Orgasmus und Onanie
Vom weiblichen Orgasmus wird oft gesprochen, als wäre er ein versteckter Schatz, den man nur mit der Hilfe von Karten, genauen Anweisungen und ordentlich Proviant finden kann. Der unerschrockene Sexabenteurer zieht wie Indiana Jones mutig los, um die Mysterien des weiblichen Körpers zu erforschen, die Hinweise zu lesen, das Puzzle zu lösen und dann weise innezuhalten, bevor er aus dem Heiligen Gral trinkt. Der männliche Orgasmus hingegen wird wie eine Coladose behandelt: schütteln, bis sie explodiert und alles klebrig macht. Mission erfüllt.
Fast alle Slangausdrücke für Orgasmus beziehen sich seit jeher auf den männlichen, nicht den weiblichen Orgasmus. Wenn es um Orgasmussprache geht, müssen die Frauen sie mit den Männern teilen, sie besitzen kaum eine eigene: »Kommen«, »Klimax« und »Höhepunkt«, alle unisex, mit Ausnahme vielleicht von squirting.* Während es unendlich viele Bezeichnungen für Sperma gibt – wie viele fallen uns ein für das natürliche Gleitgel, das Frauen beim Sex produzieren? Im Englischen gibt es dafür nicht einmal ein eigenständiges Wort. Im medizinischen Fachjargon spricht man von vaginal mucus oder vaginal secretion, Vaginalsekret. In Frankreich nennt man die Flüssigkeit cyprine, von »Zypern«, dem Geburtsort von Aphrodite, der Göttin der Liebe. Um nicht von den Franzosen abgehängt zu werden, trat in den Neunzigern Roger’s Profanisaurus auf den Plan, um die lexikalische Ödnis Englands mit solchen Juwelen wie fanny batter und gusset icing zu beleben (etwa »Mösenteig« und »Zwickelglasur«). So willkommen solche Beiträge auch sein mögen, es bleibt ein Fakt, dass die Synonyme für Sperma ein ganzes Wörterbuch füllen könnten und die fürs weibliche Äquivalent nur für eine kurze Fußnote reichen würden.
* Im Englischen gibt es mehr dieser Unisex-Ausdrücke: cumming, spending, climaxing, orgasming werden hier erwähnt (Anm. d. Ü.).
Wahrscheinlich ist es nicht allzu überraschend, dass der männliche und der weibliche Orgasmus so unterschiedlich diskutiert werden. Elisabeth Lloyds umfangreiche Analyse von dreiunddreißig Studien aus achtzig Jahren zu unserem Sexualverhalten zeigt, dass bis zu achtzig Prozent der Frauen Schwierigkeiten haben, bei rein vaginalem Geschlechtsverkehr zum Höhepunkt zu kommen. Zwischen fünf und zehn Prozent der Frauen hatten noch nie einen Orgasmus.[1] Niemals. Bisher gibt es zwar lediglich eine Handvoll Studien zum Orgasmus von Transfrauen nach penil-invasiver Vaginoplastie, aber diese zeigen, dass achtzehn Prozent der Transfrauen nicht allein durch Masturbation zum Orgasmus kommen können, vierzehn Prozent über Anorgasmie klagen und bis zu zwanzig Prozent insgesamt Schwierigkeiten haben, seit der Operation den Höhepunkt zu erreichen.[2] Studien haben außerdem gezeigt, dass die meisten Frauen mindestens zwanzig Minuten brauchen, um zu kommen, und dass es eine Million Faktoren gibt, die das Ganze kaputtmachen können: Alter, Stress, Stimmung, Geruch, Selbstwertgefühl.[3] Offen gesagt, die Fluchtgefahr ist ziemlich groß.
