Eine Geschichte der Jungfräulichkeitstests
Im Jahr 2017 veröffentlichten Wissenschaftler*innen der University of Minnesota einen systematischen Bericht über die Gesamtheit der vorhandenen, von Fachleuten überprüften Untersuchungen zur Verlässlichkeit sogenannter Jungfräulichkeitstests, bei denen das Hymen* geprüft wird, sowie über deren Auswirkungen auf die untersuchte Person. Das Team machte 1269 Studien aus. Die Ergebnisse wurden zusammengefasst und bewertet, und hier kommt das Fazit:
* Um den Quellen gerecht zu werden, wird im Folgenden der Begriff »Hymen« verwendet, wenn der Begriff »vulvinale Korona« für den Schleimhautkranz auch korrekt und angebracht ist (Anm. d. Ü.).
Diese Überprüfung ergab, dass Jungfräulichkeitsuntersuchungen, auch bekannt als Zwei-Finger-, Hymen- oder Vaginal-Untersuchungen, kein brauchbares klinisches Werkzeug darstellen und in körperlicher, psychologischer und sozialer Hinsicht verheerende Auswirkungen auf die untersuchte Person haben können. Im Hinblick auf die Menschenrechte stellen Jungfräulichkeitstests eine Form der Geschlechterdiskriminierung und eine Verletzung der Grundrechte dar, werden sie nicht einvernehmlich durchgeführt, sind sie als eine Form sexueller Gewalt zu betrachten.[1]
Im Jahr darauf, 2018, veröffentlichten die drei UN-Organisationen WHO, United Nations Human Rights und United Nations Women ein Statement mit dem Aufruf, Jungfräulichkeitstests zu beenden. »Jungfräulichkeitstests stellen eine Verletzung der Menschenrechte von Mädchen und Frauen dar und können die körperliche, physische und soziale Gesundheit von Frauen und Mädchen schädigen. Jungfräulichkeitstests untermauern ein stereotypes Verständnis von weiblicher Sexualität und die Geschlechterungleichheit.«[2] Einen verlässlichen Jungfräulichkeitstest gibt es nicht. Genauso wenig wie man einem Menschen auf den Bauchnabel gucken kann, um herauszufinden, ob er sich vegetarisch ernährt, kann man einem anderen Menschen zwischen die Beine gucken, um herauszufinden, ob er schon Sex hatte. Doch obwohl Jungfräulichkeit nicht über den Körper bewiesen, getestet oder lokalisiert werden kann, lassen sich einige Leute nicht beirren und behaupten noch immer anderes.
Leider wird der Jungfräulichkeit einer Frau noch heute an vielen Orten der Erde eine große Bedeutung beigemessen. Das hat zu einer Vielzahl zerstörerischer Rituale geführt, die sich um das Erhalten und das Nachweisen der sexuellen Reinheit von Frauen ranken und noch heute praktiziert werden. Die Tests beinhalten für gewöhnlich die Suche nach dem intakten Hymen, bekannt als Zwei-Finger-Test, und sollen auch die vaginale Festigkeit prüfen. Dieses Vorgehen ist bekannt unter anderem aus Afghanistan, Bangladesch, Ägypten, Indien, Indonesien, Iran, Jordanien, Palästina, Südafrika, Sri Lanka, Swasiland, der Türkei und Uganda. Die FGM National Clinical Group erklärt, dass die weibliche Genitalverstümmelung als Instrument gesehen wird, das »die Jungfräulichkeit eines Mädchens bis zur Heirat sicherstellen soll (zum Beispiel im Sudan, in Ägypten und Somalia).
Henry O’Neil, Jephthah’s daughter contemplating her virginity and her imminent death surrounded by woeful attendants with musical instruments (Jephthas Tochter beklagt ihre Jungfräulichkeit und ihren bevorstehenden Tod umgeben von ihrer klagenden Dienerschaft mit Musikinstrumenten), 1846.
