Schlemmen mit Panthern

Eine Geschichte der Männer-Sexarbeit

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In einem Brief an seinen Liebhaber Lord Alfred Douglas, geschrieben aus einer Gefängniszelle im Jahr 1897, sinnierte Oscar Wilde über das Verbrechen des »unsittlichen Verhaltens«, das ihm zwei Jahre Zwangsarbeit im Zuchthaus von Reading eingebrockt hatte. Wilde beschrieb die Sexarbeiter, die er zur abendlichen Unterhaltung einzuladen pflegte, als »die strahlendsten vergoldeten Schlangen«. Er erinnerte sich, in höchstem Maße erregt gewesen zu sein von der Gefahr, mit diesen »wunderbar anzüglichen und anregenden« Kreaturen zu schlafen, und bezeichnete seine Zeit in deren Gesellschaft als »Schlemmen mit Panthern«.[1]

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Oscar Wilde, hier auf einer Aufnahme mit seinem Liebhaber Lord Alfred Douglas. Wilde verlor einen Verleumdungs-Rechtsstreit, bei dem es um seine Beziehung mit Douglas ging, und wurde als Homosexueller eingesperrt. Er starb kurz nach seiner Haftentlassung. Fotografie von Gillman & Co. (zwischen 1882 und 1910).

Die Vorstellungen von Sexarbeit sind erstaunlich heteronormativ: Frauen verkaufen Sex, Männer kaufen Sex, und fertig. Aber halt, gar nicht fertig, nicht einmal ansatzweise. Sexarbeit beinhaltet ein breites Spektrum an Geschlechtern, Sexualitäten, Angeboten, Anbieter*innen und Kund*innen.

Doch sie ist extrem schwer zu erforschen. Kriminalisierung und Stigmatisierung führen dazu, dass viele Sexarbeiter*innen nicht mit Wissenschaftler*innen sprechen wollen. Verlässliche demografische Daten zu Sexarbeit zu bekommen, ist also schwierig, und die Schätzungen weichen teilweise stark voneinander ab. Zum Beispiel sind laut Bericht des britischen Innenministeriums von 2016 etwa zwanzig Prozent der britischen Sexarbeiter*innen männlich.[2] Statistiken, die die Plattform zur Datenintegration Import.io 2014 veröffentlichte, deuten allerdings darauf hin, dass es bis zu zweiundvierzig Prozent sind.[3] Eine genaue Zahl werden wir nie haben, aber was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass Männer hier durchaus mitmischen. Und das ist schon immer so gewesen.[4]

Zwar gibt es umfangreiche Belege dafür, dass Männer Sex an andere Männer verkaufen, aber die Geschichte von Frauen, die Sex von Männern kaufen, ist da schon deutlich undurchsichtiger. Da ist der römische Dichter Martial, der sich über eine »hässliche und alte Frau« lustig macht, die meint, »Gefälligkeiten ohne Bezahlung« bekommen zu können. An anderer Stelle scherzt er: »Lesbia schwört, sie ist noch nie umsonst gefickt worden. Das stimmt. Wenn sie gefickt werden möchte, bezahlt sie in der Regel dafür.« Hier könnte es sich allerdings auch um abfällige Bemerkungen über ältere Frauen handeln und nicht um Beweise dafür, dass Frauen für Sex bezahlt haben.

Hinzu kommt die Tatsache, dass viele mächtige weibliche Persönlichkeiten von ihren Feind*innen als unersättliche Nymphomaninnen hingestellt wurden, was das Herauslesen der Fakten besonders erschwert. Königin Ana Nzinga (1583 – 1663) beispielsweise, die über die Königreiche Ndanga und Matamba im heutigen Angola herrschte, soll angeblich einen Harem mit fünfzig Männern gehabt haben, die ihr auf Befehl zu Diensten sein mussten. »Sie hält sich auch fünfzig bis sechzig Konkubinen, die sie wie Frauen anzieht, obwohl sie junge Männer sind.«[5] Das Problematische an diesem Bericht ist, dass er aus der Feder des niederländischen Geografen Olfert Dapper stammt, der selbst nie in Afrika gewesen war. In Anbetracht der Tatsache, dass Königin Nzinga den Portugiesen einen kräftigen Arschtritt verpasst hatte, könnten auch dies nur Verleumdungen sein.

