Eine Geschichte des Kondoms
Obwohl Kondome den wirkungsvollsten Schutz vor Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten (STI, sexually transmitted infections) darstellen, müssen sie sich viel Spott gefallen lassen. Selbst in Ländern, in denen man beliebig viele von ihnen bekommt, werden sie oft als notwendiges Übel angesehen oder gar nicht erst benutzt. 2017 ergab eine YouGov-Umfrage unter 2700 sechzehn- bis vierundzwanzigjährigen Brit*innen, dass fast die Hälfte (47 Prozent) der sexuell aktiven jungen Menschen beim ersten Mal mit neuem/r Partner*in kein Kondom verwendeten. Einer von zehn sexuell aktiven Menschen zwischen achtzehn und fünfundzwanzig gab sogar an, noch nie ein Kondom benutzt zu haben.[1] 2017 wurden 7137 Fälle von Syphilis in England verzeichnet, 20 Prozent mehr als 2016 und schockierende 148 Prozent mehr als 2008. Auch die Tripper- oder Gonorrhö-Zahlen steigen in Großbritannien; 2017 wurden 44676 Fälle gemeldet, 22 Prozent mehr als 2016.[2]
Ja, ich weiß. Kondome sind Fummelkram, sie können die Empfindung beeinträchtigen und den Penis aussehen lassen wie Bratwurst in Frischhaltefolie. Aber ein ordentlicher Tripper oder eine ungewollte Schwangerschaft sind mit Sicherheit um einiges schlimmer, warum also sind so viele Menschen so widerwillig, wenn es ans Einpacken geht? Ich glaube, einer der Gründe sind Antibiotika und Virostatika, die uns glücklicherweise heute eine gewisse Sicherheit bieten. Unbehandelt können Tripper und Chlamydien natürlich weiterhin unfruchtbar machen, Herpes ist nicht heilbar, und HIV bedeutet nach wie vor einen Einschnitt ins Leben (wenn auch bei korrekter Medikation keinen lebensbedrohlichen mehr). Damit möchte ich die Gefahr von STI nicht kleinreden, nur darauf hinweisen, dass der Großteil der Infektionen bei rechtzeitiger Behandlung gut in den Griff zu kriegen ist und einem nichts weiter abverlangt als eine Antibiotikabehandlung und ein paar unangenehme Anrufe bei vergangenen Partner*innen. Diesen Luxus hatten unsere Ahnen nicht.
Allerdings könnte das bald nicht mehr der Fall sein. Die sogenannte »Super-Gonorrhö« ist auf dem Vormarsch, ein multiresistenter Erregerstamm der Krankheit, darüber hinaus wurden Antibiotikaresistenzen sowohl bei Chlamydien als auch bei Syphilis beobachtet.[3] Wenn die Entwicklung alternativer Behandlungsmethoden nicht gelingt, könnten wir uns bald in der präantibiotischen Welt der Geschlechtskrankheiten wiederfinden, und das ist kein schöner Ort.
Seit die Menschen Sex miteinander haben, hat es Methoden gegeben, Schwangerschaften und Krankheiten zu vermeiden, indem der Penis während des Geschlechtsverkehrs eingepackt wurde. Es gibt zahlreiche Hinweise, die diese Praxis für das Altertum belegen.* Die Legende um König Minos von Kreta zum Beispiel erzählt von Antoninus Liberalis irgendwann um das 2. nachchristliche Jahrhundert herum, berichtet von dessen Königin Pasiphae, die nicht empfing, weil der Samen des Königs voll von Skorpionen und Schlangen war. König Minos wurde geraten, Verkehr mit einer anderen Frau zu haben, davor aber die Blase einer Ziege in ihrer Vulva zu platzieren, die den vergifteten Samen auffangen sollte. Als der König erst einmal alles rausgelassen hatte (sozusagen), durfte er mit seiner Frau schlafen und ihr einen Haufen gesunder, skorpionfreier Babys machen.[4] Rein technisch gesehen ist das eher ein Hinweis auf das, was wir heute Femidom oder Frauenkondom nennen, aber die Geschichte zeigt vor allem, dass es das Wissen um den Einsatz tierischer Membranen zur Vermeidung des Austauschs von Körperflüssigkeiten gab.