In vielen dieser Länder wird FGM als Voraussetzung zur Heirat angesehen, und die Heirat ist unverzichtbar für das soziale und ökonomische Überleben einer Frau«.[3] Die WHO schätzt, dass weltweit zweihundert Millionen Mädchen der weiblichen Genitalverstümmelung unterzogen wurden, nicht zuletzt, um deren Jungfräulichkeit bis zur Heirat zu bewahren.[4]
Der Vorstellung der sexuellen Reinheit einer Frau als Voraussetzung für eine Heirat unterliegen viele Kulturen und Religionen rund um die Welt. In Indonesien ist ein Jungfräulichkeitstest Bedingung für Frauen, die in die Armee oder in den Polizeidienst eintreten wollen. In ganz Amerika werden sogenannte »Reinheitsbälle« veranstaltet: Der Vater führt seine Tochter aus, sie schwört, bis zur Hochzeit Jungfrau zu bleiben, und er schwört, ihre Jungfräulichkeit zu schützen, bis sie verheiratet ist (wahrscheinlich mit einer Schrotflinte und irgendeiner Art Alarmanlage). Heutzutage können sich Frauen gegen Geld ihr Hymen für den Heiratsmarkt rekonstruieren lassen, das Hymenoplastik-Business boomt. 2016 stellte eine Gemeinde in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal ein Hochschulstipendium für junge Frauen vor, die ihre Jungfräulichkeit beweisen können.[5] Und 2017 verursachten die russische Untersuchungsbehörde SKR und der Gesundheitsminister Vladimir Shuldyakov einen Eklat, weil sie Ärzte angewiesen hatten, Jungfräulichkeitstest bei Schülerinnen durchzuführen und jede ohne Hymen den Behörden zu melden.[6]
Es ist nicht nur unmöglich, Jungfräulichkeit nachzuweisen, sie ist auch schwer zu definieren. Man könnte meinen, das sei eine ganz klare Sache, aber sobald wir ein bisschen nachbohren, sieht das auf einmal ganz anders aus. Genauer gesagt, was wir unter erstem Sex verstehen, kann komplizierter sein, als wir zunächst denken. Wenn zwei Mädchen Sex miteinander haben, zählt das als Entjungferung? Was ist, wenn sie einen Strap-on benutzen? Wenn ein heterosexuelles Paar den ersten, zweiten und dritten Schritt geht, auf den vierten aber schwitzend und befriedigt verzichtet, kann man dann noch von Jungfrauen sprechen? Kann ich meine Jungfräulichkeit an mich selbst verlieren? Oder braucht es dafür eine Penis-Vagina-Penetration?
Wenn ja, schließt das gleichgeschlechtlichen Sex aus? Tummeln sich auf Gay-Pride-Demos in Wahrheit jede Menge Jungfrauen? Und was ist, wenn ein heterosexuelles Paar nur Analsex hat? Verliert er seine und sie behält ihre wegen eines technischen Details?
»Aber natürlich können unverheiratete Mädchen Pursettes verwenden!« Werbeanzeige aus den Sechzigerjahren von Pursette-Tampons.
Auch wenn es mittlerweile umfangreiche Untersuchungen dazu gibt, so sind zum Hymen doch noch immer viele Märchen im Umlauf. Manche Menschen glauben weiterhin, dass Sport und Reiten das Hymen beschädigen können (falsch), und noch in den Neunzigern versicherte der Hersteller Tampax, dass Tampons einem Mädchen nicht die Unschuld rauben. Sogar die Sprache rund um Jungfräulichkeit ist aufgeladen. Das Konzept des »Verlierens« oder »Bewahrens« der Jungfräulichkeit suggeriert, dass Frauen, wenn sie einmal verloren ist, etwas fehlt und sie nicht länger vollständig sind. Es geht davon aus, dass es so etwas wie Jungfräulichkeit als konkretes Merkmal überhaupt gibt. Metaphorisch gesprochen können wir unsere Jungfräulichkeit an jemanden verschenken, aber es ist ja nun nicht so, als könnte derjenige sie sich dann an die Wand hängen oder bei eBay weiterveräußern.
Die Idee der Jungfräulichkeit ist unbestreitbar geprägt von Geschlechterklischees, und der Grund dafür, dass wir glauben zu wissen, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, unsere »Kirsche« (1933; cherry) zu »verlieren«, liegt darin, dass wir ein unterbewusstes Verständnis von Jungfräulichkeit als Teil von Penis-in-Vagina-Sex haben. Das ist es, was »Zwangsheterosexualität« bedeutet. Hier ist nicht wortwörtlich gemeint, dass Heterosexualität ein Zwang ist, sondern dass unser kulturelles Drehbuch zur Sexualität sich mehr auf heterosexuellen Sex konzentriert als auf irgendeinen anderen: Er ist »normal« für uns geworden. Nun, das alles ist ohne Frage ein Cis-Privileg, aber auch das Ergebnis einer jahrtausendelangen kulturellen Konditionierung. Nur der gigantischen Arbeit von LGBTQ-Aktivist*innen der letzten fünfzig Jahre ist es zu verdanken, dass die Menschen angefangen haben, einen Raum zu schaffen, in dem über Alternativen zu Mann-Frau-Sex überhaupt gesprochen werden kann. Aber es liegt noch ein weiter Weg vor uns.