Einer der wenigen historischen Berichte über ein reines Männerbordell, das eine weibliche Klientel versorgte, stammt von Mary Wilson, einer Londoner Bordellwirtin, die im frühen 19. Jahrhundert einige Bordelle besaß. 1824 veröffentlichte Mary The Voluptarian Cabinet, wo sie ihre »Eleusinische Institution« beschreibt. Dort konnte eine Frau, wenn das Geld stimmte, von einem Mann ihrer Wahl verwöhnt werden.

Ich habe sehr weitläufige Räumlichkeiten erworben, die zwischen zwei großen Verkehrsstraßen liegen, von denen aus sie über Ladengeschäfte betreten werden können. Sie sind ganz dem Gewerbe gewidmet, das nur Frauen in Anspruch nehmen […] In diesen Salons sind, ihrer Klasse entsprechend, nur die besten Männer ihrer Art zu finden, derer ich habhaft werden konnte, beschäftigt mit was auch immer den Frauen gefällt, und immer in hohem Maße begeistert, begünstigt durch ein gutes Leben und viel Müßiggang […][6]

Hier wiederum ist das Problem, dass es der Sexualforscher Iwan Bloch ist, der in seinem Buch Das Geschlechtsleben in England (1912; übersetzt ins Englische 1936) über Mary Wilsons Bordell schreibt. Ich möchte nicht behaupten, dass Bloch lügt, aber Beweise, die die Existenz von Miss Wilsons »Räumlichkeiten« bestätigen könnten, oder gar ihre Schriften, sind schwer zu finden.

Aber die Abwesenheit von Beweisen ist nicht der Beweis für Abwesenheit, und ganz bestimmt haben Frauen im Laufe der Geschichte für Sex bezahlt. Sogar heute noch sind Frauen, die das tun, ein kaum untersuchtes Tabuthema. Aber das verändert sich. Die Kriminologinnen Dr. Natalie Hammond und Dr. Sarah Kingston vollendeten 2016 eines der ersten wissenschaftlichen Projekte, das sich mit Frauen in Großbritannien beschäftigt, die für Sex zahlen.[7] Dr. Kingston erkannte, dass ihre Vorurteile von der Tatsache herausgefordert wurden, »wie ähnlich die Motive von Frauen, Sex zu kaufen, denen von Männern sind«. Dr. Hammond fand heraus, dass die Gründe, warum Frauen für Sex bezahlen, zahlreich sind, »zum Beispiel, weil sie etwas ausprobieren wollen oder weil sie, was ihren Sextrieb angeht, nicht mit ihren Partner*innen zusammenpassen, also Sex wollen, aber keine Affäre. Das stimmt mit dem überein, was wir über männliche Kunden wissen – sie kommen aus allen Gesellschaftsschichten und bezahlen aus vielerlei Gründen für Sex«.[8]

Glücklicherweise widmet die Wissenschaft Frauen, die für Sex bezahlen, inzwischen mehr Aufmerksamkeit, aber insgesamt tappen wir hier noch immer weitgehend im Dunkeln.

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Ann Zingha, Queen of Matamba, von François Villain, 1800.

Beziehungen zwischen Männern wurden in der Antike in weiten Teilen akzeptiert, aber sie waren dennoch strengen soziosexuellen »Regeln« unterworfen, die diktierten, was anständig war und was nicht. In Griechenland zum Beispiel konnte sich ein älterer Mann (erastes) einen Jungen im Teenageralter (pais) als Liebhaber nehmen, wurde aber damit gleichzeitig zu dessen Mentor und lehrte ihn die Dinge des Lebens. Heute würden wir das als Kindesmissbrauch und institutionalisierte Pädophilie bezeichnen, aber die antiken Griech*innen akzeptierten dies nicht nur, Eltern boten ihre Söhne sogar mit Freuden alten reichen Männern an, in der Hoffnung, diese würden dadurch sozial aufsteigen. Der ältere Mann wurde als der aktive, maskulinere Part wahrgenommen, von dem jüngeren wurde erwartet, dass er die passive Rolle übernimmt – das galt auch für den Sex, während dem der pais penetriert wurde (Bottom-Rolle), und der erastes penetrierte (Top-Rolle). Es wurde als ziemlich ungehörig empfunden, wenn ein erwachsener Mann der Bottom war. Auch unter den japanischen Samurai wurden solche päderastischen Arrangements als völlig normal angesehen, hier nahm sich ein älterer Krieger (nenja) einen heranwachsenden Jungen (chigo) zum Sexpartner und lehrte ihn im Gegenzug Martial Arts und Etikette.[9]

