) soll die michelen ere (V. 347) daz wenige chint (V. 350) bezeichnen, daz vingerlin (V. 353) den westerhuot (V. 354), den er trägt, wenn er aufersteht (V. 339– 358), also implizit Christus.

Die expliziten Auslegungen führen zu einer Vielfalt von tropologischen Überlegungen, und die beiden Abschnitte enthalten einen längeren, selbständigen Exkurs: im ersten Abschnitt über die Erlösung der Menschheit und das Himmlische Jerusalem (V. 379–481)939 und im zweiten Abschnitt eine Zusammenfassung von Geburt und Leben Christi. Beide Exkurse sind also zum Teil anagogisch. Es gibt aber weitere Bedeutungen, die nur angedeutet werden, insbesondere die grundsätzlichen narrativen Komponenten des spells , z. B. die Bedeutung der Hochzeit selbst oder die Bedeutung des Königs. Es wird nie explizit gesagt, dass der König Gott bezeichnet, dass die Hochzeit die Vereinigung zwischen Gott (oder Christus) und dem Menschen oder zwischen Gott und Maria bezeichnet, oder dass die Vertreibung der untreuen Knechte des Königs in die apgrunde den Luzifersturz bezeichnet. Die Landschaft des spells , die aus einem hohen Gebirge, einem Tal und dem apgrunde besteht, bleibt auch unerklärt. GANZ konstatiert, dass die Bedeutung dieser Aspekte zu offensichtlich ist, um Auslegung zu verdienen, was möglich sein könnte.940 Aber unabhängig davon, ob man dieser Argumentation folgen möchte, spielt die Tatsache, dass diese Aspekte nicht explizit ausgelegt werden, eine zentrale Rolle beim Verständnis des Stils des Gedichts, da es bedeutet, dass es hier zwei Ebenen der Wahrheitserkenntnis gibt.

Es ist auffällig, dass die Bedeutung der unausgelegten Aspekte oft angedeutet wird: Die Braut wird auf eine Weise beschrieben, die an traditionelle Beschreibungen Marias erinnert (V. 196–207). Ihr Adel und ihre Schönheit werden erwähnt, und sie wird mit dem Tagesstern verglichen. Auch Maria wird später mit einer ähnlichen Vokabel beschrieben (V. 791–800), und das Strahlen der Braut sollte Maria bezeichnen, obwohl die Identität der zwei Figuren nicht explizit ins Spiel kommt. Die Geschichte der Vertreibung der untreuen Knechte des Königs wird am Ende des Gedichts wiederholt und mit dem Pelikan verglichen, der seine Jungen tötet. Dieses exemplum wird durch die Worte Da tet got als ein vogil tuot (V. 819) eingeführt, was andeutet, dass der Herr, der seine Knechte vertreibt, als Gott verstanden werden sollte. Der Luzifersturz wird dann später wörtlich erzählt, ohne Erwähnung des spells, aber in lexikalischer Verbindung dazu (z. B. apgrunde ; verswief [V. 1002–1017]). Die Brautwerbung selbst wird zuvor einmal explizit ausgelegt und soll den Heiligen Geist im Akt der Menschwerdung bezeichnen:

Daz der brout egom dar chom
unde die brout zuo im nam ,
daz bezeichent aller meist
den heiligen ge ist,
der in daz mennisch chumet. (V. 339–343)

Diese Auslegung besitzt aber keine besondere Bedeutung innerhalb des Gedichts und wird wie die Exegese kleinerer Details behandelt. Die Ausdeutung des spells funktioniert deshalb zweifellos auf zwei Ebenen. Einzelne Details werden explizit ausgelegt, und die Bedeutung von anderen – besonders denjenigen, die theologisch am wichtigsten sind oder eine zentrale Rolle bei der narrativen Konstruktion des spells spielen – wird nur angedeutet. Diese Methode der Auslegung hat eine besondere Wirkung. Die expliziten Auslegungen stimulieren den Leser oder den Hörer, über die Möglichkeiten der Exegese im Allgemeinen nachzudenken. D. h. er wird dazu eingeladen, eine Methode der Lektüre anzunehmen, dem zufolge a b bezeichnet. Er wird dazu eingeladen, Bildumsetzungen selbst zu schaffen. Eine solche aktive Lektüre wird auch durch die oben erwähnten Andeutungen gefördert – also durch die Details, die nicht explizit ausgelegt werden –, und der Rezipient will explizite Auslegungen für diese Andeutungen schaffen. Auch wenn die Bedeutung eines nicht explizit ausgelegten Aspekts des spells eine naheliegende sein könnte (z. B. der Herr als Gott), wird das Publikum dazu angeregt, sich aktiv zu engagieren, um diese Bedeutung zu finden.