Wenn sich irgendjemand um Jungfräulichkeit Sorgen macht, dann geht es fast immer um die Jungfräulichkeit einer Frau. Das Wort bezeichnete ursprünglich ein unverheiratetes Mädchen oder eine unverheiratete Frau. Männer und Jungen wurden nie wie Frauen am Status ihrer Jungfräulichkeit gemessen. In der Geschichte wurden Frauen vielfach ausgestoßen, eingesperrt, mit einem Bußgeld belegt, verstümmelt, ausgepeitscht und sogar getötet, wenn sie ihre Jungfräulichkeit außerhalb einer Ehe verloren haben. Über vierzigjährige männliche Jungfrauen gibt es lediglich lustige Filme.**
** Dem gesellschaftlichen Ideal der Jungfräulichkeit steht eine Veröffentlichung des Journal of Sex Research entgegen, die zeigt, dass erwachsene Jungfrauen beider Geschlechter (älter als fünfundzwanzig) in den USA stark stigmatisiert werden und glauben, sie seien keine begehrenswerten Liebespartner*innen. Männliche Jungfrauen hatten das Gefühl, ihre Männlichkeit würde infrage gestellt, weibliche dachten, sie würden als »alte Jungfern« abgeschrieben. (Amanda N. Gesselman, Gregory D. Webster und Justin R. Garcia: »Has Virginity Lost Its Virtue? Relationship Stigma Associated with Being a Sexually Inexperienced Adult«, in: The Journal of Sex Research, 54, 2016, S. 202 – 223.)
Warum genau die weibliche Jungfräulichkeit so vehement hochgehalten wird, ist Gegenstand einiger Diskussionen, aber wahrscheinlich ist all das auf das Patriarchat zurückzuführen. Es ist unfair, aber in der Welt vor der Pille war eine Schwangerschaft außerhalb des Ehestandes eine Angelegenheit, die Müttern weit größere körperliche und finanzielle Probleme bereitete als den Vätern. Folglich wurden ihre »Fehltritte« kritischer betrachtet als seine. Und noch wichtiger, in einer paternalistischen Gesellschaft, in der Wohlstand und Macht auf den männlichen Erben übergehen, wird weibliche Keuschheit aufs Strengste kontrolliert, um die Rechtmäßigkeit der Nachkommen sicherzustellen und dafür Sorge zu tragen, dass weltliche Güter in den Besitz der eigenen genetischen Kinder übergehen (und nicht in den der Kinder des Milchmanns). Diese Theorie bekommt einiges an Gewicht, wenn wir daran denken, dass in den wenigen matrilinearen Gesellschaften auf der Welt der Wohlstand an die weiblichen Nachkommen weitergegeben wird. Und in diesen Kulturen wird weibliche Sexualität sehr anders betrachtet.***
*** Unter anderem die Minangkabau in West-Sumatra, Indonesien, die Mosuo in China, die Akan in Ghana, die Bribri in Costa Rica, die Garo und die Khasi im indischen Meghalaya und die Nagovisi in Papua-Neuguinea werden als matriarchal oder matrilinear organisierte Gesellschaften angesehen.
