Stilfragen an Hugo von Montfort
Das literarische Werk des Grafen Hugo von Montfort ist, von wenigen Spezialfällen der Streuüberlieferung abgesehen, nur in der Form einer Autorsammlung erhalten: in einem sehr sorgfältig angelegten und kostbar ausgestatteten Pergament-Codex (cpg 329), den Hugo selbst auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere im Jahr 1414 oder 1415 hat herstellen lassen.1055 Zu den ersten Gelehrten, die im 19. Jahrhundert diesen außergewöhnlichen Codex seit seiner Rückführung nach Heidelberg wieder- entdeckten, gehörte GEORG GOTTFRIED GERVINUS, und in dessen Literaturgeschichtsschreibung erhielt Hugo von Montfort noch einen durchaus prominenten Platz. GERVINUS’ damals innovatives literarhistorisches Projekt zielte ja darauf, nicht mehr literarische Zeugnisse lediglich annalistisch aufzulisten und je für sich zu charakterisieren, sondern Entwicklungsprozesse der Literatur darzustellen – und zwar am Maßstab einer in der Lebenswirklichkeit verwurzelten, authentischen Artikulation einer nationalen Volkskultur. Hugos Texte platzierte GERVINUS dabei in einer spätmittelalterlichen Übergangsphase, in der die ritterliche Dichtung verfalle und sich stattdessen die ‚Volkspoesie‘ durchsetze.1056 Einerseits, so GERVINUS, eifere der Adlige Hugo zwar immer noch dem Jüngeren Titurelnach, jenem monumentalen Referenzwerk der spätmittelalterlichen deutschen Literatur, das sich GERVINUS’ Augen freilich bloß als„lichtlose[s] Ungethüm“ darbot.1057 Andererseits aber würden bei Hugo bereits „die unmittelbarsten Empfindungen unbefangener, wahrer Natur […] in herzlichen Worten bezeichnet zwischen die alten Ausdrücke der Ritterdichter“ treten. Ein „frischer gesunder Sinn“ dringe „lebhaft“ durch, der „auf die Einfalt des volksthümlichen Geschmacks überführt“.1058 Diese insgesamt positive Entwicklungstendenz unterstreicht GERVINUS durch die kontrastive Charakterisierung Oswalds von Wolkenstein, den er Hugo von Montfort als repräsentativen Antipoden für die spätmittelalterliche „Veränderung des lyrischen Gesangs“1059 zur Seite stellt: Hugos „frischer gesunder Sinn“ nämlich hebe sich erfreulich von Oswalds Liedern ab, die GERVINUS in der Mehrzahl als „durchweg verkünstelt, überladen und roh“ abtut.1060
Man konnte und kann das auch ganz anders sehen. Schon JOSEPH WACKERNELL, 1881 einer der ersten Herausgeber der Texte des cpg 329, warf GERVINUS vor, Hugo zu überschätzen.1061 WACKERNELL gab seiner Edition eine ausführliche Abhandlung über „Hugo’s Persönlichkeit, Stil und Charakter“ mit,1062 und darin kommt er zu einem sehr viel ungünstigeren Urteil als GERVINUS. Es sind dabei gar nicht so sehr Hugos Ausrutscher in den überladenen Stil1063 und die Nachahmung des Titurel, die ihn stören: Er attestiert ihm sogar eine maßvolle Abstinenz von den gröbsten epigonalen Manierismen. Gravierende Mängel erkennt er aber bei den ganz fundamentalen poetischen Kompetenzen: Der geordnete Gang der Darstellung werde fortwährend unmotiviert unterbrochen; die Texte seien geprägt von Verworrenheit und unmäßiger Breite, die Verse oft ungeschickt und leichtfertig zusammengeflickt. Überhaupt fehle es Hugo schlicht an „Beherrschung der Sprache“.1064
Was WACKERNELL beobachtet, behandelt er jedoch ebenso wie GERVINUS selbstverständlich als Stilphänomen im Sinne einer Notwendigkeit des Ausdrucks – nur eben nicht des Ausdrucks eines nationalen Wesens, sondern desjenigen einer individuellen Person. Allerdings will er dabei ausdrücklich Buffons emphatische Gleichsetzung von Mensch und Stil („le style est l’homme même“) relativieren, indem er nicht den ‚ganzen‘ Charakter des Autors aus stilistischen Merkmalen rekonstruiert, sondern sich, wie er sagt, in erster Linie auf biographische Daten und Selbstaussagen stützt und dann erst, komplementär dazu, auch stilistische Eigenschaften der Texte für ein Gesamtbild der Persönlichkeit Hugos mitberücksichtigt.1065 Natürlich gerät WACKERNELLS Darstellung dennoch – oder gerade deshalb – zu einem Musterbeispiel zirkulärer Interpretationsfiguren, die ein solcher Stilbegriff ermöglicht und abdeckt.