Während seines Gerichtsverfahrens wegen unsittlichen Verhaltens 1895 beschrieb Oscar Wilde seine Gefühle für Lord Douglas als »die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt«. Auf Drängen Sir Edward Clarks hin, doch zu erklären, was er damit meine, bezog sich Wilde auf die Erastes-pais-Beziehungen im antiken Griechenland:

Die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt, ist in diesem Jahrhundert die Zuneigung eines älteren zu einem jüngeren Mann, so wie es sie zwischen David und Jonathan gab, so wie Platon sie zur Basis seiner Philosophie machte und so wie man sie in den Sonetten von Michelangelo und Shakespeare findet […] In diesem Jahrhundert wird sie so missverstanden, so gründlich missverstanden, dass sie als »Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt« beschrieben werden kann, und um ihretwillen bin ich dort, wo ich gerade bin. Sie ist wunderschön, sie ist gut, sie ist die edelste Art der Zuneigung. Nichts an ihr ist unnatürlich. Sie ist intellektuell, und sie existiert fortwährend zwischen einem älteren und einem jüngeren Mann, wenn der ältere den Verstand besitzt und der jüngere all die Freude, die Hoffnung und den Glanz des Lebens noch vor sich hat. Dass es so sein muss, versteht die Welt nicht. Die Welt macht sich darüber lustig, und manchmal stellt sie jemanden dafür an den Pranger.[10]

Das mag ja alles überaus edel gewesen sein, aber Sex einfach nur zu verkaufen, anstatt ihn gegen das Wissen eines Mentors einzutauschen, dem haftete doch etwas Ungehöriges an.

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Griechische Keramik, datiert auf etwa 480 v. Chr. Ein erastes (Liebender) und sein eromenos (Geliebter) küssen sich.

So war es griechischen Männern, die Sex verkauften, verboten, Tempel zu betreten, öffentlich zu sprechen oder an öffentlichen Verfahren teilzunehmen. Im Jahr 346 v. Chr. klagte der Athener Politiker Aischines seinen Kollegen Timarchos an, weil dieser in der Volksversammlung gesprochen hatte, obwohl er in seiner Jugend Sex verkauft habe: »Ein Mann, der das Recht auf seinen eigenen Körper verkauft hat, wäre auch bereit, den Staat zu verkaufen.«[11] Ähnliche Gesetze gab es auch außerhalb Athens. In der makedonischen Stadt Beroia, heute Veria, belegt eine Inschrift aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert, dass »Sklaven, Betrunkene, Verrückte und die, die sich prostituiert haben (hetaireukôtes)«, das Gymnasion nicht betreten durften.[12]

Als derart schandhaft wurde das Thema aber nicht überall empfunden. Das Kamasutra beschreibt, wie gut es männliche Sexarbeiter »in Frauenkleidung« ihren männlichen Kunden mit dem Mund machen, ohne jede Spur der Scham. »Wenn er sich in genau diesem Zustand befindet, durch die Kraft der Leidenschaft bis zur Hälfte im Mund verschwunden, dann presst er ihn gnadenlos hinunter und weiter hinunter und lässt dann los. Das wird ›die Mango lutschen‹ genannt.«[13]

Die Einstellungen zum Mangolutschen waren im christlichen Europa des Mittelalters nicht ganz so locker, aber wir wissen, dass die Lutscherei trotzdem weiterging. Am Abend des 11. Dezember 1394 wurde John Rykener verhaftet, weil er John Britby aus Yorkshire in der Cheapside in London Sex verkauft hatte. Die Befragung Rykeners und dessen Aussage vor dem Stadtgericht sind in allen schmutzigen Einzelheiten in den Londoner Plea and Memoranda Rolls (Gerichtsakten in den Londoner Stadtarchiven) festgehalten. Was diesen Fall so interessant macht, ist die Beichte Rykeners, sich als Frau verkleidet und den Namen Eleanor verwendet zu haben, um sowohl Britby als auch Mönchen und anderen Geistlichen Sex zu verkaufen. Er gab aber auch zu, als Mann Kirchenlaiinnen und Nonnen verführt zu haben.

