Hodentransplantationen im 20. Jahrhundert
Der Zusammenhang zwischen zu häufigem Ejakulieren und einer nachlassenden Gesundheit galt bis ins 20. Jahrhundert hinein als medizinischer Fakt. Was tut ein Kerl also, wenn ihm seine sexuelle Potenz abhandengekommen ist und seine Männlichkeit dringend einen Neustart braucht? Die offensichtliche Lösung für ein sinkendes Samenniveau war eine Aufstockung der Reserven. Im frühen 20. Jahrhundert entwickelte sich die chirurgische Verjüngung alternder Männer durch Genitaloperationen und Erhöhung der Samen- und/oder Sexualhormonmenge zum regelrechten Medizinhype. Abhängig davon, für welchen Arzt man sich entschied, wurde man einer bilateralen Vasektomie unterworfen oder bekam einen Affenhoden in den Hodensack transplantiert. Dies waren die frühen Tage von Endokrinologie und Hormonersatztherapie in der Medizin, und die Ärzte, die diese Prozeduren vorantrieben, priesen sie als absolute Jungbrunnen an (obwohl Spermabrunnen hier besser gepasst hätte). Aber bevor ihr euch jetzt bei eBay auf die Suche nach Affeneiern macht, solltet ihr wissen, dass diese Operationen mit den Dreißigerjahren in Verruf gerieten, als man herausfand, dass sie mehr Schaden als Nutzen brachten (und das galt für Menschen wie für Affen).
In den 1880er Jahren begann der französische Physiologe Charles-Édouard Brown-Séquard (1817 – 1894), sich selbst Hodenextrakte von Meerschweinchen und Hunden zu injizieren.[1] Er nannte sein Gebräu »Elixier des Lebens« und glaubte, es würde seinen eigenen »Samenschwund« wieder ausgleichen. »Ich möchte die Idee in den Raum stellen, dass wir, sofern es möglich ist, gefahrlos Samen ins Blut alter Männer zu injizieren, wahrscheinlich Anzeichen gesteigerter Aktivität im Hinblick auf die geistigen und verschiedensten körperlichen Kräfte würden verzeichnen können.« Und weiter:
Es ist weithin bekannt, dass Samenverluste, woher sie auch rühren mögen, eine geistige und körperliche Schwäche verursachen, die proportional zu deren Häufigkeit steht. Diese und viele andere Tatsachen haben zur allgemein anerkannten Auffassung geführt, dass es in der von den Hoden abgesonderten Samenflüssigkeit eine oder mehrere Substanzen gibt, die, aufgenommen über das Blut, einen maßgeblichen Nutzen für die Stärke unseres Nervensystems und anderer Teile des Körpers haben.[2]
Überzeugt davon, dass der Alterungsprozess durch das Einbringen von Sperma in den Körper aufgehalten werden könnte, begann Brown-Séquard, an Tieren herumzuexperimentieren. Er versuchte, Teile von Meerschweinchen in Rüden zu transplantieren, und injizierte alten Kaninchen das Blut oder das Sperma aus den Hoden jüngerer. Was man eben so macht.[3] In der festen Annahme, dieser Spermatausch sei positiv für die Versuchstiere, fing Brown-Séquard an, sich selbst eine Mischung aus Blut, Sperma und »Saft, entnommen den Hoden« von Hunden und Meerschweinchen zu spritzen.