Heute ist der bekannteste »Beweis« für Jungfräulichkeit das Blut, das ein »gerissenes Hymen« verursacht. Aber unsere Ahnen verwendeten nicht einmal das Wort »Hymen«, und mit Sicherheit haben sie auch nicht wie die Goldgräber auf der Suche nach vergrabenen Schätzen irgendwelche Vaginen durchforstet. Tatsächlich ist in medizinischen Texten erst im 15. Jahrhundert die Rede vom Hymen.[7] Keiner der antiken Ärzte erwähnt es (Galen und Aristoteles zum Beispiel). Der griechische Arzt Soranos behauptete, dass jede vaginale Blutung nach dem Geschlechtsverkehr auf geplatzte Blutkörperchen zurückzuführen sei, er lehnte die Vorstellung irgendeiner Art Membran in der Vagina kategorisch ab.[8] Viele alte Texte räumen ein, dass Jungfrauen bluten können, wenn sie zum ersten Mal Sex haben, aber diese Tatsache wurde nicht mit dem Hymen in Verbindung gebracht. Man meinte vielmehr, das Bluten sei auf das Trauma der Penetration zurückzuführen und nicht Beweis genug für Jungfräulichkeit. Der italienische Arzt Giovanni Michele Savonarola war es, der Ende des 15. Jahrhunderts das erste Mal das Wort »Hymen« benutzte und es als Membran beschrieb, »die bei der Defloration reißt, womit das Blut fließt«[9]. Ab jetzt wurden Bemerkungen zum Hymen und dessen Zusammenhang mit Jungfräulichkeit häufiger. Aber nur weil unsere Ahnen nicht nach intakten Hymen suchten, heißt das nicht, dass die Jungfräulichkeit nicht gründlich überprüft wurde, bevor das Hymen zum Maßstab für die Frage wurde, ob sich hieran schon jemand zu schaffen gemacht hat.
Die berühmtesten Jungfrauen der antiken Welt waren Roms vestalische Jungfrauen. Die vestalischen Jungfrauen waren Priesterinnen, die der Göttin von Heim und Herd, Vesta, dienten. Als junge Mädchen wurden sie ausgewählt, um fortan dreißig Jahre in Verehrung und Keuschheit für die Stadt Rom zu leben und das Herdfeuer im Vesta-Tempel am Brennen zu halten. Eine Vestalin, die Sex hatte, wurde in ein Verlies gesperrt und dort ausgehungert.
Wie testet man also die Jungfräulichkeit einer Vestalin? Na ja, Beten spielt eine gewisse Rolle.
Man glaubte, die Vestalinnen hätten eine besondere Verbindung zu den Göttern und Göttinnen. Als die Vestalin Tuccia angeklagt wurde, gab man ihr darum die Chance, irgendein Wunder zu vollbringen und damit ihre Jungfräulichkeit zu beweisen. Valerius Maximus berichtet, Tuccia bewies ihre Jungfräulichkeit, indem sie Wasser in einem Sieb trug. Tuccia rief: »O Vesta, wenn es wahr ist, dass ich stets mit reinen Händen in deinem geheimen Dienste stand, dann mache jetzt, dass ich es mit diesem Sieb vermag, Wasser vom Tiber in deinen Tempel zu tragen.«[10] Seit dieser Geschichte ist das Sieb ein Symbol für Jungfräulichkeit, Queen Elizabeth I. wurde mehrfach mit einem porträtiert, um klarzustellen, dass noch niemand ihre Kirsche gepflückt hatte. Wenn man aber zufällig gerade kein Sieb zur Hand hatte, gab es auch noch andere Möglichkeiten, seine Jungfernschaft zu beweisen – alles, was es brauchte, waren eine Schlange, ein paar Ameisen und ein Kuchen. Der römische Gelehrte Aelinius (ca. 175 – 235 n. Chr.) beschrieb ein Testritual, das an Feiertagen vollzogen wurde:
In einem Wald liegt eine riesige, tiefe Höhle, das Versteck einer Schlange. An festgelegten Feiertagen tragen Jungfern Gerstenkuchen dorthin, die Augen verbunden. Die göttliche Eingebung geleitet sie auf einem sicheren Weg und ohne Stolpern geradewegs zur Schlange. Sind sie noch Jungfrauen, gibt die Schlange Antwort und nimmt die Speise an, wenn nicht, bleibt sie unangetastet. Ameisen brechen den Kuchen der Deflorierten auf, tragen die Stückchen aus der Höhle und reinigen so den Platz. Die Menschen erfahren vom Ergebnis, die Mädchen werden untersucht, und diejenige, die ihre Jungfräulichkeit verraten hat, wird bestraft.[11]
Worin genau diese »Bestrafung« bestand, das wird nicht erörtert, und wenn man bedenkt, dass Schlangen nicht gerade für ihren Hang zu Marmorkuchen bekannt sind, erscheint einem der Test doch ziemlich unfair.