* In einer Höhle in Frankreich, bekannt als Grotte des Combarelles, gibt es Malereien, die auf etwa 11.000 v. Chr. datiert werden und laut einiger Archäolog*innen die Verwendung von Kondomen darstellen, wenn diese Interpretation auch sehr unterschiedlich aufgenommen wird. Louis Capitan und Henri Breuil, »Figures Préhistoriques de La Grotte des Combarelles (Dordogne)«, Comptes rendus des Séances de l’Année – Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, 46.1 (1902), S. 51 – 56, <https://doi.org/10.3406/crai.1902.17072>.
Im Grab des Pharaos Tutanchamun, der Ägypten von etwa 1332 bis 1323 v. Chr. regierte, wurden Leinenhüllen von der Länge eines Fingers entdeckt, die Schnüre besaßen, mit denen man sie befestigen konnte.[5] Diese Hüllen werden heute im Ägyptischen Museum in Kairo als »Kondome« ausgestellt, was sie zu den ältesten bekannten Beispielen für Präservative auf der ganzen Welt machen würde.[6] Es ist jedoch ganz und gar nicht gesichert, dass es sich bei diesen Objekten um Kondome handelt, sie könnten auch Bestandteile irgendeines rituellen Gewandes sein. Es gibt auch sonst keine Beweise, die die These des Kondomgebrauchs im Alten Ägypten stützen könnten, obgleich es viele Hinweise darauf gibt, dass es Empfängnisverhütung gab. Die medizinischen Papyri aus Lahun (um 1825 v. Chr.) zum Beispiel erwähnen keine Kondome, es wird dort aber ein Verhütungspessar empfohlen, das aus Krokodilkot und Honig hergestellt und vor dem Sex in die Vulva eingeführt wurde.[7] Interessanterweise hat dieses Gebräu dank seines hohen Säuregehalts wohl tatsächlich zum Absterben der Spermien geführt, ich würde es aber dennoch nicht zur Nachahmung empfehlen.
Der früheste gesicherte Beweis für ein Verhütungsmittel, das einem Kondom ähnelt, liefert die Arbeit des italienischen Mediziners Gabriele Falloppio (1523 – 1562). Falloppio war einer der vielen Ärzte, die im 16. Jahrhundert verzweifelt versuchten, den Vormarsch der Syphilis in Europa zu stoppen.** Er hatte verstanden, dass die »französische Krankheit«, wie er sie nannte, durch Sex übertragen wurde, und entwickelte eine Stoffhülle, die über die Peniseichel gezogen wurde, um eine Übertragung zu verhindern. Falloppios Hülle musste mit einer Mischung aus Wein, Quecksilber, Asche, Salz und Holzspänen getränkt werden. Entscheidend ist, dass Falloppio diesen Wickel nach dem Sex angelegt wissen wollte, er rät nicht dazu, ihn während des Verkehrs zu benutzen. Die Idee war, dass diese Mischung den Penis reinigen und vor einer Infektion schützen würde. Falloppio behauptete kühn, er hätte über tausend Soldaten darin unterwiesen, wie man sein Kondom benutze, und keiner von ihnen hätte sich mit Syphilis angesteckt.[8] Da Falloppios Umschlag erst nach dem Sex zum Einsatz kam, war er natürlich nutzlos, trotzdem handelt es sich hier um einen der frühesten Berichte von der Praxis, den Penis einzupacken, um sich vor Infektionen zu schützen.
** Über den Ursprung der Syphilis wird unter Historiker*innen intensiv diskutiert. Es geht darum, ob die Krankheit als Erstes 1493 durch Kolumbus’ Flotte auf dem amerikanischen Kontinent aufgeschnappt wurde oder schon viel länger unterwegs gewesen war. Es wird vermutet, dass die Syphilis im 15. Jahrhundert zu der zerstörerischen, hochansteckenden Krankheit mutierte, die die Welt verwüstete. Fernando Lucas de Melo et al., »Syphilis at the Crossroad of Phylogenetics and Paleopathology«, PLOS Neglected Tropical Diseases, 4.1 (2010), e575, <https://doi.org/10.1371/journal.pntd.0000575>.