Im Vergleich dazu scheint der männliche Orgasmus ziemlich unkompliziert zu sein, aber seine Geschichte ist alles andere als das. Das historische Verständnis dessen, was mit dem Körper und der Seele eines Mannes passiert, wenn er kommt, ist dunkel und äußerst verstörend. Von mittelalterlichen Theologen, die bei Impotenz tatsächlich Bohnen empfahlen, weil sie glaubten, eine Erektion käme durch in den Penis strömende Luft zustande, bis hin zu den Priestern der Kybele in Rom, die sich in wilden Zeremonien selbst kastrierten – es war ein steiniger Weg für den hot rod (1972). Aber ich möchte mich hier auf die Verbindung zwischen Orgasmus und Energie konzentrieren, auf die alte Theorie, dass der Orgasmus den Mann schwächt und dessen Manneskraft buchstäblich abfließen lässt. Ihr wisst schon. In Rocky (1976) warnt Mickey, der legendäre Trainer des italienischen Haudraufs, Frauen würden die Beine schwächen.[4] Der britische Sprinter Linford Christie berichtete, nach Sex in der Nacht vor einem Rennen würden sich seine Beine »wie Blei« anfühlen.[5] Boxer Carl Froch verzichtete drei Monate lang auf Sex, bevor er George Groves im Weltmeisterschaftskampf ausknockte.[6] Bei jeder Fußballweltmeisterschaft wird gemunkelt, welcher Trainer seine Spieler mit einem Sex-Embargo vor dem Spiel belegt hat.
Bevor wir weitermachen, ist es wichtig festzuhalten, dass es absolut keine wissenschaftlichen Daten gibt, die diese Theorie stützen. Ein systematischer Überblick von 2016 über alle vorliegenden wissenschaftlichen Hinweise auf die Effekte sexueller Aktivität auf die sportliche Performance stellte fest: »Die Erkenntnisse deuten darauf hin, dass sexuelle Aktivität am Tag vor einem Wettkampf keinen negativen Einfluss auf die Leistung hat.«[7] Der Manager der New York Yankees, Casey Stengel, hat einmal gesagt, es sei »nicht der Sex, der diese Typen fertigmacht, es ist die nächtliche Suche danach«.[8] Wie auch immer, der Mythos lebt.
Die Theorie, ein Orgasmus erzeuge ein Energietief, reicht bis ins alte China und den Taoismus zurück. Eine fundamentale Überzeugung im Taoismus besteht in der Lebenskraft des Spermas (yuan ching) und darin, dass das Sperma den Körper nicht verlassen, sondern von ihm resorbiert werden sollte, um das Gehirn zu nähren (huan jing). Männer werden zwar ermutigt, Sex zu haben, sie sollen aber nicht ejakulieren, damit die Lebenskraft erhalten bleibt. Su Nu Ching (zwischen 200 – 500 n. Chr.) ist ein in Form eines Streitgesprächs zwischen dem Gelben Anführer und der Göttin Su Nu geschriebener Text. Der Anführer fragt die Göttin, wie er seine Lebensenergien erhalten könne, und sie rät ihm, beim Sex nicht zu ejakulieren.
Ein Akt ohne Erguss macht das Chi stark. Zwei Akte ohne Erguss schärfen das Gehör und klären die Sicht. Drei Akte ohne Erguss lassen alle Leiden verschwinden. Vier Akte ohne Erguss, und die »fünf Elemente« kommen alle ins Reine. Fünf Akte ohne Erguss, und der Puls geht ruhig und entspannt. Sechs Akte ohne Erguss stärken Taille und Rücken. Sieben Akte ohne Erguss geben Gesäß und Schenkeln Kraft. Acht Akte ohne Erguss lassen den ganzen Körper strahlen. Neun Akte ohne Erguss, und du wirst dich einer unbegrenzten Lebensdauer erfreuen können. Zehn Akte ohne Erguss, und du wirst ins Königreich der Unsterblichen gelangen.[9]
Akupunktur-/Moxibustionstafel, die den Jinggong-Punkt zeigt (Palast der Essenz/des Samens). Aus Chuanwu lingji lu (Aufzeichnungen des Herrschers), von Zhang Youheng. Diese Arbeit hat nur als Manuskriptkopie überlebt, die 1869 fertiggestellt wurde.
Der Taoismus lehrte, dass die Aufnahme des Vaginalsekrets das Yang stärke, die männliche Essenz. Die Pussy wurde also nicht nur gefeiert, sie galt auch als Superfood.