Zu den drei Zutaten, die ich gerade genannt habe, fügte ich noch destilliertes Wasser in einer Menge hinzu, die das Drei- bis Vierfache deren Volumen nicht überstieg. […] Nachdem sie durch einen Papierfilter gelaufen war, hatte die Flüssigkeit einen rötlichen Farbton und war eher milchig […] Für jede Injektion verwendete ich einen knappen Kubikzentimeter der gefilterten Flüssigkeit.[4]
Unmittelbar nach diesen Injektionen, so berichtete er, konnte Brown-Séquard länger arbeiten, sich besser konzentrieren und mit zweiundsiebzig Jahren wieder Treppen hoch- und runterrennen. Er veröffentlichte seine Entdeckungen in The Lancet und legitimierte die Organotherapie als unbedenkliche medizinische Disziplin.[5]
Brown-Séquard mag ein früher Pionier gewesen sein, aber der Mann, der dafür verantwortlich war, dass operative Verjüngungen zum Mainstream wurden, war der in Russland geborene französische Chirurg Serge Voronoff (1866 – 1951). Voronoff war Labordirektor am renommierten Collège de France, als er sich mit der Transplantation von Affenhoden einen Namen machte, die Männern eingesetzt wurden, deren Spritzigkeit nachgelassen hatte. Voronoff war ein Experte in der Manipulation der Presse, und so stand seine Arbeit bald weltweit im Fokus.
Bevor er seine ganze Aufmerksamkeit den Affeneiern zuwendete, war Voronoff ein angesehener Gynäkologe gewesen und hatte mit Les Feuilles de Chirurgie et de Gynecologie (1910) Pionierarbeit auf dem Feld neuer chirurgischer Techniken geleistet. Beeinflusst von der Arbeit Brown-Séquards, startete Voronoff seine Tierversuche, um zu sehen, ob das Transplantieren von tierischen Hodendrüsen zu einer Verjüngung führte. Davon überzeugt präsentierte Voronoff dem französischen Chirurgenkongress 1919 seine Ergebnisse. Le Petit Parisien berichtete am nächsten Tag:
Doktor Serge Voronoff, Direktor des Physiologielabors des Collège de France, hielt einen erstaunlichen Beitrag zum Chirurgenkongress am gestrigen Tag bereit. Er behauptet, er habe alternde Ziegen und Schafböcke verjüngt und belebt, in dem er eine interstitielle Drüse von einem Tier in ein anderes derselben Rasse transplantiert habe […] Die gesamte Menschheit wird vom Erfolg Herrn Voronoffs profitieren, denn er arbeitet mit Eifer daran, ähnlich erfolgversprechende Ergebnisse zu erzielen, indem er alternden Männern die interstitielle Drüse von Affen transplantiert. Es spielt keine Rolle, was das für Drüsen sind. Wenn deren Einbringen mithilfe von Dr. Voronoffs Skalpell unseren müden Organismen Jugend und Vitalität schenken kann, mögen interstitielle Drüsen hochleben![6]
Nachdem er seine Experimente viele Hundert Male an Schafen, Hunden und Bullen wiederholt hatte, begann Voronoff im Jahr 1920 damit, Affendrüsen in Menschen zu transplantieren. Ursprünglich hatte er den Plan gehabt, menschliche Hoden von Leichen und Verbrechern zu verwenden, aber er begriff bald, dass es mit einem stetigen Nachschub schwierig werden könnte, also wurden es am Ende doch die Affeneier. Am Ende musste Voronoff eine Affenkolonie in der Nähe von Nizza kaufen, um die Nachfrage bedienen zu können.[7]
Die ganze Prozedur war so einfach wie schrecklich. Die Hoden des Schimpansen wurden entfernt und in Längsscheiben geschnitten. Dann wurde der Hodensack des Mannes aufgeschnitten, um die Hoden und Membranen freizulegen. Der zerschnittene Schimpansenhoden wurde unter die Tunica-vaginalis-Membran implantiert, dann wurde die Wunde wieder zugenäht. Die Idee war, dass die Affendrüsen direkt von den Sexualdrüsen des Patienten absorbiert würden. Der Affe wurde eingeschläfert.