Andere »Behandlungsmethoden« bei Syphilis im 16. Jahrhundert bestanden in Bedampfung, Räucherung, Guajakholz (zermahlen und getrunken oder auf die Haut gerieben) und, natürlich, Quecksilber – eingenommen, gespritzt oder direkt auf die wunden Stellen aufgetragen.
Quecksilber wurde bei Hautkrankheiten eingesetzt, seit Guy de Chauliac dessen Verwendung im Jahr 1363 empfohlen hatte, um Krätze zu behandeln.[9] Vielleicht gab es eine gewisse Wirksamkeit beim Ausbrennen der syphilitischen Hautwunden, gleichzeitig war das aber eine hochgiftige Angelegenheit, die zu allen möglichen neurologischen Problemen, zu geschwollenem Zahnfleisch, vergammelten Zähnen und Haarverlust führte.
Dieses Aquarell von C. D’Alton aus dem Jahr 1866 zeigt einen Mann, der an Schuppenflechte und möglicherweise Syphilis leidet. Auf der Rückseite steht: »Verlauf [der primären Syphilis] eher undurchsichtig; Ausschlag an Armen und Schultern einfache Schuppenflechte – Gesicht und Brust ausgesprochen kupferfarben und syphilitisch.«
Warum sollte also jemand bereit sein, eine derart scheußliche Behandlung über sich ergehen zu lassen? Weil die Krankheit ganz einfach noch schlimmer war. Der italienische Chirurg Giovanni da Vigo (um 1450 – 1525) beschreibt den Verlauf von Syphilis in De Morbo Gallicus von 1514.
Die Ansteckung, die sie verursacht, erfolgt besonders durch den Koitus: Das heißt, durch den geschlechtlichen Verkehr zwischen einem gesunden Mann und einer kranken Frau oder umgekehrt […] Die ersten Symptome dieser Krankheit erscheinen fast ausnahmslos auf den Geschlechtsorganen, also auf dem Penis oder der Vulva. Es sind kleine eitrige Pickel von vornehmlich bräunlicher oder bläulicher, manchmal schwarzer, manchmal leicht blässlicher Farbe. Diese Pickel sind umgrenzt von einer schwielenartigen Erhöhung […] Später erscheinen eine Reihe neuer Vereiterungen auf den Genitalien […] Dann wird die Haut langsam von schorfigen Pickeln überzogen oder aber mit erhabenen Knötchen, die an Warzen erinnern […] Etwa eineinhalb Monate nach Auftreten der ersten Symptome werden die Erkrankten von Schmerzen heimgesucht, die ihnen Schreie des Elends abringen […] Noch sehr viel später (ein Jahr oder sogar noch länger nach den oben beschriebenen Komplikationen) tauchen bestimmte szirrhöse Geschwüre auf, die schreckliches Leid verursachen.[10]
In den späteren Stadien greift die Syphilis Gehirn und Gesichtsgewebe an und führt zu Knochenveränderungen. Eine wirklich grausige Krankheit, und sie war zu Recht gefürchtet. So nutzlos Falloppios Kondome auch waren, bedenkt man die Alternative, wird deren Attraktivität nachvollziehbar.
Bald wurden Falloppios Leinenhüllen durch solche aus Tierdärmen ersetzt, die während des Geschlechtsverkehrs getragen wurden.*** Diese frühen Kondome wurden meistens aus Schafdärmen hergestellt, aber auch Hüllen aus Fischblasen kamen zum Einsatz. Der Darm wurde auf die richtige Größe zugeschnitten und getrocknet, um dann in Milch oder Wasser eingeweicht zu werden. Man befestigte ihn mit Schleifen oder Schnüren am Penis, wusch ihn nach dem Sex aus und verwendete ihn erneut – mehrfach.
*** Bei einer Ausgrabung am Dudley Castle in den Achtzigerjahren wurde ein Abort entdeckt, der während der Zerstörung der Verteidigungsanlagen der Burg im Jahr 1647 verschüttet worden war. Darin fand man die Überreste von zehn Tierdarmkondomen – der erste materielle Beweis für die Existenz dieser Kondome in Europa. Fahd Khan et al., »The Story of the Condom«, Indian Journal of Urology, 29.1 (2013), S. 12, <https://doi.org/10.4103/0970-1591.109976>.