Damit haben sich Stilfragen an Hugo von Montfort aber nicht schon erledigt, ganz im Gegenteil. Man muss sie nur anders stellen. Immerhin dokumentiert der Codex doch die Intention seines Auftraggebers, ein Artefakt zu schaffen, das seiner Person repräsentativ zugerechnet werden kann und das zumindest materiell und visuell den Eindruck eines homogenen und kostbaren Ganzen machen soll. Es liegt zunächst nahe, dies nicht eigentlich einem ästhetischen Stilwillen zuzuschreiben, sondern adliger Selbststilisierung – eine pragmatische Repräsentationsfunktion, mit der sich notfalls die literaturhistorische Beachtung eines Werks rechtfertigen lässt, dessen ästhetische Defizienz bis heute mitunter für fraglos evident gehalten wird.1066 Dass gerade die flagrante Diskrepanz zwischen materiellen und textuellen Qualitäten ästhetisch signifikant sein könnte, ist dagegen bisher nur vereinzelt ernsthaft erwogen worden.1067 Von dieser Annahme gehen aber meine folgenden Beobachtungen aus. Sie richten sich nicht auf eine Revision der Urteile über Hugos Stil, sondern zielen auf den Symptomwert seines Werks für die Beobachtung einer sich im Spätmittelalter etablierenden Möglichkeit, überhaupt so etwas wie Stil im Sinne einer Ausdifferenzierung und verstärkten Selektivität poetischer Alternativen wahrnehmen zu können. Es geht also nicht darum, Stil als Eigen-Art eines Œuvres zu beschreiben, sondern vielmehr um die Frage, inwiefern sich in Hugos Texten ‚Stilwissen‘ als Reflexion poetischer Alternativität abzeichnet. Meine These ist: An Hugos Texten lässt sich eine Abschwächung des absoluten Geltungsanspruchs poetischer meisterschaft1068 und eine bewusst balancierte wechselweise Relativierung konträrer poetologischer Normhorizonte beobachten. Aus dieser Relativierung heraus konstituiert und legitimiert sich Hugos Dichten.
Im Schlussabschnitt des zweiten Textes der Handschrift, einer 144 Verse umfassenden narrativen Reimpaarrede,1069 beginnt das auktoriale Ich eine regelrechte Beschreibung des Schmucks von Turnierpferden und der dazugehörigen Schildwappen, bricht diese Blasonierung aber bald darauf ab: der silmen zal, der stunden zil sei nicht zu bewältigen (V. 132 f.); ein anderer müsste diese Aufgabe übernehmen – möglichst derjenige, der am besten über Wappen, aber auch über Gott reden könne, der weithin berühmte professionelle Hofdichter Peter Suchenwirt (V. 135–144). Gerade deskriptive Passagen konnten ja als Gelegenheit zur Demonstration poetischer Kunstfertigkeit verstanden werden, und dass sich daran die Berufung auf ein literarisches Voroder Gegenbild knüpft, kommt durchaus nicht unerwartet. Überraschend ist hingegen, dass nach dem Eingeständnis, die Kunst Suchenwirts nicht zu beherrschen, nicht nur die descriptio, sondern der Text überhaupt abbricht. Dieser Abbruch wirkt nicht zuletzt deshalb so frappant, weil mit ihm auch die in der Rede erzählte Geschichte unrettbar unabgeschlossen bleibt: Im ersten Vers nämlich wird dem Leser eine aventúr aus der Jugend des Autors angekündigt; danach beginnt die Schilderung seiner Minne zu einem sélig weib (V. 4). Er gesteht dieser Frau seine Liebe, leistet ihr über Jahr und Tag treuen Minnedienst und gelangt dabei an einen Hof, an dem sie sich gerade aufhält und wo sich außerdem adlige Herren zum Turnier versammelt haben. Die Pferde werden vorgeführt, die descriptio ihres Schmucks und die Suchenwirt-Reverenz folgen; dann endet der Text, und der Fortgang der angekündigten und anerzählten Minne-aventúre bleibt völlig offen.
Man kann diese auffällige narrative Partialität des zweiten Textes der Handschrift als performative Bestätigung des im letzten Vers eingestandenen poetischen Unvermögens verstehen: Das eigene Scheitern würde auf radikale Weise den hohen normativen Anspruch unterstreichen, der durch die Suchenwirt-Nennung angemeldet wird. Damit wäre aber deren textuelle Funktion und poetologische Bedeutung allzu einseitig wahrgenommen. So bleibt der narrative Zusammenhang des Minne-Sujets zwar prekär unabgeschlossen – eine sinnvolle paradigmatische Struktur ist jedoch durchaus zu erkennen. Dem Abbruch der Rede des erzählenden Ichs geht – genau in der Mitte der insgesamt 144 Verse – ein Abbruch der Rede des erzählten Ichs voraus. Mit seinem tadellos vorgetragenen Liebesgeständnis hat der Verehrer nämlich zunächst keinen Erfolg: Die Dame hält seine red für spott (V. 56 f.) und weist ihn brüsk ab. Als er daraufhin jedoch erschrickt, errötet und zu stottern beginnt (ich kónd doch das noch ditz / und stieß auch an den worten mín; V. 72 f.), erkennt die Dame an eben diesen Symptomen nun seinen ernst (V. 75) und akzeptiert seinen Minnedienst doch noch.