Voronoff wusste, was Kundenreferenzen wert waren, und in seinem 1924 erschienenen Buch Forty-Three Grafts From Monkey to Man führte er sorgfältig seine vielen Erfolge auf, darunter den vierundsiebzigjährigen Engländer Arthur Liardet. Voronoff hatte Liardet 1921 einen Pavianhoden transplantiert und erklärte: »Dieser Mann wurde sicher um fünfzehn bis zwanzig Jahre verjüngt. Der körperliche Zustand, die Vitalität der Genitalien, alles hat sich radikal verändert durch die Hodentransplantation, die einen senilen alten Mann, schwach und bemitleidenswert, in einen kraftstrotzenden Mann mit allen Möglichkeiten verwandelt hat.«[8] Trotz dieser Verwandlung »von Tattergreis zu aktivem Mann in der Blütezeit seines Lebens« starb Liardet nur zwei Jahre später.[9] In seinem Buch Rejuvenation by Grafting von 1925 behauptete Voronoff unverdrossen, seine Patienten würden fünfzehn Jahre jünger erscheinen und weit verbreitete Leiden wie Verstopfung, Krämpfe, Abgeschlagenheit und Kolitis würden sich immens verbessern. Was Depressionen anginge, so würden die Patienten nach der Operation »alerter« wirken, »sie zeigten gesteigerte Vitalität, hatten fröhliche Augen und mehr Energie«.[10] Die am häufigsten genannten Leiden, die Voronoff behauptete, heilen zu können, waren natürlich Impotenz und fehlende Libido. Ein siebenundsechzigjähriger Patient berichtete, seine Libido sei nach der Operation in einem »außergewöhnlichen Ausmaß« wiedergekehrt.[11]
Trotz Voronoffs Selbstsicherheit war die wissenschaftliche Gemeinschaft immer weniger davon überzeugt, dass es eine gute Idee war, Affenhoden ins Skrotum alternder Männer einzunähen. Wissenschaftler versuchten, Voronoffs bemerkenswerten Erfolg zu wiederholen, und es gelang ihnen nicht. Der französische Veterinärchirurg Henri Velu experimentierte mit Hodentransplantationen bei Schafen, um deren Gesundheit zu verbessern, und stellte fest, dass das Ganze lediglich zu schlecht gelaunten Tieren führte. Er legte seine Erkenntnisse 1929 dem französischen Veterinäramt vor und nannte Voronoff »wahnhaft«. Ähnliche Studien aus Australien und Deutschland zeigten ebenfalls, dass Drüsentransplantationen keinerlei positive Effekte hatten.[12] Zu allem Übel wurde Voronoff wegen Misshandlung von Tieren die Arbeitserlaubnis für Großbritannien entzogen. Führende Tierversuchsgegner des Landes brandmarkten seine Vorstöße als »Angriff auf Moral, Hygiene und Anstand«.[13]
Aber wenigstens war Voronoff ein etablierter Chirurg, was man von dem Amerikaner John Richard Brinkley (1885 – 1942) nicht gerade behaupten kann. Der nämlich verpflanzte Ziegenhoden in menschliche Versuchskaninchen, ausgerüstet einzig und allein mit einem gekauften Diplom und einer Alles-ist-möglich-Einstellung.[14] Brinkley wurde als »Ziegendrüsendoktor« berühmt und verdiente eine Stange Geld damit, Männern weiszumachen, er könne ihnen mithilfe eines Ziegenbocks ihr Stehvermögen wiedergeben. Inspiriert von Verjüngerern wie Voronoff, operierte Brinkley Hunderte von Menschen (Männer wie Frauen). Weil er aber wirklich keinerlei Qualifikation hatte, waren Infektionen an der Tagesordnung, und viele Patient*innen starben. Zwischen 1930 und 1941 wurde Brinkley mehr als ein Dutzend Mal wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.[15] Schlussendlich entlarvte das Gericht Brinkley als »Scharlatan und Quacksalber im üblichen, allgemein gebräuchlichen Wortsinn«, und die im Anschluss losrollende Lawine an Klagen bedeutete letztendlich seinen Ruin.[16] Brinkley meldete 1941 Insolvenz an und starb verarmt im darauffolgenden Jahr.