Die Herstellung eines Kondoms aus Schafgedärm wird in Robley Dunglisons New Dictionary of Medical Science and Literature von 1833 beschrieben.
Der Blinddarm eines Schafes wird für einige Stunden in Wasser eingeweicht, dann von innen nach außen gestülpt, wieder eingeweicht in schwacher Alkalilauge, die alle zwölf Stunden ausgewechselt wird, dann vorsichtig abgekratzt, um die schleimige Membran abzutrennen und Peritonealhaut und Muskelschichten Schwefeldampf auszusetzen, danach mit Seife und Wasser gewaschen. Dann aufgeblasen, getrocknet, auf eine Länge von siebzehn bis zwanzig Zentimeter zugeschnitten und am offenen Ende mit einem Band versehen. Vor dem Koitus wird er über den Penis gezogen, um Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaften zu verhindern.[11]
Solche Kondome waren es, über die unser Lieblingscasanova John Wilmot, Earl of Rochester, in seinem feierlichen Pamphlet A Panegyric upon Cundum 1667 schrieb. Als durch und durch verkommener Schwerenöter, der er war, frohlockte Rochester bei der Aussicht, so viel Sex mit so vielen »unanständigen Geschöpfen« haben zu können, wie er wollte, ohne dabei »quälende Geschwüre« oder »den dicken Bauch und das brüllende Balg« zu riskieren.
Glücklich ist der Mann, der in seiner Tasche,
Ob mit grünem oder scharlachrotem Band gebunden,
Ein gut gearbeitet Kondom trägt – Er muss nicht fürchten
Die Schrecken von Schanker oder Peniskrümmung oder grässlicher Leistenbeulen![12]
Rochester hätte ein »gut gearbeitet Kondom« bitter nötig gehabt, denn er starb 1680 mit Wunden und Geschwülsten übersät an Syphilis, mit gerade einmal dreiunddreißig Jahren.
Der schottische Biograf James Boswell (1740 – 1795) vertraute bei seinen beachtlich zahlreichen sexuellen Abenteuern ebenfalls auf das Schafdarm-Kondom. Er nennt Kondome in seinem Tagebuch »Maschinen«, »Hüllen« und seine »Rüstung«.****
**** Es wird oft behauptet, es wäre nach einem »Dr. Condom« oder »Colonel Condom« benannt worden, dafür gibt es aber keinerlei Beweise. Oxford English Dictionary, oed.com, 2018, www.oed.com/view/Entry/38587?redirectedFrom=condom#eid [Aufgerufen am 15. August 2018].
17. Mai 1763
Ich habe ein frisches, liebenswürdiges Mädchen namens Alice Gibbs aufgegabelt. Wir gingen einen Weg entlang zu einem gemütlichen Plätzchen, dort holte ich meine Rüstung hervor, aber sie bettelte, ich möge sie nicht anlegen, weil das Vergnügen ohne viel größer sei und von ihr keine Gefahr ausginge. Ich war leichtsinnig genug ihr zu vertrauen und hatte eine sehr angenehme Begegnung.[13]
Einer der vielen Nachteile des Schafdarm-Kondoms bestand darin, dass es bei Nichtbenutzung austrocknete und eingeweicht werden musste, damit es geschmeidig genug war, um es über den Penis ziehen zu können. In einem Tagebucheintrag vom 4. Juni 1763 beschreibt Boswell, wie er sein Kondom hektisch in den Kanal tauchen musste, bevor er Sex mit einem »gewöhnlichen Schmetterling« haben konnte, den er im Park aufgerissen hatte. Trotz des Vorfalls stellt Boswell klar, seine Performance sei »höchst mannhaft« gewesen.[14] Mannhaft war Boswell vielleicht, aber nicht gerade ein Glückspilz. Trotz Rüstung holte er sich mindestens neunzehnmal einen Tripper.[15] In seinem Tagebuch nennt er die wiederholt auftretende Infektion »Signor Gonorrhö«.[16] Es ist gut möglich, dass diese beliebten frühen Kondome die Verbreitung von STI befördert haben, weil sich deren Träger in Sicherheit wiegten und keine weiteren Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.