Aber um wirklich ganz sicher sein zu können, dass das Siegel nicht gebrochen wurde, brauchte man eine Flasche Pipi. Die Schrift De Secretis Mulierum aus dem 13. Jahrhundert erklärt, der Urin einer Jungfrau sei »klar und hell, manchmal weiß, manchmal funkelnd«.
Der Grund dafür, dass »verdorbene Frauen« einen »trüben Urin« hätten, liege am »Riss« der Haut und am »Sperma des Mannes«, das »am Grund« auftauche.[12] Perrier pissen mag ein netter Partygag sein, aber es gibt noch andere beachtenswerte Anzeichen. Wilhelm von Saliceto (ca. 1210 – 1277) schrieb: »Eine Jungfrau uriniert mit einem feineren Rauschen«, und würde man das Ganze mit einer Stoppuhr messen, so könnte man sehen, dass es »tatsächlich länger dauert als bei einem kleinen Jungen«.[13]
Mittelalterliche Jungfräulichkeitstests sind ziemlich urinfokussiert, und so war auch der italienische Arzt Niccolo Falucci ein Pisse-Prophet, wenn er auch noch ein paar besondere Asse im Ärmel hatte:
Bedeckt man eine Frau mit einem Tuch und räuchert sie mit bester Kohle ein, dann wird sie, wenn sie noch Jungfrau ist, deren Geruch mit Mund und Nase nicht wahrnehmen; wenn sie es doch tut, ist sie keine Jungfrau. Wenn sie die Kohle in einem Getränk zu sich nimmt, wird sie sofort Urin ausscheiden, wenn sie keine Jungfrau ist. Eine verdorbene Frau wird außerdem auch dann sofort urinieren, wenn eine Räucherung mit Herzmuscheln vorgenommen wird. Wird mit Ampfer geräuchert, wird eine Jungfrau sogleich blass, ist die Frau aber keine, so ergießt sie sich ins Feuer, dies und anderes wird über sie berichtet.[14]
Das anonym und auf Hebräisch verfasste Sever Ahavat Nashim (Book of Women’s Love) aus dem 13. Jahrhundert stellt fest: »Am Abend soll das Mädchen auf ›marshmallows‹ urinieren und sie am Morgen mitbringen; sind sie noch frisch, so ist sie anständig und gut, wenn nicht, ist sie es nicht.«[15] Bevor hier jetzt jemand in eine Tüte Mäusespeck pinkelt: Bei den Marshmallows, die hier gemeint sind, handelt es sich um den alten englischen Namen für eine Heilpflanze namens Sumpfmalve (Eibisch).
Falls man aus irgendeinem Grund Schwierigkeiten haben sollte, das Pipi der Auserkorenen zu inspizieren, ihm zu lauschen oder seine Rauslaufzeit zu stoppen, muss man wohl ihre gesamte Gestalt in Augenschein nehmen auf der Suche nach Hinweisen, dass ihre Unschuld bereits geraubt wurde. Bevor er erklärt, dass die Pisse einer Jungfrau funkelt, sagt uns Pseudo-Albertus Magnus in De Secretis Mulierum, worauf man achten sollte: »Die Anzeichen für Keuschheit sind diese: Scham, Bescheidenheit, Furcht, ein makelloser Gang und Ausdruck, das Niederschlagen der Augen vor Männern und deren Handlungen.« (Das sind übrigens auch die Anzeichen dafür, dass sie eine Familienpizza für sich allein bestellt hat und jetzt hofft, dass niemand die Beweise im Mülleimer bemerkt.) »Magnus« fährt fort:
Wenn die Brüste eines Mädchens nach unten zeigen, ist das ein Zeichen dafür, dass sie besudelt wurde, denn im Augenblick der Schwängerung bewegt sich die Menstruation nach oben, und das zusätzliche Gewicht lässt die Brüste hängen. Wenn ein Mann Geschlechtsverkehr mit einer Frau hat und sich sein Penis nicht wund anfühlt und er keine Probleme hat einzudringen, ist das ein Zeichen dafür, dass sie schon verdorben wurde. Jedoch ist es ein sicherer Hinweis auf die Jungfräulichkeit einer Frau, wenn der Akt schwierig zu vollziehen ist und ein Wundgefühl am Glied verursacht.[16]
Als die Hymenprüfung erst einmal zum Go-to-Jungfräulichkeitstest geworden war, geriet das Untersuchen auf funkelndes, leise plätscherndes Pipi, straffe Brüste und die Fähigkeit, Kohle einzuatmen, ohne sich einzunässen, weitgehend in Vergessenheit. Jungfräulichkeitstests konzentrierten sich jetzt voll und ganz auf Straffheit und Blut.