Mit dem konventionellen Motiv des minnebedingten Verstummens¹1070 wird hier der Gegensatz ausgespielt zwischen der klischeehaften, manipulierbaren und potentiell trügerischen sprachlichen Kommunikation einerseits und der unmittelbaren Evidenz einer nicht-sprachlichen Kommunikation durch Körperzeichen andererseits. Auf den ersten Blick scheint dies nicht viel mit der Thematisierung eines graduellen Ungenügens der poetischen Rede zu tun zu haben. Wenn man aber die Analogie der Rede-Abbrüche des erzählten und des erzählenden Ichs wahrnimmt, dann erscheint der Bezug auf Suchenwirt in einem etwas anderen Licht.1071 Wie immer die Charakterisierung von Suchenwirts Kunst in den letzten Versen des Textes genau zu verstehen ist,1072 welche textuellen und rhetorischen Aspekte also eigentlich angesprochen sind, wenn ihm attestiert wird, dass er dik mit red als nahe schírt, / man mocht es griffen mit der hand (V. 136 f.): zumindest ist doch klar, dass es – auch hier – um ein Ideal kommunikativer Evidenz als Grenzwert der Sprache geht. Nur wird im einen Fall die Mittelbarkeit der Rede durch die authentischeren Zeichen des Körpers ersetzt, im anderen Fall hingegen die Aussicht auf eine rhetorische Steigerung der Rede hin zu einer Unmittelbarkeit eröffnet – einer Unmittelbarkeit, die mit körperlicher Greifbarkeit verglichen werden kann.
Wenn auf diese Weise die Grenzen der Sprache zweifach bestimmt werden, dann relativiert sich jedenfalls der Abstand zwischen professioneller und amateurhafter Sprachkunst: Es wird vorstellbar, dass der von Suchenwirt betriebene rhetorische Aufwand der geblúmten wort (V. 143) eine trügerische Evidenz erzeugen könnte. Überdies gerät dieser Aufwand auch in ein ethisches Zwielicht, denn in der Szene des Liebesgeständnisses wird an den Gegensatz zwischen mittelbarer Sprachkommunikation und beglaubigender Unmittelbarkeit des Körperzeichens die Forderung nach der Einlösung des Liebesbekenntnisses durch entsprechende Taten geknüpft.1073 Damit wird die Unverbindlichkeit bloßer Worte im Gegensatz zum ethischen Wert der Werke auf ähnliche Weise akzentuiert, wie dies anderweitig bei Hugo auch im Kontext geistlicher Ermahnungen geschieht.1074
Noch ein weiteres Gegensatzpaar der Liebesgeständnisszene erhält besondere Signifikanz im paradigmatischen Bezug auf den Schluss des Textes: wie die Dame den ernst des Minne-Affekts dem spott der Worte gegenübersetzt, so auch der inneren Wahrheit des gewissens die Äußerlichkeit adliger Wappenzeichen (V. 64–66). Das mag in dieser Szene narrativ noch untermotiviert wirken; vom Ende her gesehen nährt es die Zweifel am Wert einer rhetorischen Kunstfertigkeit, die ja insbesondere zur Wappenbeschreibung eingesetzt wird – Zweifel, die auch dadurch aufkommen können, dass diese Kunstfertigkeit offenbar unterschiedslos auf Wappen wie auch auf Gott angewandt werden kann (V. 141). Die darin angedeutete Rhetorikkritik bestätigt sich im weiteren Verlauf der Lektüre durch wiederholte Variationen über die ineffabilitas Gottes, die beispielsweise schon im vierten Text mit den üblichen Topoi des höchstmöglichen, aber notwendig vergeblichen Aufwandes an Tinte, Papier und Schreibern, an gereimten Worten und tiefgründigen Gedanken umspielt wird.1075
Mit der verblüffenden narrativen Partialität des zweiten Textes der Sammlung wird prägnant ein auf mehrere Textebenen gefächertes Spektrum von stets neu variierten Figuren des Abbrechens und Verstummens eröffnet, durch das nicht nur allgemein sprachliche Kommunikation und rhetorische Kunst, sondern prägnant auch der Status der eigenen poetischen Rede von ihren Grenzen her bestimmt wird: Das auktoriale Ich stößt gewissermaßen immer wieder neu an den worten [s]ín. Grenzmarken bilden neben der Vollkommenheit Gottes und seiner Schöpfung1076 insbesondere die unbeschreibliche Schönheit und Tugendhaftigkeit der Minnedame,1077 aber auch – etwas abgeschwächt – die unausschöpfliche eigene Minnetreue.