John Rykener gestand weiterhin, dass er am Freitag vor Michaelis nach Burford in Oxfordshire kam und dort im Swan in der Eigenschaft als Schankkellner sechs Wochen lang mit einem gewissen John Clerk verweilte, während jener Zeit zwei Franziskaner, einer mit Namen Bruder Michael und einer mit Namen Bruder John, der ihm einen Goldring schenkte, und ein Karmeliter und sechs ausländische Männer die oben erwähnten Taten mit ihm begingen […] Rykener gestand weiterhin, dass er sich nach Beaconsfield begeben und dort als Mann mit einer gewissen Joan, Tochter von John Matthew, Sex hatte und dass dort außerdem zwei Franziskaner mit ihm als Frau Sex hatten. John Rykener gestand auch, dass nach seiner letzten Rückkehr nach London ein gewisser Sir John, einst Kaplan der Kirche St. Margaret Pattens, und zwei weitere Kaplane mit ihm die erwähnten Taten in den Gassen hinter St. Katherine’s by the Tower begangen hätten. Rykener sagte weiter, er hatte als Mann des Öfteren Sex mit vielen Nonnen und auch mit vielen anderen Frauen, verheiratet oder nicht, mit wie vielen, das wusste er nicht. Rykener gestand weiter, dass viele Priester diese Tat mit ihm begangen hätten, als wäre er eine Frau, wie viele, das wusste er nicht, und er sagte, er sei Priestern bereitwilliger gefällig als anderen Personen, denn diese wünschten ihm mehr zu geben als andere.[14]

Auf den ersten Blick scheint es sich bei diesem Dokument um den raren Bericht einer Transgenderfrau aus dem Mittelalter zu handeln. Warum also habe ich es in das Kapitel über Männer und Sexarbeit aufgenommen? Weil das Ganze sehr wahrscheinlich eine satirische Spottgeschichte ist, die die Kirche auf die Schippe nimmt, und kein realer Fall. Als dieses Dokument entdeckt wurde, waren die Historiker*innen verständlicherweise sehr gespannt darauf, was es uns über Sex und Geschlechterrollen im 14. Jahrhundert würde erzählen können. Erst als Jeremy Goldberg ein bisschen genauer nachforschte, musste man sich allmählich Fragen zur Verlässlichkeit der Quelle stellen. Denn es fehlten nicht nur Anklage, Urteil und Strafmaß, sondern Fälle von Unzucht, Analverkehr und so weiter wurden auch nicht vor einem Stadtgericht ausgetragen. Darüber hinaus tauchen die Namen John Rykener und John Britby auch in einem anderen Zusammenhang auf. Ein John Britby war Vikar in einer Gemeinde in Yorkshire, und ein John Rykener floh 1399 vor dem Bischof von London aus dem Gefängnis.[15] Das macht die Kirche als Ziel der Satire wahrscheinlich. Es wurde sogar gemutmaßt, dass »Rykener« an »Richard« angelehnt ist und damit auf König Richard II. anspielt, was bedeuten würde, dass sich der Bericht über den König als Hure der Kirche und ihres Geldes lustig macht.[16]

Das Ganze mag eine Ente sein, aber wir erfahren trotzdem einiges über männliche Sexarbeit im Mittelalter. Offensichtlich war es allgemein bekannt, dass Männer Sex verkaufen, und auch das damit verbundene Stigma und die Scham werden erkennbar. Während gleichgeschlechtliche Beziehungen in der Antike nicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv gefördert wurden, waren sie im mittelalterlichen Großbritannien das Ziel von Spott und Verachtung.