Einem solchen Schicksal entging Voronoff, doch mit den späten Zwanzigerjahren erntete der einst gefeierte Chirurg mehr und mehr Gespött anstelle von Lobpreisungen. Im Jahr 1928, kurz vor Voronoffs Vorlesungsbeginn in London, schrieb George Bernard Shaw einen Brief an die London Daily News, verfasst aus der Perspektive eines Affen:
Wir Menschenaffen sind eine geduldige und freundliche Spezies, aber das hier ist mehr, als wir ertragen können. Hat irgendein Affe jemals einem lebendigen Mann die Drüsen herausgerissen, um sie wegen einer kurzen und unnatürlichen Verlängerung seines Lebens einem anderen Affen einzupflanzen? […] Der Mensch bleibt, was er immer gewesen ist, das grausamste aller Tiere. Lasst ihn seine groteske Ähnlichkeit zu uns nicht weiter ausbeuten; er wird bleiben, was er ist, egal wie sehr Dr. Voronoff sich bemüht, einen ehrbaren Affen aus ihm zu machen.
Hochachtungsvoll
Consul Junior, The Monkey House Regents Park,
26. Mai 1928.[17]
Voronoff erklärte 1929, er habe nun fast fünfhundert Drüsentransplantationen durchgeführt, doch er hatte seine Glaubwürdigkeit gegenüber der Öffentlichkeit und seinen Kollegen eingebüßt. Nicht nur wurden seine Theorien von neuen Forschungen widerlegt, auch seine Patienten alterten weiter, verfielen und starben. Irgendwann verlor Voronoffs Name in den Zeitungen seinen Glanz, seine Arbeit wurde weitgehend verurteilt, und bald sah man in ihm nur noch einen weiteren Quacksalber. Voronoff und seine Ideen mögen längst der Vergangenheit angehören, aber eine letzte verstörende Schleife bringt uns zu ihm zurück, denn es wird vermutet, dass der Trend, Affengewebe in Menschen zu transplantieren, dafür verantwortlich gewesen sein könnte, dass das Simiane Immundefizienz-Virus (HIV-1) vom Affen auf den Menschen übertragen wurde und damit zur globalen AIDS-Krise von heute führte.[18]
Eugen Steinach (1861 – 1944), Pionier auf dem Gebiet der Vasektomie zum Aufhalten des Alterungsprozesses – er starb trotzdem daran.
Voronoff war wohl der bekannteste Chirurg, der sich auf der Suche nach ewiger Jugend am Skrotum vergriff, aber er war mit Sicherheit nicht der einzige.* Der österreichische Physiologe Eugen Steinach (1861 – 1944) glaubte, dass eine bilaterale Vasektomie (beide Samenleiter werden durchtrennt) wie eine Art Stöpsel funktioniere, der das Sperma im Körper festhalte und dem müden Sexleben wieder Auftrieb gebe. Nach Experimenten an Ratten verfeinerte Steinach seine Technik nach und nach und machte schließlich mit Menschen weiter. Er behauptete, seine frühen Experimente würden nicht nur Impotenz heilen, sondern seine Patienten auch jünger, »lebensfroher und lebendiger« machen.[19] Vor der Operation wurden diese als »von lähmender Erschöpfung, Arbeitsunlust, Teilnahmslosigkeit und Depression beherrscht« beschrieben, »all dies schließt Fortschritt und jedwede Art von Wettbewerb aus«, und natürlich waren sie »impotent«.[20]
* Andere Ärzte, die in der Drüsen- und Verjüngungschirurgie arbeiteten, waren unter anderem Victor Darwin Lespinasse (1878 – 1946), George Frank Lydston (1858 – 1923) und Leo Leonidas Stanley (1886 – 1976).