Im 18. Jahrhundert waren Kondome als Verhütungsmittel und als Schutz vor Krankheiten ein Riesengeschäft. Wer damals in London Kondome brauchte, ging wahrscheinlich zum Green Canister in die Half Moon Street und fragte entweder Mrs Phillips oder deren Nachfolgerin Mrs Perkins nach einem ihrer »feinen Apparate«.[17]
Die Briten exportierten ihre Kondome in die ganze Welt, und obwohl sie sie selbst »französische Briefe« nannten, waren sie andernorts als »englische Regenmäntel« bekannt.[18] Casanova nannte Kondome redingote anglaise (»englischer Gehrock«) oder vêtement anglais qui met l’âme en repos (»englisches Kleidungsstück, das der Seele Frieden bringt«).[19] Obwohl Casanova Kondome nicht mochte, erkannte er deren Wert und weigerte sich, »Ware« von geringerer Qualität zu benutzen: »Ich habe das, welches sie mir anbot, nicht akzeptiert, denn es schien mir ein minderwertiges Fabrikat zu sein.«[20] Leider bewahrte ihn das nicht davor, sich viermal mit Gonorrhö, fünfmal mit weichem Schanker und außerdem mit Syphilis und Herpes anzustecken.[21]
Richard Carlile (1790 – 1843), ein früher Kämpfer im Einsatz für allgemeines Wahlrecht, schrieb 1826 in Every Woman’s Book; or, What is Love? über die allgemeinen Methoden zur Empfängnisverhütung. Carlile berichtet, viele Frauen »führen in ihre Vagina ein Stück Schwamm ein, so groß, dass es noch leicht aufgenommen werden kann, an das sie vorher eine Spule oder etwas schmales Band befestigt haben, um es wieder herausziehen zu können; in den meisten Fällen stellt sich dies als empfängnisverhütend heraus […]«. Er beschreibt außerdem die Verwendung von Kondomen als weitere mögliche Verhütungsmethode:
Ein Aushang für Mary Perkins' Londoner Kondomgeschäft. Aus Francis Grose' Leitfaden für Gesundheit, Schönheit, Reichtum und Ehre, 1785.
Eine davon ist es, die Haut zu tragen, oder was man in Frankreich baudruche und in England gemeinhin den Handschuh nennt. Sie werden in Bordellen in London verkauft, von der Bedienung im Wirtshaus und von manchen Frauen und Mädchen in der Umgebung öffentlicher Plätze wie Westminster Hall etc.[22]
Tierdarmkondome waren teuer, nicht leicht zu handeln und oft funktionierten sie nicht – als Charles Goodyear (1800 – 1860) im Jahr 1839 also vulkanisiertes Gummi erfand, revolutionierte das die Kondomindustrie und führte 1855 zur Produktion der ersten Gummikondome. Sie waren wiederverwendbar und mussten angepasst werden, aber sie schützten erfolgreich vor Schwangerschaft und sexuell übertragbaren Krankheiten – genau wie vor jeglicher Empfindung.
In den USA wurde der Vertrieb von Kondomen stark durch den Erlass der Comstock-Gesetze im Jahr 1873 behindert. Diese verboten »jedwede Medikamente oder sonstige Artikel, etwa zur Schwangerschaftsverhütung« mit der Post zu befördern. 1876 wurden die Comstock-Gesetze inhaltlich angepasst:
Jedes obszöne, anstößige oder lüsterne Buch, Pamphlet, Bild, jeder Artikel, jede Schrift, jeder Druck oder jede Veröffentlichung unanständiger Natur und jeder Artikel oder Gegenstand, der zur Empfängnisverhütung oder Abtreibung hergestellt wurde, und jeder Artikel oder Gegenstand für jedweden unanständigen oder unmoralischen Gebrauch und jede geschriebene oder gedruckte Karte, jede Wurfsendung, jedes Buch, Pamphlet, Werbeschreiben, jede Anzeige egal welcher Art, die direkt oder indirekt Informationen darüber enthält, wo oder wie oder von wem oder mit welchen Mitteln irgendwelche der hier erwähnten Angelegenheiten, Artikel oder Gegenstände erhalten oder hergestellt werden können, und jeder Brief und jede Karte mit einem Umschlag mit unanständigen, anstößigen, obszönen oder lüsternen Skizzen, Namen, Bezeichnungen oder Sprache, ob geschrieben oder gedruckt, werden hiermit zu nicht postversandfähigen Gegenständen erklärt und dürfen weder per Post verschickt noch von irgendeinem Postamt oder irgendeinem Briefträger zugestellt werden.[23]