In Anarchia Anglicana (1649) schreibt Clement Walker von »new-erected sodoms and spintries at the Mulberry Garden at S. James’s«.[17]* Tatsächlich soll an besagtem Ort, dort, wo heute der Buckingham Palace steht, einmal ein Männerbordell gewesen sein. Die Namen der Menschen, die dort gearbeitet haben, kennen wir nicht, aber sie alle gingen ein schrecklich großes Risiko ein. Mit dem Buggery Act von 1533 sollten die »abscheulichen und widerlichen Verbrechen der Unzucht mit Mensch oder Tier« geahndet werden. Die Verurteilten mussten der Todesstrafe ins Auge blicken. Erst mit dem Offences Against the Person Act von 1861 waren Homosexualität und Analverkehr (buggery) in England und Wales keine Kapitalverbrechen mehr, die mit dem Tod bestraft wurden. Lord Walter Hungerford hatte die zweifelhafte Ehre, der erste Mann zu sein, der deswegen angeklagt und am 28. Juni 1540 hingerichtet wurde. Die letzten beiden Männer, die in Großbritannien wegen Unzucht hingerichtet wurden, waren der zweiunddreißigjährige James Pratt und der vierunddreißigjährige John Smith, die zusammen am 28. November 1835 im Gefängnis von Newgate gehängt wurden.

* Zu den Begriffen gibt es unterschiedliche Interpretationen, wahrscheinlich ist, dass sodoms »Männerbordelle« meint und spintries sich vom Lateinischen spintria herleitet, was so viel wie »Strichjunge« bedeutet und in dieselbe Richtung zeigt (Anm. d. Ü.).

Im Jahr 1710 veröffentlichte John Dunton The He-Strumpets: A Satyr on the Sodomite-Club und behauptet darin, die He-whores (1638) würden den cracks (Sexarbeiterinnen) das Geschäft wegnehmen:

Manns-Hure! Ein Paradox das Wort

Doch gleich beim Pranger, da ist ein Ort

Von Mann zu Mann wandern die Pocken dort.[18]

Jede anständige »Manns-Hure« im London des 18. Jahrhunderts hätte in einem der städtischen molly houses (1726) um Kunden geworben. Ein molly house musste nicht grundsätzlich ein Bordell sein, es handelte sich dabei eher um einen öffentlichen Ort wie eine Kneipe, ein Café oder ein Wirtshaus, wo sich schwule Männer treffen konnten. 1709 veröffentlichte Ned Ward einen Bericht über die Vorgänge in den molly houses der Hauptstadt:

Es gibt da spezielle Gangs von sodomitischen Schuften in dieser Stadt, die sich Mollies nennen, und die sind jeglicher Männlichkeit oder männlichen Benehmens in einem Maße entartet, dass sie sich schon für Frauen halten und all die kleinen Eitelkeiten nachahmen, die eigentlich dem weiblichen Geschlecht zugeordnet sind, das betrifft, wie sie sprechen, wie sie gehen, lästern und knicksen, heulen und zetern und wie sie jeden Ausdruck von Verweichlichung nachäffen, den sie je beobachtet haben. Auch die Unanständigkeiten liederlicher Frauen lassen sie nicht aus und verführen einander mit schamloser Ungezwungenheit zu derart abscheulichen Bestialitäten, dass sie für immer unausgesprochen bleiben sollten.[19]

Einer der berüchtigtsten Schwulentreffs gehörte »Mother« Margaret Clap, die ihren Kunden auch Betten zur Verfügung stellte. 1726 wurden Mother Claps Räumlichkeiten durchsucht und vierzig mehr oder weniger angezogene Männer mitten in der Nacht ins Newgate-Gefängnis verbracht. Obwohl die meisten von ihnen wegen Mangels an Beweisen wieder freigelassen wurden, führte das anschließende Verfahren auch zur Hinrichtung dreier Männer, zwei weitere landeten am Pranger. Auch Mother Clap selbst wurde verurteilt, am Pranger zu stehen, eine Erfahrung, die sie nicht überlebte.[20]