Blutige Bettlaken als Beweis für die Jungfräulichkeit einer Frau spielen noch heute in weiten Teilen der Welt eine Rolle, wenn auch seltener. In manchen Regionen Georgiens haben Bräute eine »Yenge«, meist ein älteres Familienmitglied, die sie darauf vorbereitet, was sie in ihrer Hochzeitsnacht erwartet. Traditionell war es die Aufgabe der Yenge, die blutigen Laken des Ehebetts zu nehmen und sie den Familien vorzuführen, als Beweis dafür, dass die Braut Anfängerin auf dem Gebiet gewesen ist. Zwar ist die Rolle der Yenge heute weitestgehend eine rituelle, doch das Präsentieren von blutigen Laken findet in manchen Gegenden noch immer statt.[17]
Der Blutige-Laken-Test hat eine lange Tradition. Wir finden ihn in der Bibel und in mittelalterlichen Romanzen, sogar Katharina von Aragon soll angeblich ein blutbeflecktes Laken präsentiert haben, um zu beweisen, dass sie Henry VIII. als Jungfrau geheiratet hatte.[18] Seit sich die Menschen diesem extrem mangelhaften Test verschrieben haben, wurden natürlich auch Mittel und Wege gefunden, ihn zu fälschen. Wenn man bedenkt, was auf dem Spiel stand, sollte das Jungfräulichkeitsgeschenk vor dem Jawort bereits von einem anderen ausgepackt worden sein, dann versteht man gut, warum eine Frau in ihrer Hochzeitsnacht eventuell ein wenig flunkert. Und ebenso lang, wie uns mittelalterliche Texte schon erzählen wollen, wie man Jungfräulichkeit nachweist, so lange geben sie uns auch Ratschläge dazu, wie man sie bewahrt. Trotula werden drei italienische Texte aus dem 12. Jahrhundert genannt, die sich mit der Gesundheit von Frauen beschäftigen. Mindestens einer der drei wurde von einer Frau verfasst, Trota von Salerno, die in der süditalienischen Küstenstadt Salerno Heilkunst betrieb. Das Werk hält diesen ganz besonders kruden Rat für Frauen bereit, deren Unschuld bereits zum Teufel ist:
In Silber gefasste aufklappbare Kaurimuschel mit einer Malerei, die einen Mann zeigt, der den Keuschheitsgürtel einer sich zurücklehnenden Frau öffnet.
Dieses Mittel wird von jeder jungen Frau benötigt, die sich dazu hat verleiten lassen, ihre Beine zu öffnen und ihre Jungfräulichkeit zu verlieren durch die Torheiten der Leidenschaft, geheimer Liebschaften und Versprechungen […] Rückt die Hochzeit näher, muss die falsche Jungfrau ihren Mann folgendermaßen täuschen, damit er nichts erfährt. Sie nehme gemahlenen Zucker, ein Eiweiß und Alaun und vermenge das Ganze mit Regenwasser, in dem Poleiminze und Bergminze zusammen mit ähnlichen Kräutern gekocht wurden. Mit einem in dieser Mischung getränkten, grobporigen Tuch wasche sie nun ihre Blöße.