Das Versprechen ewiger Jugend und eines gewaltigen hard-on (1864; Ständer) ist extrem verlockend, und es ist kein Wunder, dass die Öffentlichkeit so enthusiastisch auf Steinachs Schaffen reagierte.
Bald verbreitete sich die Nachricht von »Steinachs Operation«, und Ärzte wie Harry Benjamin, Robert Lichtenstern, Victor Blum und Norman Haire eröffneten ihre eigenen Kliniken und begannen, in ganz Europa und Amerika Männern die Nüsse zu verdrehen. Aber nicht alle waren davon überzeugt, dass operative Verjüngung funktionierte. Ein Leitartikel des Journal of the American Medical Association von 1924 prangert sie als anfällig für »Missbrauch und gigantische Ausbeutung« an und äußert sich verächtlich über diejenigen, die bereit seien, »derart neue Wege, um zu einem belebenden Ergebnis zu kommen«, einzuschlagen.[21] Doch das hielt zahlreiche Personen des öffentlichen Lebens nicht davon ab, sich unters Messer zu legen.
Den Quellen zufolge soll sich Sigmund Freud bei Dr. Victor Blum im Jahre 1923 einer Vasektomie unterzogen haben, um seinen Krebs zu heilen.[22] Der irische Dichter und Nobelpreisträger William Butler Yeats (1865 – 1939) ging dafür zu Dr. Norman Haire nach London, er versprach sich von einem Libido-Boost auch einen für die Qualität seiner Arbeit. Kurz nach der Operation schrieb Yeats einem Freund, er fühle sich nun »wunderbar stark, mit einer Vision von der Zukunft«.[23] Ethel Mannin allerdings, die nach dessen Operation eine kurze Beziehung mit Yeats gehabt hatte, nannte die Steinach-Operation später einen »Misserfolg«.[24] Autsch.
Misserfolg oder nicht, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versprachen Drüsen das große Geschäft. Zeitungen berichteten von riesigen Lieferungen von Rhesusaffen nach Australien, wo sie die »große Nachfrage nach Verjüngungsoperationen« bedienen sollten.[25] Dr. William Bailey, Direktor der American Endocrine Laboratories, skizzierte für die American Chemical Society 1924 sieben mögliche Methoden der chirurgischen Verjüngung:
1. Transplantation der Drüsen von einer Position an eine andere
2. Das Verpflanzen von tierischem Drüsengewebe in das eines Menschen (Voronoff-Methode)
3. Durchtrennen und unterbinden der Drüsenkanäle oder Vasoligatur (Steinach-Operation)
4. Einsatz von Röntgenstrahlung
5. Einsatz von Radiumstrahlung oder Gammastrahlung
6. »Narkotisieren« der Drüsen mit Jod oder Alkohol
7. »Diathermie«, oder der Einsatz von Hitze mittels hochfrequenter Elektrizität[26]
Es gab keinen Mangel an Chirurgen, die bereit waren, das beste Stück des Mannes allerlei Kurpfuschereien zu unterziehen, aber der heilige Gral unter den Drüsenmethoden war die Transplantation. Männer, die ihre Jugend dahinschwinden fühlten, scheuten keine Kosten und Mühen, um an ein paar elastische junge Drüsen zu kommen, legal oder nicht. Das Ausmaß dessen, was manche von ihnen zu tun bereit waren, offenbarte sich im Jahr 1922.