Der Fall hing weitgehend von zwei Sexarbeitern ab, die als Informanten fungierten. Der dreißigjährige Thomas Newton und der achtzehnjährige Edward Courtney waren dabei erwischt worden, wie sie in Londoner Schwulentreffs Sex verkauften, und um ihre eigene Haut zu retten, willigten sie ein, im sich an die Durchsuchung von Mother Claps Haus anschließenden Gerichtsverfahren als Zeugen auszusagen. Im Verfahren gegen George Kedger sagte Edward Courtney aus, Kedger habe ihn in Thomas Ormes molly house für Analverkehr bezahlt. Kedger stritt dies ab und behauptete, er habe ihm geraten, »diesen bösen Pfad des Lebens zu verlassen; aber er sagte, er wolle Geld, und das würde er so oder so bekommen, und wenn ich ihm nicht zu welchem verhelfen würde, dann wäre das mein Ende«.[21] Und das war es tatsächlich fast, denn Kedger wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt, später dann allerdings begnadigt.

Newton gestand, dass er regelmäßig Sex in molly houses verkauft und Verkehr mit William Griffin, Gabriel Lawrence, beide dreiundvierzig Jahre alt, und Thomas Wright, zweiunddreißig Jahre, gehabt habe. Alle drei Männer wurden zum Tode verurteilt und in Tyburn gehängt.

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Anonyme viktorianische Liebhaber beim Verkleiden und gegenseitigen Masturbieren.

Wenn die Androhung der Todesstrafe auch nicht reichte, um männliche Sexarbeiter abzuschrecken, so zwang sie den Handel doch in den Untergrund. Die Namen bekannter Stricher stammen demnach vorwiegend aus Gerichtsakten, wo die Männer vor ihrem Richter standen, beschämt, verängstigt und alles abstreitend. Ein Sexarbeiter jedoch, der ganz Großbritannien schockierte, weil er genau das nicht tat und sich selbst stolz »eine professionelle Mary-Ann« nannte, war Jack Saul (1857 – 1904).

Geboren als John Saul in einem Dubliner Armenviertel taucht Jack zum ersten Mal 1878 in den Akten auf, angeklagt des Diebstahls an Dr. John Joseph Cranny, der ihn als Hausgehilfe angestellt hatte.[22] 1879 zog er nach London, um dort sein Glück als Sexarbeiter zu machen. Zwei Jahre später erschienen Jacks erotische Memoiren The Sins of the Cities of the Plain or Recollections of a Mary-Ann, With Short Essays on Sodomy and Tribadism (1881). Wie viel davon tatsächlich wahr oder frei erfunden ist, weiß niemand, aber das Buch ist ein schön detailreicher Bericht von Jacks Hurereien im viktorianischen London.

Ich wollte ihn kommen sehen, also nahm ich meine Lippen weg, hielt dieses prächtige Ding über den Kaminvorleger und wichste es zügig. Es kam ihm beinahe sofort; erst ein einziger dicker Klumpen, wie Vulkangestein, dann spritzte ein ganzer Strahl von Sperma fast einen Meter hoch hinaus und genau ins Feuer hinein, wo es zischend auf den rotglühenden Kohlen verpuffte.[23]

Im Jahr 1889 wurde Saul in den sogenannten Cleveland-Street-Skandal verwickelt, als der Postmeister Luke Hanks in der Tasche eines bei ihm angestellten fünfzehnjährigen Telegramm-Jungen achtzehn Shilling fand.

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»Der West-End-Skandal, weitere Skizzen«, Illustrated Police News, 4. Dezember 1889.

Das entsprach dem Lohn von fast zwei Wochen, und Hanks verlangte zu wissen, woher das Geld stammte. So verhört gestand der Junge namens Charles Swinscow, dass er und viele andere Telegramm-Jungen sich dafür bezahlen ließen, in einem Schwulenbordell in der Cleveland Street 19 in Fitzrovia Sex mit wohlhabenden Männern zu haben. Das Bordell, so Swinscow, gehöre einem Charles Hammond. Die Polizei stellte die Cleveland Street unter Beobachtung, aber als Hammonds Grundstück dann endlich durchsucht wurde, hatte der sich einer Warnung folgend längst nach Frankreich abgesetzt. Der Skandal nahm erst so richtig an Fahrt auf, als die Namen derjenigen Männer an die Öffentlichkeit gelangten, die das Haus besucht hatten. Lord Arthur Somerset und der Earl of Euston Henry James Fitzroy wurden beide beschuldigt, und es gab Gerüchte, dass auch Prinz Albert Victor, der älteste Sohn des Prinzen von Wales, ein Stammkunde gewesen sein soll. Lord Arthur floh auf den Kontinent, und Prinz Albert versteckte sich in Indien, bis Gras über die Sache gewachsen war, aber der Earl of Euston verklagte den Journalisten Ernest Parke wegen Verleumdung, nachdem dieser ihn in der Presse erwähnt hatte.