Um die zwei Arten der Auslegung besser zu verstehen, kann die Diskussion Quintilians über Allegorie und Metapher hilfreich sein, nicht wegen ihrer Terminologie, sondern weil Quintilian zeigt, wie eine Allegorie aus Metaphern aufgebaut werden kann, d. h. aus kleineren Aussagen, die jeweils eine Art verhüllter Wahrheit darstellen. Laut Quintilian ist die Allegorie ein Tropus, in dem die wörtliche Bedeutung zu einer verschiedenen oder entgegengesetzten Bedeutung führt. Die Allegorie kann aus einer Reihe von Metaphern (translationibus ) bestehen, z. B. in der Carmina 1,14 von Horaz: quo navem pro re publica, fluctus et tempestates pro bellis civilibus, portum pro pace atque concordia dicit .941 So etwas kommt auch in der Hochzeit vor, da das spell aus einzelnen translationes aufgebaut wird – den Details, die explizit ausgelegt werden. Wir stoßen jedoch auf ein Problem: Bei den meisten Allegorien ist es der Fall, dass das GANZe eine allgemeine Kohärenz besitzt, dass die einzelnen translationes ein verständliches BedeutungsGANZes bilden. In der Hochzeit wird aber die Beziehung zwischen diesen translationes und der Bedeutung des GANZen zum Teil unklar, denn wir kennen die Bedeutung der goldenen Spange der Braut, aber nicht die Bedeutung der Brautwerbung oder des spells im Allgemeinen. Wenn nur die expliziten Auslegungen in Betracht gezogen werden, scheint es, als bestünde das Gedicht aus einer Reihe von oft unzusammenhängenden Objekten. Die Verbindung zwischen den einzelnen expliziten Auslegungen wird nicht explizit gemacht, diese selbst aber verweisen nur darauf. Die Kohärenz des GANZen muss man selbst herstellen, indem man die unausgelegten Details, die oben erwähnten Andeutungen, in Betracht zieht.

Die Kohärenz des GANZen scheint in der thematischen Gliederung der Auslegung zu bestehen, die ich schon mehrmals erwähnt habe. Im ersten Abschnitt geht es um Leben und Tod, also pauschal gesagt um die Beziehung zwischen Mensch und Gott, und im zweiten geht es um Maria und Christus. Der aktive Rezipient des Gedichts könnte daraus einen Zusammenhang zwischen der thematischen Gliederung und dem grundsätzlichen Inhalt des spells – der Hochzeit – herstellen und das GANZe darüber hinaus in Bezug auf das Hohelied interpretieren. Tatsächlich lässt diese angedeutete Auslegung des spells sich auf zwei der traditionellen Auslegungen der Hochzeit des Hohelieds beziehen. In der Hoheliedtheologie wird der Bräutigam normalerweise als eine der drei Personen der Trinität und die Braut entweder als die Kirche, die Seele oder Maria gesehen.942 In der Hochzeit kommt ecclesia nicht ins Spiel, aber die Auslegungen betreffen zuerst die Vereinigung zwischen Gott und dem Menschen, dann die Vereinigung zwischen Gott und Maria sowie die daraus entstehende Heilsgeschichte – wenn auch auf eine theologisch eher simple Weise.

In diesem Sinne könnte man die Funktion der Erzählung im spell auf zwei Weisen betrachten: Zum einen stellt sie ein leicht erkennbares weltliches Erzählmuster dar, das die Aufmerksamkeit eines Laien erregen könnte. Zum anderen fordert sie den gut ausgebildeten Theologiekenner dazu auf, nach tieferen Bedeutungen zu suchen und vielleicht sogar eine Verbindung zum Hohelied herzustellen.