An einem hellen Chicagoer Sommermorgen fand man einen Mann Anfang dreißig bewusstlos vor einem Hauseingang, Ranch Avenue Ecke Adam Street, liegen. Da es ihnen nicht gelang, ihn wachzurütteln, brachten besorgte Anwohnende ihn ins örtliche Kreiskrankenhaus, wo man ihn bald darauf als Henry Johnson identifizierte, einen Elektriker, der bei seiner Schwester Beryl Heiber lebte. Ein Chirurgiepraktikant untersuchte Johnson und entdeckte, dass dessen Hoden aus dem Skrotum entfernt worden waren und man die Wunde antiseptisch gereinigt und »fachmännisch« wieder zugenäht hatte. Später entsann sich Johnson, dass er am Abend zuvor mit einem Freund in der Madison Street etwas getrunken hatte. Seine letzte Erinnerung bestand darin, wie er in die Straßenbahn stieg, um nach Hause zu fahren, dann sei alles schwarz geworden. Die Ärzte, die Johnson nun behandelten, waren der Ansicht, man habe ihn vor der Tat unter Drogen gesetzt, und betonten das chirurgische Können, das nötig sei, um einem Mann die Hoden zu entfernen, ohne dabei die Arterie zu verletzen. Doch Johnson schämte sich zu sehr für all das, um es bei der Polizei anzuzeigen, stattdessen machte er sich auf den Weg nach Hause und wieder an die Arbeit.
Vier Monate später, im Oktober, wachte der vierunddreißigjährige polnische Arbeiter Joseph Wozniak in einem verlassenen Haus auf. Er hatte kaum eine Erinnerung, wie er dorthin gekommen war. Wozniak war mit seinem Freund Kuchnisky auf einen Drink in der Milwaukee Avenue unterwegs gewesen, und das Letzte, was er wusste, war, wie er sich ein Taxi heranwinkte, um nach Hause zu fahren. Sein Kopf schmerzte, er fühlte sich desorientiert und hatte einen chemischen Geschmack im Mund. Es gelang Wozniak, sich bis nach Hause in die Seventeenth Street im Norden Chicagos zu schleppen. Im Laufe des nächsten Tages wurde der heftige Schmerz in seiner Leistengegend immer schlimmer, bis Wozniak schließlich ins Krankenhaus ging, wo Dr. Sampolinski ihn untersuchte und feststellte, dass auch seine Hoden entfernt worden waren. Der starke chemische Geschmack, den Wozniak im Mund hatte, kam von Chloroform.
Schockiert rief Dr. Sampolinski die Polizei, und sobald die Presse die Geschichte spitzgekriegt hatte, wurde weltweit von Joseph Wozniak, dem Opfer von »Drüsenraub«, berichtet. Wozniaks Trinkgefährte Kuchnisky war verschwunden. Die Polizei vermutete, ihn habe das gleiche Schicksal ereilt wie Wozniak, er sei aber zu beschämt, darüber zu sprechen, und halte sich deshalb versteckt.
Berichte über den Fall des Hodenraubs schafften es bis nach Großbritannien. Dundee Evening Telegraph, Montag, 16. Oktober 1922.
Als Henry Johnson in der Zeitung über den Fall Wozniak las, meldete er sich bei der Polizei und berichtete auch von seiner Entführung. Schnell wurde klar, dass diese Fälle nicht nur in Verbindung zueinander standen, sondern dass hier auch sehr wahrscheinlich ein Chirurg am Werk gewesen sein musste.
Es wird vermutet, dass diese Gräueltat von einer Bande Dieben ausgeführt wurde, um die aktuelle Nachfrage nach Drüsen zur menschlichen Verjüngung zu befriedigen. In den medizinischen Kreisen Chicagos herrscht größte Bestürzung. Dr. Sampolinski, der hinzugezogen wurde, um Wozniak zu behandeln, vermutet, die Drüsen seien wahrscheinlich für einen wohlhabenden betagten Patienten entnommen worden. Wozniak, ein polnischer Kriegsveteran, berichtete der Polizei, er habe am Abend vor der Tat einen Fremden kennengelernt, der ein gewisses Interesse an ihm zu haben schien und ihm zwei Pfund und mehrere Drinks spendiert hätte, nachdem er erfahren habe, dass Wozniak auf Jobsuche sei. »Er bestellte ein Taxi, das mich nach Hause bringen sollte«, erklärte Wozniak. »In dem Taxi saßen bereits vier weitere Männer, und bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde mir ein Sack über den Kopf gezogen, und ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich in einem verlassenen Haus. Ich war wie betäubt und hatte zunächst keine Ahnung, dass ich operiert worden war. Ich war noch benebelt von den Drinks […] Dann bemerkte ich den Geschmack von Chloroform in meinem Mund und verspürte einen heftigen Schmerz. Ich schaffte es, nach Hause zu kommen und [Dr.] Sampolinski aufzusuchen, der mich schließlich darüber aufklärte, was mit mir passiert war.«[27]
Im darauffolgenden Jahr gab es noch zwei weitere Übergriffe, die sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden ereigneten. Der Taxifahrer Charles Ream wurde betäubt, und man entfernte ihm beide Hoden, John Powell aus Nordchicago wurde verstümmelt, konnte aber mit intakten Hoden fliehen.