Vor Gericht behauptete Henry James Fitzroy, er sei in die Cleveland Street 19 gekommen, weil er geglaubt habe, dort könne man nackte Frauen posieren sehen. Als er realisiert habe, was dort wirklich vor sich ging, sei er wieder gegangen. Jack Saul wurde in den Zeugenstand gerufen, um auszusagen, dass er regelmäßig Sex mit Fitzroy in der Cleveland Street gehabt habe. Was die britische Presse dabei besonders schockierte, war nicht nur die Offenheit, mit der Saul darüber berichtete, wie er seinen Lebensunterhalt als »Sodomit« verdiente, sondern die Tatsache, dass er dies anscheinend gerne tat.[24]

Bis dahin hatte die Presse die Jungen aus der Cleveland Street als unschuldige, von gewissenlosen Männern ausgebeutete Wesen beschrieben, aber Saul erzählte, wie sehr er »Champagner und Drinks« und seine »sehr komfortablen« Unterkünfte genoss.[25] Saul berichtete derart freimütig, dass der Richter ihn wiederholt zurechtweisen musste. Unfähig zu akzeptieren, dass irgendjemand als »professioneller Sodomit« glücklich sein konnte, stürzte sich die Presse auf ihn und beschimpfte ihn als »unzweifelhaft obszönes, abstoßendes, verabscheuungswürdiges Tier«.[26] Der Richter wies die Geschworenen an, Sauls Zeugenaussage zu ignorieren, und nannte sie »ein Meineid so niederträchtig, wie ihn ein Mann nur ablegen kann«.[27] Ernest Parke wurde der Verleumdung schuldig gesprochen und zu einem Jahr Zwangsarbeit verurteilt.

Trotz Sauls Bekenntnissen sah der Generalstaatsanwalt davon ab, ihn wegen Unzucht zu belangen. Der Grund dafür ist unbekannt, man vermutet aber, um Sauls wohlhabende Kunden zu schützen. Nach dem Verfahren kehrte Saul nach Dublin zurück und arbeitete wieder als Hausangestellter. Er starb 1904 mit sechsundvierzig Jahren an Tuberkulose und wurde anonym beigesetzt.

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Ein unbekanntes viktorianisches Pärchen liefert den eindeutigen Beweis dafür, dass wirklich alles schon mal da gewesen ist.

Durch die Geschichte hindurch haben Männer Sex verkauft, sei es als Sugar-Baby oder ganz unumwunden im Tausch gegen Geld. Ob es nun »die Liebe, die ihren Namen nicht zu nennen wagt« oder der Lebensunterhalt des »professionellen Sodomiten« war – männliche Sexarbeit hat es immer gegeben. Die Einstellungen zu Sexarbeit und schwulem Sex haben sich von Kultur zu Kultur verändert, aber das Stigma klebt ihnen beständig an den Fersen. Auch heute noch werden männliche Sexarbeiter fast immer ausgeschlossen, wenn es in den Medien um Sexarbeit geht. Das Bild der sexuell ausgebeuteten weiblichen Prostituierten bestimmt die Rhetorik derer, die Sexarbeit abgeschafft wissen möchten. Da ist kein Platz, um über die Männer zu sprechen, die Sex verkaufen, und über die Frauen, die ihn kaufen. Warum? Weil, wie Jack Saul es schon 1889 herausfand, die Befürworter*innen einer Abschaffung und diejenigen, die Sexarbeiter*innen »retten« möchten, alles ignorieren, was das Narrativ des missbrauchten Opfers herausfordert. Stigmatisierung und Bedrohung durch das Gesetz haben männliche Sexarbeiter über Jahrhunderte ins Abseits gestellt, aber sie verdienen viel mehr als das. Alle Sexarbeiter*innen tun das.