Am besten aber ist dieser Schwindel: Am Tag vor ihrer Hochzeit soll sie vorsichtig einen Blutegel auf ihre Vulvalippen setzen und dabei aufpassen, dass er nicht hineingleitet; aus dieser Stelle wird Blut hervortreten und eine kleine Kruste wird sich bilden. Durch den Blutstrom und den beengten Kanal ihrer Vagina wird der Mann beim Beischlaf von der falschen Jungfrau getäuscht.[19]
Das Book of Women’s Love empfiehlt Folgendes zur Wiederherstellung der Jungfräulichkeit: »Nimm Myrtenblätter und koche sie gründlich in Wasser, bis nur noch ein Drittel davon übrig bleibt; dann nimm Brennnesseln ohne Stacheln und koche sie in diesem Wasser, bis ein Drittel übrig bleibt. Neun Tage lang soll sie ihre Blöße morgens und abends mit diesem Wasser waschen.« Wenn du es allerdings richtig eilig hast, »nimm Muskatnuss und zermahle sie zu einem Pulver; trage es dort auf, und ihre Jungfräulichkeit ist sofort wiederhergestellt«.[20] Nicolas Venette (1633 – 1698), der französische Autor von Tableau de l’amour conjugal, hatte diesen Tipp, um Jungfernschaft vorzutäuschen:
Bereite ein Bad aus Blättern der Malve und des Greiskrauts zu, mit ein paar Handvoll Leinsamen und Flohkrautsamen, Gartenmelde, Bärenklau oder Nieswurz. Lasse sie eine Stunde lang darin baden, dann soll sie abgewischt und zwei oder drei Stunden nach dem Baden untersucht werden, bis dahin muss man sie genau beobachten. Wenn eine Frau eine Jungfrau ist, sind die Teile ihres Geschlechts zusammengedrückt und liegen eng aneinander, wenn nicht, so sind sie schlaff und locker und treten frech hervor, anstatt faltig und eng zu sein, wie sie es waren, bevor sie sich entschied, uns aufzusuchen.[21]
Wie Hanne Blank in ihrem großartigen Buch Virgin: The Untouched History ausführt, waren viele der hier genannten Zutaten Adstringenzien oder Entzündungshemmer, von denen man glaubte, sie würden die Vagina festigen. Auch wenn Venette es hier nicht aufführt, war einer der bekanntesten Fotzen-Festiger Alaunwasser. In seinem Dictionary of the Vulgar Tongue (1785) beschreibt Francis Grose das »Runzelwasser« so: »Wasser, mit Alaun versetzt, wird von alten erfahrenen Händlern benutzt, um Jungfräulichkeit vorzutäuschen.«[22] Alaune bilden eine Gruppe chemischer Verbindungen, die heute vielfach in der Lebensmittelindustrie eingesetzt werden. Es ist verrückt, aber da draußen gibt es zahlreiche Internetseiten, auf denen noch immer Alaun zur Festigung der Vagina empfohlen wird. Ich möchte diesen Moment nutzen, um zu sagen: Um Gottes willen, bitte tut das euren armen Mumus nicht an! Macht schön euer Beckenbodentraining und bleibt zuversichtlich.
Titelseite von Nocturnal Reveals, or: The History of King’s-Place, and Other Modern Nunneries, 1779.
Ein weiterer Grund dafür, warum ein Mädchen als Novizin hätte durchgehen wollen, war neben der Hochzeitsnacht die Tatsache, dass Jungfrauen begehrte Mangelware darstellten. Im 18. Jahrhundert waren Jungfrauen ein lukratives Geschäft, und jede Sexarbeiterin wusste, wie man ein Hymen für den maximalen Profit rekonstruierte. Nocturnal Reveals (1779) liefert unzweideutige Details über Frauen, die ihre Jungfräulichkeit wiederholt verkaufen, und zitiert die berühmte Charlotte Hayes, die gesagt haben soll, Jungfräulichkeit vorzutäuschen sei »so leicht wie Pudding kochen«. Weiter gibt sie an, ihre eigene »Tausende Male« verkauft zu haben.[23] Die titelgebende Heldin in Fanny Hill (1749) erklärt den Leser*innen ganz genau, wie Jungfräulichkeit in der Sexindustrie gefakt wird:
In jedem Pfosten des Bett-Kopfteils, genau über dem Punkt, wo das Bettgestell ist, gab es eine kleine Schublade, so kunstvoll an die Holzarbeiten angepasst, dass sie auch bei gründlichster Suche verborgen blieb: Diese Schubladen öffneten und schlossen sich bei der kleinsten Berührung einer Sprungfeder und waren mit einem flachen Glasgefäß ausgestattet, das randvoll war mit künstlichem Blut, in dem vollgesogen und gebrauchsfertig ein Schwamm lag, nach dem man nur still die Hand ausstrecken musste, um ihn herauszunehmen und ordentlich zwischen den Schenkeln auszudrücken, wobei mehr Blut austrat, als zur Ehrenrettung eines Mädchens nötig gewesen wäre.[24]
Andere raffinierte Tricks waren Sex während der Menstruation und das Platzieren von Vogelherzen oder mit Blut gefüllten und wieder zugenähten Schweineblasen in der Vagina, was »Bluten« auf Knopfdruck garantierte.[25]
War der Glaube an die blutende Jungfrau historisch gesehen auch tief verwurzelt, wurde all das doch nicht komplett einhellig von der wissenschaftlichen Gemeinschaft angenommen. Immer gab es auch einsame Stimmen der Vernunft, die erkannten, was für ein Haufen Mist das war.