²1078 Sie kulminieren in mehrfach vorgetragenen ausdrücklichen Absagen an die Dichtkunst im Kontext der vanitas-Thematik und der Selbstermahnungen zu geistlicher Umkehr in der Aussicht auf Alter und Tod.1079 Allerdings wird der Geltungsanspruch dieser Absagen sowohl durch ihre Rekurrenz als auch durch das schiere Faktum der Verschriftlichung und Archivierung der Texte im aufwändig ausgestatteten Codex relativiert. Eine Priesterfigur, die in Text 31 dem träumenden Ich erscheint, tadelt dies explizit: warumb hást du es gehaissen schreiben an? / da mócht wol súnd von komen / baide von weib und auch von man (V. 29–31). Nach einem längeren Dialog mit dieser Priesterfigur scheint dem Ich dann, als ob es im Traum erkläre: herr, ich wil nicht me tichten (V. 106).1080 Wenn jedoch der unmittelbar folgende Text in der Handschrift mit dem trotzig-selbstbewussten Satz Hin wider heb ich tichten an (Nr. 32, S. 153, V. 1) beginnt – und Gott dafür um Beistand gebeten wird –, dann ist der Widerspruch auffällig ausgestellt. Bemerkenswert ist außerdem, dass die geistliche Begründung der Dichtungs-Absage hier unabgeglichen von einer pragmatisch-innerweltlichen Begründung begleitet wird: Zwar stimmt das träumende Ich dem Priester zu, der das Dichten als sündhaftdiesseitige Beschäftigung brandmarkt und dagegen die Hinwendung zu Jenseitigem fordert. Kurz darauf gibt es für seine poetische Enthaltsamkeit jedoch unvermittelt einen anderen Grund an: den politischen Handlungsdruck, der ihm durch die hert lóff […] in den landen (V. 118) entstehe.1081
Der durch den Namen Suchenwirts aufgerufene ideale Richtwert poetischer Meisterschaft wird also in Konkurrenz gebracht zum Postulat der Orientierung aufs Jenseits und daneben und zugleich zum Druck der politischen Praxis. Wichtig scheint mir dabei, dass Hugo offenbar keine Hierarchisierung dieser konkurrierenden diskursiven Koordinaten in Bezug auf sein Dichten anstrebt. Vielmehr relativieren sie sich, indem sie sich wechselseitig perspektivieren: Gemessen am poetischen Ideal der perfekten Metrik und der geblúmten wort bekennt Hugos auktoriales Ich das Scheitern seiner Rede.1082 Der Priester indessen, der das träumende Ich zur Umkehr aufruft, charakterisiert Hugos Dichtung gerade über geblúmte, wéhe wort und sílmen, reime clúg, also über deren hohe poetische Qualität, um daran ihre sündhafte Weltverfallenheit zu erweisen.1083
Hugos Texte bewegen sich insgesamt im Spannungsfeld dieser offenen diskursiven Konkurrenz zwischen Kunstmeisterschaft und geistlicher Orientierung. Dabei geht es weniger um Kippfiguren der Subversion von Geltungsansprüchen, sondern eher um ihre Abschwächung: Das geistliche Verdikt gegen Dichtung wird gegen den normativen Anspruch poetischer Meisterschaft in Anschlag gebracht. Zugleich jedoch wird es durch das Eingeständnis der eigenen poetischen Minderwertigkeit und durch die prätendierte Absage an die Dichtung, die scheinbar auf die geistlichen Vorhaltungen des Priesters reagiert, aber daneben auch explizit pragmatisch begründet wird, auf Distanz gehalten. Der Effekt dieser in den Texten selbst inszenierten diskursiven Konkurrenz könnte als einer der „gedämpften Normativität“ beschrieben werden – und damit würde im Textcorpus selbst eine der beiden Bedingungen hervorgebracht, die nach KARL-LUDWIG PFEIFFER jenen literarischen „Gestaltungsspielraum“ konturieren, an dem Stil als paradoxes Phänomen einer durch Unbestimmbarkeit ihres Ordnungsbezugs bestimmbaren Eigen-Art beobachtet werden kann.1084
Auch eine „labile Kohärenz“, PFEIFFERS zweite Bedingung für die Beobachtung von Stil als „Gestaltungsspielraum“,1085 ließe sich wohl für Hugos Œuvre plausibel machen. Argumente dafür könnte man im Grunde bereits den ausführlichen Untersuchungen des 19. Jahrhunderts entnehmen – wenn man die negativen Bewertungen der Befunde stilistischer Homogenität als Indizien für ästhetisches und gedankliches Mittelmaß oder für mangelnde Originalität abzieht.1086 Ohne hier weiter ins Detail gehen zu können, darf man wohl verallgemeinernd sagen, dass Hugos Texte sich in einem sehr übersichtlichen thematischen Spektrum bewegen und dass sein Inventar an Argumenten, Sentenzen, Motiven, Metaphern, narrativen Versatzstücken und auch etwa an Reimpaaren relativ beschränkt ist. Die Elemente dieses Inventars werden variierend wiederholt und rekombiniert, und diese Wiederholungsreihen durchziehen alle Texte derart, dass konventionelle formale Unterscheidungen – besonders auch solche zwischen Reimpaarrede, strophischer Großform, Liedform und Kanzone – zwar nicht aufgehoben, aber doch gelockert werden. Zugleich werden auch die syntagmatischen Grenzen zwischen den Einzeltexten entkräftet, textübergreifende Sinn-Bewegungen konturieren sich, und die syntagmatische Kontinuität des Gesamttextes der Sammlung wird gestärkt. Während Einzeltexte oft uneinheitlich und unabgeschlossen wirken, ergeben sich sinnvolle Zusammenhänge häufig in der Abfolge der Texte, wenn motivische oder gedankliche Fäden wieder aufgenommen, neu perspektiviert und weitergesponnen werden. Diese Wahrnehmbarkeit einer textübergreifenden Verdichtung wird außerdem von der hochwertigen einheitlichen Gestaltung der Handschrift noch unterstützt.