Die Verordnung trägt den Namen ihres bekanntesten Verfechters, Anthony Comstock (1844 – 1915), ein strenggläubiger Christ, der schockiert war über die Verbreitung von Sexarbeit und Verhütungsmitteln in New York. Die Comstock-Gesetze hielten die Menschen nicht davon ab, Sex zu haben, sie machten es nur schwieriger, sicheren Sex zu haben. Aber die USA waren nicht das einzige Land, das einen Kondom-Bann verhängte. In Irland verbot es der Indecent Advertisements Act ab 1889, Kondome zu bewerben, und blieb bis 1980 in Kraft. Belgien erlaubte bis 1973 ebenfalls keine Werbung für Kondome.[24] Und Boots, die größte Apothekenkette Großbritanniens, unterband 1920 den Verkauf von Kondomen mit der Begründung, man wolle nicht, dass die Mitarbeitenden »Unannehmlichkeiten« hätten. Das blieb noch bis 1960 so.[25]
In den Zwanzigerjahren dann wurden Latexkondome entwickelt. Sie wurden massenproduziert, waren erschwinglich und glücklicherweise für den einmaligen Gebrauch vorgesehen. Nach den STI-Ausbrüchen innerhalb der Alliiertentruppen im Ersten Weltkrieg gehörten Latexkondome im Zweiten Weltkrieg zur Standardausstattung aller Rekruten.
Das US-Militär startete eine offensive Kampagne zur »sexuellen Hygiene« in dem Versuch, seine Truppen STI-frei zu halten. Die Entwicklung des Penicillins in den Vierzigerjahren machte es zum ersten Mal möglich, Infektionen wie Syphilis, Gonorrhö und Chlamydien zu heilen. Dennoch blieb die STI-Rate während des Zweiten Weltkriegs extrem hoch, was vermuten lässt, dass es die Truppen nicht ganz so genau mit dem Einpacken nahmen. Doch das Kondom selbst und die es begleitenden Botschaften wurden langsam zum Allgemeingut.
Wiederverwendbares »Paragon«-Gummikondom, London, um 1950. Diese Kondome wurden ausgewaschen und wiederverwendet.
Mit der Erfindung der Antibabypille 1960 und mithilfe von Antibiotika, die die meisten Geschlechtskrankheiten zu heilen vermochten, ging der Kondomgebrauch zurück.[26] Erst mit der Entdeckung von AIDS in den Achtzigerjahren rückte es wieder in den öffentlichen Fokus. Trotz des Widerwillens von Regierungen, über Safer Sex oder schwulen Sex zu reden, wurden sie von der Gesundheitskrise dazu gezwungen, darum stand der Gebrauch von Kondomen bald im Zentrum jeder Safer-Sex-Kampagne, und so ist es auch heute noch.[27]
Dieses Plakat ermahnte die Soldaten im Zweiten Weltkrieg, dass selbst dem perfekten Mädchen von nebenan nicht zu trauen ist.
Kondome waren nie billiger, angenehmer zu tragen, weniger stigmatisiert oder effektiver als heute. Falls irgendwer euch gegenüber jemals Einwände gegen sie erheben sollte, erinnert an James Boswell, wie er sich mit einem Schafdarm über seinem tropfenden Penis über halb London hermachte, oder an Kondome aus Leinen und Bändern oder an die ersten vulkanisierten (wiederverwendbaren) Kautschukkondome, die so dick wie Gummistiefel waren. Und wenn das immer noch nicht hilft, erinnert sie an die wirklich fürchterlichen, entstellenden Krankheiten, die zu vermeiden unsere Vorfahren alles Erdenkliche taten (außer auf Sex zu verzichten, offensichtlich). Dankt euren Schutzengeln, und bitte, um es mit dem Komiker Spike Milligan zu sagen, tragt Kondome, wann immer es nötig ist.*****
***** Der Originalausspruch lautet: »Contraceptives should be used on every conceivable situation« (Anm. d. Ü.).