Ärzte wie Ambroise Paré lehnten nicht nur die Idee ab, dass Jungfräulichkeit mithilfe eines Hymens nachgewiesen werden könne, er stellte auch schon 1573 die Behauptung auf, dass es so ein Ding überhaupt nicht gebe. Seit damals wurde immer wieder hinter vorgehaltener Hand geflüstert, das Hymen könnte vielleicht nicht der Echtheitsbeweis sein, als der es angepriesen wurde. Im 19. Jahrhundert war aus diesem Flüstern ein hörbares Grummeln geworden. Dr. James Blundell stellte den Wert dieser »geheimnisvollen Membran« infrage, und Erasmus Wilson stellte 1831 klar, das Hymen dürfe »nicht als notwendige Begleiterscheinung der Jungfräulichkeit« bewertet werden.[26] Edward Foote schrieb: »Das Hymen ist ein grausamer und unverlässlicher Jungfräulichkeitstest« und: »Ärzte wissen, es ist ein sehr fehlerhafter Jungfräulichkeitstest.«[27] Mit dem 20. Jahrhundert wurde aus dem Grummeln ein ohrenbetäubendes Geschrei, und im 21. Jahrhundert trat an den Platz dieses Geschreis ein dramatisches Augenrollen, begleitet von einem entnervten »Meine Güte! Nicht dieser Scheiß schon wieder!«. Die Forschungsarbeit der University of Minnesota, die ich am Anfang dieses Kapitels erwähnt habe, erfasste in elektronischen Datenbanken ganze 1 269 Studien, die die Wirksamkeit von Jungfräulichkeitstests und die Verlässlichkeit der Hymenüberprüfung untersuchen, und sie kommt überwältigend eindeutig zu dem Schluss, dass es unmöglich ist zu »beweisen«, dass jemand eine Jungfrau ist, und dass Hymen einen feuchten Kehricht über die sexuelle Vergangenheit ihrer Besitzerinnen aussagen.[28] Trotzdem hält sich der Mythos hartnäckig, und Frauen werden regelmäßig sinnlosen und übergriffigen Untersuchungen unterzogen, die den Stand ihrer sexuellen Erfahrung feststellen sollen.
Heute werden Jungfräulichkeitsuntersuchungen größtenteils bei unverheirateten Mädchen und Frauen durchgeführt, oft ohne Einverständnis oder in Situationen, in denen es den Betroffenen unmöglich ist, ihr Einverständnis zu geben.[29] Jungfräulichkeitstests an Schulmädchen finden in Südafrika und Eswatini mit dem Ziel statt, voreheliche sexuelle Aktivität zu verhindern. In Indien war der Test bis 2013 Teil der medizinischen Untersuchungen von weiblichen Vergewaltigungsopfern. In Indonesien wurden noch bis 2021 Polizeirekrutinnen im Zuge ihrer Bewerbung dem Test unterzogen.[30] Aber selbst wenn sich Jungfräulichkeit auf diese Art nachweisen ließe, es geht hier letztlich nicht um die Untersuchung selbst (auch wenn die schon schlimm genug ist) – die kulturelle Haltung, mit der der Wert von Frauen anhand der Frage bemessen wird, ob sie sexuell aktiv sind oder nicht, ist das eigentliche Problem. Es ist unmöglich, mit einer Untersuchung der Genitalien nachzuweisen, ob jemand bereits Sex hatte oder nicht, denn »Jungfräulichkeit« ist nichts Greifbares. Das Hymen ist einfach nur dehnbares Gewebe in der Vagina, aber es verschließt diese nicht wie ein Tupperdeckel eine Tupperdose. Hymen gibt es in vielen Formen und Stärken – manche bluten, wenn sie angerissen werden, andere nicht. Aber auf keinen Fall »zerplatzt« es, und es kann über die sexuelle Vergangenheit eines Menschen nicht mehr berichten als ein Ellbogen. Man kann seine Jungfräulichkeit nicht »verlieren«, denn Jungfräulichkeit ist eine Erfindung, kein physischer Fakt – wie sehr die Pisse auch funkeln mag.