Neben Suchenwirt ruft Hugo von Montfort in den letzten Strophen des 15. Textes1087 auch den Titurel als literarischen Maßstab auf. Das auktoriale Ich gesteht dort zu, bei der metrischen Nachahmung des berühmten Vorbilds könne einiges schiefgelaufen sein, und evoziert dann wie zur Entschuldigung seines minderen Talents den Vergleich mit dem Kuckuck: ist daran icht zerrunnen / (die leng, die kúrtz oder hán ichts vergessen) / so singt der gauch / mit der nachtgall in dem maýen; / also ticht ich auch (V. 164–168). Ähnlich wie bei der Suchenwirt-Reverenz steht auch hier der metatextuelle Kommentar etwas unvermittelt am Ende eines Textes, der ganz anders begonnen hat: Eine einleitende Reminiszenz an das Tagelied-Motiv des morgendlichen Erwachens wird in der zweiten Strophe sofort auf die geistliche Sinnebene transponiert. Der Weckruf ist Anlass breit ausgeführter Mahnungen an die Vergänglichkeit aller diesseitigen Güter, die ausdrücklich durch die Welterfahrung des auktorialen Ichs autorisiert werden: Schönheit, Glück, Weisheit, Macht und Ehre ist nur zergankleich leben (V. 50). Der Tod rafft alles dahin. [R]itterschafft und frowen verleihen zwar ‚hohen Mut‘, aber auch dieser ist nicht von Dauer (V. 53–59). Vom Weckruf zur Umkehr wird dann der Bogen zum surgite (V. 128), zur Auferweckung der Toten am Jüngsten Tag geschlagen; es folgt ein Gebet an Gott und Maria und in Strophe XLII ein abschließender Segenswunsch an den imaginären Adressaten.
Die folgende Strophe setzt nun neu an mit dem Hinweis auf die Lektüre des Titurel: Das Ich erklärt die Strophenform seines Textes als Versuch, die Titurel-Strophe nachzubilden, und die nicht gänzlich gelungene Umsetzung des Versuchs wird dann in der letzten Strophe mittels des ungleichen Paars gauch und nachtgall illustriert. Dabei scheint die Zuordnung der Nachtigall zum positiven Vorbild idealer Formkunst und die des Kuckucks zur eigenen, im Verhältnis dazu defizitären Dichtung auf den ersten Blick klar. Generell fällt beim Durchmustern einschlägiger literarischer, musikalischer und musiktheoretischer Beispiele zunächst vor allem die Abwertung des eintönigen, kunstlosen, nervtötenden Kuckucksrufs gegenüber der variationsreichen, raffiniert kunstvollen und seelenerhebenden Melodik der Nachtigall ins Auge.1088 In der Fabelwelt immerhin bekommt der Kuckuck beim Wettsingen mit der Nachtigall den Preis zuerkannt – aber nur weil der Kunstrichter ein Esel ist.1089 Darüber hinaus ist das Renommée des Kuckucks auch anderer Eigenschaften wegen nicht das beste.1090 Eine Identifikation mit ihm scheint allenfalls im Gestus der modestia möglich: Konrad von Würzburg, der seine poetische Meisterschaft ja sonst lieber im Bild der Nachtigall reflektiert,1091 stellt sich in den Anfangspartien der Goldenen Schmiede als tore (V. 130) und künstelose[n] man (V. 137) dar, der dennoch in das Lob der Gottesmutter einstimmen will. Dementsprechend vergleicht Konrad sich hier ausnahmsweise einmal mit dem gouch (V. 131),
der in dem meien gugzet ouch,
so im diu liebe nahtegal
ze lobe dœnet überal
und in mit sange priset. (V. 132–135)1092
Bei Hugo von Montfort klingt das ähnlich, aber die Selbstreflexion ist hier etwas anders pointiert. Ich will das über einen kleinen Umweg plausibel machen: Um 1390, also zeitgenössisch zu Hugo, verfasst Sir John Clanvowe sein Boke of Cupide, einen minneredenartigen Text, in dem der Ich-Erzähler von einem Waldspaziergang im Mai berichtet.1093 An einem Bachlauf hört er dem vielstimmigen Vogelkonzert zu und schläft ein. Noch im Halbschlaf glaubt er einen Kuckuck zu hören, dessen misstönender Ruf ihn abstößt. Da ertönt die Melodie der Nachtigall, die ihn aufs Höchste erfreut. Träumend kommt es ihm vor, als ob er die Sprache der beiden Vögel verstehen könne, und er hört nun, wie sie miteinander streiten: Der Kuckuck behauptet, er singe mindestens ebenso gut wie die Nachtigall: Zwar könne er nicht so kunstvoll verzierte Töne hervorbringen; dafür sei sein Gesang aber einfach und wahr; jeder könne ihn verstehen. Die Botschaft der Nachtigall hingegen sei unverständlich: Was, so will der Kuckuck wissen, soll ihr Ruf ocy, ocy denn eigentlich bedeuten?1094 Die Nachtigall erklärt, sie meine damit, dass alle sterben sollen, die nicht für die Liebe leben und dem Liebesgott dienen wollen.1095 Ihr Gegner kontert, er wolle weder lieben noch sterben: Liebe ziehe Leid, Krankheit und Unglück nach sich. Dem hält die Nachtigall zunächst noch positive Effekte der Liebe entgegen, aber die hartnäckigen Vorwürfe des Kuckucks bringen sie alsbald aus der Fassung: Sie kann ihm nicht mehr antworten, sondern bricht in Tränen aus und betet zum Liebesgott um Rache.1096 Da wirft das Ich im Traum einen Stein nach dem Kuckuck, der davonfliegt, aber den Werfer zuvor noch als Papagei beschimpft. Die Nachtigall hingegen ist ihrem Helfer dankbar und verspricht, sie wolle den ganzen Mai für ihn singen. Gegen das große Leid, das ihm der Kuckuck zugefügt hat, empfiehlt sie das tägliche Suchen von Gänseblümchen. Dann singt sie ihm noch ein Lied und verabschiedet sich, um vor allen Vögeln des Tals Klage gegen den Kuckuck zu führen. Die Verhandlung der Angelegenheit wird allerdings auf ein parlement verschoben, das am Valentinstag stattfinden soll.1097 Durch den lauten Gesang der Nachtigall wird das Ich schließlich aus seinem Traum geweckt.