Zieht euch das rein, ihr labbrigen Kale Chips! Das Spermazurückhalten wird noch immer in taoistischen und Neotantra-Gruppierungen ausgeübt, die daran glauben, dass Energie und Gesundheit durch so einen Sperma-Stöpsel gesteigert werden können. Aber bevor hier jetzt alle anfangen, ihr Sperma wie eine Art Zauberwichse zu horten: Die Harvard University hat einen Zusammenhang zwischen Ejakulation und Prostatakrebs gefunden. »Männer, die aufs Leben gerechnet einundzwanzigmal oder öfter pro Monat ejakulierten, hatten ein um dreiunddreißig Prozent geringeres Risiko, an Prostatakrebs zu erkranken, als Männer, die von vier bis sieben Ejakulationen pro Monat berichteten.«[10] Eine australische Studie zeigte ähnliche Ergebnisse, dort fand man heraus, dass Männer mit vier bis sieben Ejakulationen pro Woche mit einer Wahrscheinlichkeit von sechsunddreißig Prozent seltener Prostatakrebs entwickelten als Männer mit weniger als zwei oder drei Ejakulationen pro Woche.[11]
Xiuzhen miyao, ein Text zur Gymnastik (daoyin/qigong) unbekannten Ursprungs, der 1513 wiederentdeckt und mit einem Vorwort von Wang Zai veröffentlicht wurde. Er beinhaltet neunundvierzig Übungen. Diese Illustration zeigt Jiang niu zhuo yue (vom Ochsen steigen, um den Mond zu fangen), eine Technik, die bei unfreiwilligem Samenerguss eingesetzt wurde.
Aber ich schweife ab.
Auch die alten Griechen und Römer meinten, dass ständiges Handanlegen der Gesundheit schade und wichtige Energiereserven erschöpfe. Hippokrates lehrte, dass in einem gesunden Körper die Körperflüssigkeiten (Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim) in Balance sein mussten. Folgerichtig musste das Absondern von zu viel baby juice (1901) diese empfindliche Balance stören und die Gesundheit damit beeinflussen. Aristoteles glaubte, zu viel Sex könne das Wachstum hemmen. Plutarch riet Männern, ihren Samen »zu speichern«. Platon schrieb: »Wenn ein Mann seinen Samen zurückhält, ist er stark, und der Beweis hierfür sind abstinente Athleten.« Um sicherzugehen, dass es nicht zu nächtlichen Ergüssen kam, empfahl Galen Athleten, auf Bleiplatten zu schlafen.[12]
Diese Überzeugungen blieben auch im Mittelalter bestehen. Albertus Magnus, oder auch Sankt Albert der Große (ca. 1200 – 1280), glaubte ganz fest, »der Koitus entleert das Gehirn«, und dass Hunde lüsternen Menschen hinterherliefen, denn: »Der Körper einer Person mit viel Geschlechtsverkehr nähert sich dem Zustand eines Kadavers an, wegen all des faulenden Samens darin.«[13] Natürlich, wenn es möglich war, dass man zu viel Sperma abgeben konnte, dann konnte im Umkehrschluss auch zu viel von dem Zeug vorhanden sein, was die Körperflüssigkeiten ebenso ins Ungleichgewicht brachte. Im Jahr 1123 verhängte das Erste Laterankonzil das verpflichtende Zölibat über alle Priester. Wie man sich unschwer vorstellen kann, gab es auf Seiten des Klerus gehörigen Widerstand gegen diese Anordnung, und hierbei berief man sich vielfach auf medizinische Gründe. Gerald von Wales war im 12. Jahrhundert Erzdiakon von Brecon, er schrieb von einer Vielzahl von Fällen, in denen das Zölibat zum Tod von Priestern und Bischöfen geführt habe. Gerald berichtete vom Tod eines Erzdiakons von Louvain, dessen Genitalien aufgrund des Zölibats »anschwollen vor unsagbarer Flatulenz«.[14] Der Erzdiakon habe sein Gelübde dennoch nicht gebrochen und sei kurze Zeit später gestorben. Dies ist im mittelalterlichen Europa bei Weitem nicht das einzige Beispiel von solch ärztlichem Rat. Es mag uns merkwürdig vorkommen, dass die Kirche für Sex plädierte; für sie galt zwar Lust als Sünde, aber Sex war unabdinglich, um den göttlichen Auftrag des Seid-fruchtbar-und-mehret-euch zu erfüllen. Also war funktionaler, spaßbefreiter Geschlechtsverkehr das Gebot der Stunde. Die Kirche des Mittelalters war wie ein Sperma-Navi, das die duck butter (1938; »Entenbutter«) eines Typen mit so wenig falschen Abzweigungen wie möglich und auf tunlichst effizientem Weg zum rechtmäßigen uterinen Ziel führte. Sperma, das an diesem Ziel vorbeischoss, galt in der Tat als gefährliches Zeug. Manche mittelalterlichen Theologen dachten, Dämonen würden den Samen von Masturbierenden und Paaren, die Coitus interruptus praktizierten, stehlen, um damit Frauen zu schwängern. Thomas von Aquin schrieb in seiner Summa Theologica, dass diese Dämonen die Gestalt wunderschöner Frauen, den Succuben, annähmen, die Lust in den Männern entfachten, sie verführten und deren Samen ernteten.[15]
Indische Gouache-Malerei mit einem riesigen Penis, der mit einem weiblichen Dämon kopuliert. Um 1900.