Führende Mediziner auf dem Gebiet der Verjüngungschirurgie beeilten sich, eine derartige Barbarei zu verurteilen und sich davon zu distanzieren. Voronoff selbst befand, »dem Chirurgen, der das getan hat, sollte das gleiche Schicksal widerfahren«.[28] Der Fall versetzte die Bewohner Chicagos in Angst und Schrecken, und die Polizei bereitete sich »auf eine Epidemie von Drüsenrauben vor, wie die Burke-und-Hare-Epidemie in [Großbritannien]«.** Glücklicherweise blieb die aus, aber die Täter wurden nie geschnappt.
** William Burke und William Hare begingen in Edingburgh 1827 und 1828 insgesamt sechzehn Morde. Die Leichen verkauften sie an die Anatomie-Abteilung des Edingburgh Medical College (Anm. d. Ü.).
Mit Hoden ließ sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts viel Geld machen, und unzählige Produkte überschwemmten den Markt, die die Vorteile einer Hodentransplantation ohne die Kosten und Risiken einer tatsächlichen Operation boten. Und anders als bei heutigen Beauty-Produkten brüstete man sich stolz mit all dem Hokuspokus-Eierkram, der sich darin befand. »Drüsenextrakt-Tabletten« versprachen »Perfektion ohne Medikamente«.
Drüsen-Gesichtscremes, so hieß es, »lassen alle Spuren von Linien, Falten, Krähenfüßen, schlaffer Muskulatur und anderen Schönheitsfehlern im Gesicht endgültig verschwinden«.
Mit der Zeit ließ der Hype um Drüsenchirurgie und drüsenbasierte Beauty-Produkte nach. Wie viele Menschen und Tiere genital verstümmelt wurden auf dieser Jagd nach sexueller Potenz und einer faltenfreien Stirn, ist unbekannt. Auch wenn uns der Gedanke, sich Affenhoden in die Genitalien einpflanzen zu lassen, dieser Tage vollkommen abscheulich vorkommt, so lassen sich manche Menschen in dem Versuch, die Zeit anzuhalten, auch heute noch auf extreme und bizarre Eingriffe ein. Plastische Chirurgie, Botoxinjektionen, Penisvergrößerungen, Vaginalliftings, Cremes und Zaubertränke und alle möglichen vermeintlichen Zaubermittel werden im Kampf gegen Alter und Impotenz herangezogen.
Wir mögen die Drüsenchirurgen heute belächeln, aber ich kann nicht ausschließen, dass ich mir das Gesicht mit einer Hodencreme einschmieren würde, wenn ich nur daran glaubte, dies könnte ein paar Falten den Garaus machen. Der Drüsen-Operationswahn des 20. Jahrhunderts ist ein Beweis sowohl für die menschliche Unsicherheit als auch unsere Eitelkeit. Aber selbst auf dem Höhepunkt von Voronoffs Ruhm gab es Leute, die andere ermahnten, diesen Quatsch sein zu lassen und das Alter mit ein bisschen mehr Würde zu tragen – eine Haltung, die heute genauso wichtig ist, wie sie es damals war.