Der Triumph der Nachtigall ist nicht überraschend und die explizite Disqualifizierung des Kuckucks durch den Erzähler scheinbar unmissverständlich. Wer den Text genau liest, muss jedoch über ein paar Unebenheiten stolpern: So ist die Nachtigall nach den Regeln der disputatio eigentlich unterlegen, denn sie kann den Argumenten ihres Gegners am Ende nichts mehr erwidern.1098 Der Kuckuck wird also nicht durch Worte widerlegt, sondern durch Gewalt vertrieben – und eine brutal ausschließende Gewalt wird ja bereits in der Deutung des Nachtigallenrufs offenbar: Die freudenspendende Schönheit ihrer Stimme steht mit der durch sie artikulierten Botschaft – ocy, der französische Imperativ ‚töte‘ – in einem durchaus irritierenden Widerspruch.
Zwar scheint das klare Urteil des Erzählers die Axiologie des Textes zu stabilisieren, aber auch hier kann man relativierende Indizien wahrnehmen: Er ist nicht mehr jung, die Zeit der Liebe hat er längst hinter sich gelassen;1099 Cupido zu folgen, passt eigentlich nicht, jedenfalls nicht in positiver Weise, zu seinem Lebensalter. Die Parteinahme des Erzählers kann dadurch fragwürdig werden – insbesondere einem Leser, der etwa durch die Lektüre von Chaucers Geschichten darauf konditioniert ist, die vom Erzähler gebotenen Perspektivierungen nicht ohne weiteres dem auktorialen Standpunkt zuzurechnen.1100 Zieht man dies in Betracht, dann könnte die Erzählerrede tatsächlich als gedankenloses, papageienhaftes Nachplappern von Glaubenssätzen erkannt werden, deren Geltung nur dann unbestritten ist, wenn man von vornherein der Gefolgschaft des Liebesgottes angehört.
Der ganze Text gerät auf diese Weise ins Kippen;1101 die Argumente des Kuckucks erhalten Gewicht, und damit öffnet sich der Blick auf eine etwas weniger geläufige Deutungsalternative des Duetts von Kuckuck und Nachtigall. Ästhetische und ethische Wertungen konvergieren hier nicht, sondern sind invers verteilt: Die Kunstlosigkeit des Kuckucksrufs wird als positive Qualität der Schlichtheit, Wahrheit und Verständlichkeit aufgefasst, seine repetitive Monotonie als authentischer Ausdruck. Entsprechend gilt der variationsreiche, verzierte Nachtigallengesang demgegenüber als bloß erlernte, unechte, unmäßige und unverständliche Artifizialität. So gedeutet kann das Vogelduett etwa für eine moralische Kritik an Formen der höfischen Adelskultur und Minnedoktrin funktionalisiert werden.1102 Im 14. Jahrhundert kann mit ihm insbesondere auch gegen die neue polyphone Vokalmusik und für die gregorianische Monophonie argumentiert werden.1103
Bei Hugo von Montfort lässt sich eine ähnliche diskursive Kippfigur beobachten wie in John Clanvowes Boke of Cupide. Im Bild des Kuckucks kristallisiert sich bei Hugo nicht einfach eine im Verhältnis zum nachtigallenhaften Kunstideal bloß defizitär bestimmte poetologische Selbstreflexion; vielmehr spiegelt sich darin wider, was an einigen Stellen seines Werks als eigenwertige Qualität sprachlicher ‚Schlichtheit‘ zum Ausdruck kommt. Mitunter wird eine solche Qualität explizit angesprochen, beispielsweise in der 18. Strophe des dritten Textes, wo das Ich der Geliebten Anweisungen erteilt, die das Gelingen einer heimlichen schriftlichen Minnekommunikation gewährleisten sollen:
du la dir nieman tichten,
schreib aus deines hertzen grund!
slechte wort mít trúwen richten,
die tund mích sicher gesund. (V. 69–72)
Der mögliche Eindruck, dass Sprache hier zum transparenten Medium einer Affektübertragung von Herz zu Herz reduziert sein könnte, wird in der nächsten Strophe widerlegt: Um die ‚authentische‘ Qualität der slechte[n] wort zu erreichen, ist nämlich durchaus der Rat eines eingeweihten und vertrauenswürdigen Schreibers erlaubt.1104 Bei der Aufforderung, niemand für sich tichten zu lassen, geht es also nicht etwa darum, dass die Beteiligung eines Dritten an sich schon die intime Liebeskommunikation und ihre unmittelbare Affektwirkung verfälschen würde, sondern vielmehr um eine angemessene Art der Versprachlichung des Affekts. Sie ist offenbar nicht durch rhetorisch hochgezüchtetes tichten zu erreichen, erfordert aber durchaus sprachlichrhetorische Kompetenz. Anvisiert scheint damit also ein Wert sprachlicher ‚Schlichtheit‘, der nicht im bloßen Gegensatz zu bewusster Sprachgestaltung aufgefasst ist, sondern vielmehr einen bestimmten wählbaren Modus innerhalb des Spektrums sprachlich-rhetorischer Möglichkeiten darstellt.