Dann würde der Dämon die Gestalt eines Mannes (Incubus) annehmen und eine willige Frau schwängern.
Diese nette kleine Theorie wird in Heinrich Kramers und Jakob Sprengers berüchtigtem Hexenjagdführer Malleus Maleficarum (1486) wiederholt und weitergesponnen. Auch wenn der sogenannte »Hexenhammer« anerkennt, dass auch Männer Hexen sein können, stellt er doch fest: »Eine größere Anzahl an Hexen gibt es beim fragilen Geschlecht der Frauen als unter den Männern.«[16] Weiter wird argumentiert, dass Frauen, anders als Männer, »keine Mäßigung bei Tugend wie bei Laster« kennen würden, und dass »alle Hexenkunst« von »fleischlicher Lust« herrühre, die »in Frauen unersättlich« sei.[17] Die Angst davor, Frauen könnten Männer dominieren, sie kastrieren oder ihre oyster soup (1890; »Austernsuppe«) klauen und ihnen damit ihre Kraft rauben, durchzieht den Hexenhammer wie ein roter Faden. »Und gesegnet sei der Höchste, Der das männliche Geschlecht bisher vor einem so großen Verbrechen bewahrt hat: Denn weil Er bereit war, geboren zu werden und für uns zu leiden, darob gab Er den Männern den Vorrang.«[18] Die Sorge, ein Orgasmus könnte Männer ihrer Kraft berauben, ist darin spürbar.
Warum der Orgasmus in Verbindung mit dem Verlust von Kraft und Potenz steht, ist leicht nachvollziehbar. In Frankreich wird der Orgasmus auch la petite mort (der kleine Tod) genannt, und das mit gutem Grund. Fragt euch einmal selbst, wie ihr euch nach dem Orgasmus fühlt, wenn sich der Nebel langsam lichtet. Vielleicht pauschalisiere ich hier, aber für diejenigen unter uns mit Vulven ist Sex oft so eine Art Endgegner. Ein leidenschaftlicher Showdown, der uns ins nächste Level bringt, der Lust auf mehr in uns weckt – nur härter. Auch wenn die Genitalien sich bei uns Frauen nach dem Sex manchmal schmerzhaft gereizt anfühlen, können wir immer noch weitermachen und multiple Orgasmen erleben, wie die Cosmo nicht müde wird, uns zu versichern. Aber hat der Penis erst einmal sein »Pulver« verschossen, ist alles vorbei, und bevor du noch sagen kannst »Mach weiter, Liebling«, liegt er schon schnarchend in seiner Lache. Im medizinischen Fachjargon wird dieser spezielle Zeitraum »Refraktärphase« genannt. Definiert wird sie als »vorübergehende Zeitspanne nach der Ejakulation, die einhergeht mit Abschwellung, reduziertem Interesse an sexueller Aktivität, Unvermögen, zu ejakulieren oder einen Orgasmus zu erleben, und erhöhter Abneigung gegen genitale Stimulation«[19]. Die Schuld an dieser Phase wird in der Regel besonders den Serotonin- und Prolaktinschwankungen im Gehirn in die Schuhe geschoben. Da aber ein Ansteigen des Prolaktin- und Serotoninlevels vor und nach dem Orgasmus auch bei Frauen beobachtet werden kann, reicht dies nicht als Erklärung dafür aus, warum Männer eine Refraktärphase durchleben, Frauen aber nicht.[20] Was auch immer der Grund sein mag, die Refraktärphase ist eine sehr reale Angelegenheit, und der rasante Post-Orgasmus-Abstieg vom supergeilen Sexgott zum schlafenden Bären scheint ein unbestreitbarer Beweis dafür zu sein, dass ein Orgasmus den Mann seiner Potenz beraubt.