Dieser implizite Hoheliedbezug setzt ein besonders gebildetes Publikum voraus. Es wurde oft gesagt, dass man das Hohelied erst lesen und auslegen dürfe, wenn man eine sehr hohe Ebene der Theologiekenntnis erreicht habe.943 Im 12. Jahrhundert war das Hohelied besonders beliebt, aber es gab nur eine deutsche Auslegung, das St. Trudperter Hohelied , das selbst von einer besonderen Komplexität ist und dessen theologischer Umfang viel größer als derjenige der Hochzeit ist.944 Für diesen Text nimmt man auch ein monastisches Publikum an, im Vergleich zum Großteil der frühmittelhochdeutschen Literatur (und der Hochzeit selbst), dem ein laikales Publikum zugeschrieben wird, d. h. ein Publikum, das zum größten Teil keine gute Theologieausbildung hatte. Im Fall der Hochzeit wird das Publikum aber implizit durch den oben beschriebenen allegorischen Stil dazu eingeladen, nach weiteren Bedeutungen und Verbindungen im Gedicht zu suchen, die durchaus größere Theologiekenntnis verlangen. Wichtig ist allerdings, dass das Gedicht auch dann verständlich bleibt, wenn man die tiefere Bedeutung nicht findet: Es liefert noch die expliziten Auslegungen und gelegentlichen Anweisungen, wie man in der Welt leben soll. Auf die Frage des Publikums kann ich an dieser Stelle nicht ausführlicher eingehen. Meine Untersuchung soll aber betonen, dass es hier nicht darum geht, theologische Komplexitäten für ein laikales Publikum zu vereinfachen und dass man ein gebildetes Publikum nicht ausschließen sollte. Außerdem ist es möglich, dass das Gedicht auf verschiedenen Ebenen von verschiedenen Rezipienten verstanden worden sein könnte.

Nun steht es noch aus, das Ende des Gedichts zu diskutieren. Dort kehrt der Dichter wieder explizit zum Thema Hochzeit zurück. Hier geht es um eine echte, historische Hochzeit, wenn Gott sich dazu entscheidet, die Menschheit zu erlösen und sich eine Braut, Maria, zu nehmen:

Ich sahe iu, wie erz an vie;
do er unsir erste genade gevie,
do hiez er e inen sinen trout
werven ein brout. (V. 879–882)

Trotz der konkreten Historizität dieser Hochzeit und des folgenden Exkurses über das Leben Christi wird sie auch nicht in explizite Verbindung mit der Hochzeit des spells oder derjenigen des Hohelieds gebracht. Die Geschichte des Lebens Christi führt zu einer weiteren, jetzt auch metaphorischen Hochzeit: die Hochzeit derjenigen, die durch Christus aus der Hölle befreit werden:

Daz was ein schoniu hervart,
da diu helle beroubet wart,
da got die sine chnehte
brahte zuo ir rehte,
ze siner broutloufte. (V. 1044–1048)

Diese Hochzeit ist die herrlichste, die je vollzogen wurde und ist auch eine ewige (V. 1062–1065). Sie überschreitet selbst die historischen Grenzen der Heilsgeschichte, denn:

Nu sint geistliche loute
gezalt ze der selben broute.
w …….. zu den geisten
wir solten sin meister ,
wan wir sin genant diu gesegenten chin t
unde ouf uns jene wartunde sint,
die vor uns dan sint genomen unde hin ze den gesegenten chomen:
die wartent uns unz an den suon tach. (V. 1066–1074)

Am Ende wird die zentrale Rolle der broutlouft explizit gemacht, wenn das Publikum selbst angeregt wird, an dieser Hochzeit teilzunehmen. In diesem Sinne ist es egal, ob der Hörer die GANZe Komplexität des Gedichts versteht, da die Quintessenz zum Schluss eine Ermahnung ist, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen und am Erlösungsakt zu partizipieren.