Im Sinne dieses positiv konnotierten Gegenpols zur Artifizialität der aufwendig geblúmten wort kann sogar der Titurel seinen Vorbild-Status verlieren. So erklärt etwa in Text Nr. 18 das Ich seiner Minnedame: Wenn seine Lieder dem willen, den ich zú euch hán (V. 198), entsprächen, dann habe es nie ein besseres gticht (V. 199) gegeben, und selbst der Titurel könne daneben nicht bestehen (V. 200). Der positive Konnotationsraum der slechte[n] wort zeigt sich, wenn man die übrigen Rekurrenzen des Begriffs schleht / schliht bei Hugo betrachtet: Stets ist damit im religiösen Sinn die Einfachheit des Richtigen, der Gerechtigkeit und des geraden moralischen Wegs gemeint.1105
Nimmt Hugo also in diesem Sinne das Bild eines kunstlos, aber dafür ‚authentisch‘ dichtenden und moralisch gerechtfertigten Kuckucks für sich in Anspruch? Erklärt sich so der letzte Vers, der an das Motiv des Vogelduetts in Nr. 15 anschließt? Ist der Tanz des rechten raýen (V. 169) hier eine Metapher für die ethische Qualität von Hugos Dichten? Wäre demnach in der nachtgall die Exponentin einer sündhaft falschen poetischen Prachtentfaltung zu sehen? Mir scheint, dass es dem Autor auch hier nicht um strikte Antithetik und um eine subversive Kippfigur geht, sondern eben um eine wechselweise Abschwächung von Geltungsansprüchen, die ihm einen konstitutiven „Gestaltungsspielraum“ (PFEIFFER) öffnet.1106 Man kann das, glaube ich, sehen, wenn man in der Handschrift weiterliest, denn der nachfolgende Text Nr. 161107 nimmt die in der letzten Strophe von Nr. 15 mit dem Motiv des diskordanten Vogelduetts angestoßene poetologische Reflexivität auf und perspektiviert sie neu.
Die mit Maienzeit, Vogelgesang und Tanz evozierte weltliche Atmosphäre der letzten Strophe hebt sich ja auffällig von der ernsten geistlichen Thematik des übrigen Textes ab. Der erste Vers von Text Nr. 16 knüpft nun explizit mit dem Signalwort mayen tag daran an, und über die folgenden sieben Strophen wird in ihm zunächst ausführlich die Topik frühlingshafter Natur weiter ausgemalt: Vielstimmiger Vogelgesang wird mittels der Terminologie polyphoner Vokalmusik geschildert, und ausführlich werden Buntheit und Formenvielfalt der Blumen beschrieben. Das entspricht ganz offensichtlich nicht kuckuckshafter Schlichtheit, sondern eher dem mit der Nachtigall assoziierten Kunstideal der geblúmten wort. Ambivalenzsignale sind dabei kaum zu bemerken – abgesehen vielleicht vom letzten Vers der vierten Strophe, wo der Vogelgesang als ‚wildgeschmückt‘ charakterisiert wird (sein fleigen, das ist wilde; V. 16).
Es könnte allerdings sein, dass diese Strophen gar nicht dem auktorialen Ich selbst zuzurechnen sind, sondern gewissermaßen als Zitat zu verstehen wären, denn zu Beginn des Textes wird ein gsell (V. 1) eingeführt, der dem Ich eine botschaft (V. 3) übermittelt hat, eine red, die ist mit lust benent (V. 4). Für die folgenden Strophen könnte also eine andere Redeinstanz verantwortlich sein. Diese lässt sich allerdings kaum näher bestimmen; nicht einmal das männliche oder weibliche Geschlecht von gsell ist sicher zu entscheiden.1108 Und kaum deutlicher ist auch zu erkennen, wie weit die derart delegierte Rede eigentlich reichen würde: bis zum Schluss? Oder wechselt die Redeinstanz zuvor noch einmal? Immerhin meldet sich in der achten Strophe (V. 29) zum ersten Mal nach der ersten Strophe wieder ein Ich zu Wort, an das die Rede dann bis zum Textende gebunden bleibt, und zugleich findet hier eine markante argumentative Zäsur dadurch statt, dass dieses Ich nun den im ersten Abschnitt aufwendig entfalteten Zierrat entwertet: Aller vielstimmige Vogelgesang, so heißt es nun, muss hinter dem Klang einer Frauenstimme zurückstehen, und der Anblick weiblicher Schönheit ist aller Blütenpracht vorzuziehen. Ab Vers 33 setzt das Ich dann neu zur Beschreibung weiblicher Schönheit an. Die zuvor aufwendig ausgemalte Frühlingsatmosphäre wird dabei aber keineswegs, wie man vielleicht erwarten könnte, als Bühne genutzt, um etwa eine Minnebegegnung in Szene zu setzen, sondern sie bleibt als leere Kulisse zurück.