All das war eine völlig klare Sache für Dr. Samuel Auguste Tissot, als er 1758 L’Onanisme: Dissertation sur les Maladies produits par la Masturbation (Von der Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren) schrieb. Tissot behauptete, Sperma sei eine lebensnotwendige Körperflüssigkeit und Masturbation ein höchst verheerender Weg, diesen kostbaren liqueur séminale zu verlieren. Tissots Beschreibung eines Mannes, der zu viel ejakuliert, ist wirklich nicht schön. Er räsonierte, dass exzessive Masturbation, nächtliche Ergüsse und Coitus interruptus schlichtweg dazu führten, dass der Körper dahinsieche:
Ich hatte einen Patienten in Behandlung, dessen Störung mit Abgeschlagenheit begann, mit einem Schwächegefühl in allen Körperteilen, besonders der Leistengegend; begleitet wurde dies von einer unfreiwilligen Bewegung der Sehnen, regelmäßigen Spasmen und einem körperlichen Verfall, so ausgeprägt, als solle das ganze leibliche Gerüst zerstört werden; er fühlte einen Schmerz bis in die Membranen des Gehirns hinein, einen Schmerz, den Patienten als trockene, brennende Hitze bezeichnen und der unablässig von innen das Alleredelste verbrennt.[21]
Tissots Arbeit legte den Grundstein für einen Kreuzzug gegen die Masturbation, der die nächsten zwei Jahrhunderte fortgeführt werden sollte. Das einsame Laster, die Selbstbefleckung, Onanie oder jerkin the gherkin (1938; »am Gürkchen rütteln«) wurde zunehmend genauester medizinischer Betrachtungen unterzogen, und des Mannes Wunderhorn musste verschiedenste Kurpfuscher-Heilverfahren über sich ergehen lassen, von irgendwie amüsant bis wirklich gefährlich.
Bis zum 19. Jahrhundert hatte sich die medizinische Theorie, dass ein Verlust des Samens eine ernsthafte Gefährdung der Gesundheit darstellte, fest etabliert. Überall auf der Welt warnten Ärzte, Masturbation könne nicht nur gefährlich, sondern schlichtweg tödlich sein. Dr. Léopold Deslandes (1797 – 1852) zum Beispiel schrieb: »Der Patient ist sich der Gefahr nicht bewusst und verharrt in seiner krankhaften Gewohnheit – die Ärzte behandeln nur die Symptome, und bald macht der Tod allem ein Ende.«[22]
Vierzackiger »Harnröhrenring« zur Behandlung von Masturbation aus dem 19. Jahrhundert. Der Ring wurde vor dem Schlafengehen um den Penis geschnallt, und wenn der Träger dann nachts eine Erektion bekam, versenkten sich die Zähne in dessen Penis und weckten den armen Kerl auf.
Männer wurden gewarnt, ihre »Essenz« zu bewahren, indem sie Unzucht und Masturbation vermeiden und den ehelichen Sex begrenzen sollten. Eine Vielzahl an Antimasturbationsgeräten stand zur Verfügung, um »nächtliche Ergüsse« zu verhindern und junge Männer davon abzuhalten, es sich selbst zu machen. Es gibt Berichte über Ärzte, die Penisse mit Säuren, Nadeln und Elektroschocks behandelten, um »Spermatorrhö« (Schwäche durch Spermaverlust) zu heilen. Es wurde karge Kost empfohlen, um die Lust zu bekämpfen, und Reinheitskreuzzügler wie John Harvey Kellogg (1852 – 1943) stellten fade Müslis her, um den Trieb zu drosseln. Kellogg meinte, Masturbation könne alle möglichen Krankheiten auslösen, von Gebärmutterkrebs bis Epilepsie, von Wahnsinn bis Impotenz. Aber Kellogg ging noch weiter, als einfach nur eine Ständer-Sperre zum Frühstück zu verticken. Er hielt eine Menge nützlicher Informationen für Eltern bereit, wie man ein Kind vom Drang zur Masturbation »heilen« konnte.