Es handelt sich dabei nicht um eine simple Überbietungsfigur: Akzentuiert ist – einmal mehr – die Reduktion rhetorischer Uneigentlichkeit zugunsten einer Annäherung der Rede an reale Körperlichkeit und Anwesenheit. Das rhetorische Niveau wird neu justiert: Die Wahrnehmung weiblicher Schönheit lässt die Wirkung von Vogelgesang und Blütenpracht hinter sich zurück, aber immerhin wird zu ihrer Beschreibung die gesamte Farbpalette aus der Blumenbeschreibung des ersten Abschnitts wiederverwertet.1109 Zum Aufwand an geblúmten worten wird also Distanz markiert – aber nicht im Modus der Negation, sondern in dem einer Gradation.
Zu Beginn der zwölften Strophe scheint dann kurz die Möglichkeit des radikalen Abbruchs der poetischen Rede vor einem geistlichen Normenhorizont auf: es mócht leicht sein, ich red ze vil – / meinr sel tét bas ain sweygen (V. 45 f.). Doch dieser Gedanke zieht nur eine weitere graduelle Verschiebung nach sich: nämlich von der Körperbeschreibung zu einem allgemeineren Lob der Frauen, die mehr als alle anderen irdischen creaturen den mút erhöhen können (V. 56–58). Auch in diesem Abschnitt kehrt ein Bildbereich der ersten Strophen wieder, nämlich derjenige der Musik; und auch hier ist eine Reduktion von Uneigentlichkeit zu konstatieren: Statt der metaphorischen Anwendung von Fachtermini der Vokalmusik auf Vogelgezwitscher wird nun die Klangwirkung von Musikinstrumenten im eigentlichen Sinn aufgerufen – allerdings nur, um samt Vogelgesang im Vergleich zur ethischen Wirkung der Frauen verworfen zu werden. Was der Text dabei paradigmatisch vorführt, sind nicht Frontstellungen, sondern Abstufungen im Spannungsfeld zwischen dem poetischen Ideal der geblúmten wort und moralisch gebotenem Verstummen.1110
Wenn man solche Textbeobachtungen auf das Bild von Kuckuck und Nachtigall beziehen darf, dann ist damit keine strikte Antithetik, sondern eine Polarität markiert, innerhalb derer sich Hugos poetische Rede immer wieder neu ausrichtet. Hugos auktoriale Position lässt sich also nicht einfach auf eine Identifikation mit dem Kuckuck (und auf die Distanz zur Nachtigall) festlegen.1111 Die Annäherung der poetisch defizienten Rede an das Wahre und Richtige einerseits, die Annäherung der kunstfertig gesteigerten Rede an Täuschung und Sünde andererseits sind besser als Extremwerte eines Spannungsfeldes zu verstehen, in dem Hugos poetische Rede sich konstituiert, indem sie sich immer wieder selbst relativiert und neu ausrichtet. Die absolut wahre und richtige Rede ist dabei als ebenso unerreichbar erkannt wie die absolut schöne. Wer Hugos Sammlung liest, kann die unstete Bewegung seiner poetischen Rede zwischen diesen Polen mitvollziehen. Sie entspricht dem prozessualen, nicht-systematischen Wissensmodus der Erfahrung:
wer merken wil der welt sin,
der vindt es in disem búch,
ietzunt her und denn hin;
der es gern wiss, der súch!
der vindet wandelbéren sin,
der es tút lesen. (V. 125–130)1112
Immerhin jedoch gibt es einen utopischen Ort, an dem die Konvergenz höchster Wahrheit und höchster Schönheit stattfinden könnte – das ist die Gralsburg: In dem mit 185 Strophen bei weitem längsten Text der Sammlung1113 gelangt das auktoriale Ich immerhin bis zur Pforte dieser Burg. Sein Weg beginnt in einem Wald, dessen Beschreibung als Maienszenerie stark an den ersten Teil von Nr. 16 erinnert: Vogelgesang wird mit Begriffen der Vokalmusik beschrieben, bunte Blumenpracht und zierliche Blattformen werden geschildert (V. 1–31).1114 In der Annäherung an die Gralsburg sind von dort zunächst Hornund Orgelklänge zu hören, die dem Ich wie Engelsmusik vorkommen und ausdrücklich dem vogel dónen vorgezogen werden (V. 65 f.). Vor dem Burgtor wird der Wanderer abgewiesen und führt von außerhalb Dialoge mit dem Torwächter und einem der Gralsherren. Schließlich gewährt eine der Gralsjungfrauen ihm einen kurzen Blick ins Innere der Burg. Er sieht den tag / auss firmamente glesten – und er hört die Stimme der Nachtigall, die hier bey den besten singt (V. 629–632).1115 Poetische Idealität besetzt offenbar denselben Ort wie moralische Idealität, einen – für das erzählte Ich jedenfalls – unerreichbar jenseitigen Ort allerdings. Hugo verschiebt den absoluten Geltungsanspruch des poetischen Ideals in die Transzendenz und beharrt selbst auf der Bindung seiner poetischen Rede ans Diesseits.1116 Auf der Schwelle zum Gral, an dieser äußersten Grenzlinie zwischen Immanenz und Transzendenz – aber eben nur hier –, erledigen sich schließlich Fragen der poetischen Qualität vollends: Im Verhältnis zum – jenseitigen – Nachtigallengesang erscheint nicht nur Hugos Dichten, sondern alle diesseitige Poesie nur kuckuckshaft unvollkommen.