Das Geschlechtsteil zu bandagieren, hat sich als erfolgreich erwiesen. In manchen Fällen ist es auch erfolgreich, wenn man die Hände zusammenbindet, aber das ist nicht immer der Fall, denn oft versuchen sie, anders zu ihrem Ziel zu kommen, zum Beispiel, indem sie die Hüfte einsetzen oder sich auf den Bauch legen. Die Organe mit einem Käfig zu umgeben, erfreute sich großen Erfolgs.[23]
Die Methode jedoch, die nach Kellogg am meisten Erfolg gegen knuckle shuffle (2001; etwa »Knöchelschwingen«) versprach, war Beschneidung – ohne Betäubung.
Ein Mittel, das bei kleinen Jungen fast immer zum Erfolg führt, ist die Beschneidung, besonders wenn eine Form der Vorhautverengung vorliegt. Die Operation sollte ohne Verabreichung einer Narkose durchgeführt werden, denn der kurze Schmerz, der diese begleitet, hat einen heilsamen Effekt auf den Geist, besonders dann, wenn das Ganze mit der Vorstellung von Strafe verbunden wird, was in manchen Fällen so sein wird. Das Wundsein, das die nächsten Wochen über fortbestehen wird, unterbricht die Gewohnheit, und wenn sie nicht bereits zu fest verankert ist, mag sie gänzlich vergessen und nicht wiederaufgenommen werden.[24]
Wenn Frauen notorisch masturbierten, empfahl Kellogg, die Klitoris mit Phenolsäure auszubrennen, ein »exzellentes Mittel, die abnormale Erregung zu mildern und das Wiederauftreten der Angewohnheit zu verhindern«.[25] Es ist nicht in geringem Maße solchen Antimasturbationskreuzzüglern wie Kellogg zu verdanken, dass die Beschneidung noch heute in den USA so weit verbreitet ist. Aber es ist auch wichtig, sich klarzumachen, dass Ärzte wie Kellogg wirklich glaubten, sie würden den Menschen helfen, und dass Orgasmen schädlich wären.
Das Boy Scout Handbook von Robert Baden-Powell (1857 – 1941) aus dem Jahr 1911 widmet ein ganzes Kapitel der Belehrung kleiner Jungs, wie sie ihre »natürlichen Kräfte anhäufen« und damit »Stärke und Männlichkeit« konservieren könnten.
Den Körper eines jeden Jungen, der das Teenageralter erreicht, hat der Schöpfer des Universums mit einer sehr wichtigen Flüssigkeit gefüllt. Diese Flüssigkeit ist der wundervollste Stoff in der gesamten materiellen Welt. Ein Teil davon findet seinen Weg in unser Blut und gibt über das Blut den Muskeln ihre Spannkraft, dem Gehirn seinen Antrieb und den Nerven ihre Stärke. Diese Flüssigkeit ist die Geschlechtsflüssigkeit […] Jede Angewohnheit eines Jungen, die dazu führt, dass diese Flüssigkeit aus seinem Körper ausgeschieden wird, mindert dessen Stärke, macht ihn anfälliger für Krankheiten und verfestigt unglücklicherweise Gewohnheiten in ihm, mit denen er später in seinem Leben nicht mehr wird brechen können.[26]
Obwohl Pfadfinder noch bis in die Fünfzigerjahre hinein gewarnt wurden, nicht »den Jesuiten zu melken« (1744), begannen die ersten Sexualwissenschaftler*innen nun, mit den Masturbationsmärchen aufzuräumen. 1908 ermittelte Albert Moll vier Phasen des Orgasmus und definierte ihn als »Höhepunkt der Lust«, auf den ein »plötzliches Nachlassen des Lustgefühls« und Abschwellung folgten.[27] Wilhelm Reich beschrieb den Orgasmus als »bioelektrische Entladung«, und die Arbeit von Alfred Kinsey deckte auf, dass Masturbation eine nahezu universelle menschliche Erfahrung darstellte.[28] Die Arbeit von William Masters und Virginia Johnson aus dem Jahr 1966 war es schließlich, die aufzeigte, was genau mit dem männlichen Körper vor, während und nach dem Orgasmus passierte, und die außerdem die Refraktärphase benannte.[29] Und wenn wir vielleicht auch nicht gerade beim Kaffeekränzchen mit dem Pastor über unsere privaten Rubbeleien plaudern würden, so möchte ich doch behaupten, dass über Themen wie Ejakulation und Masturbation mittlerweile nicht mehr so schamhaft der Teppich des Schweigens ausgebreitet wird.
»Der elektrische Alarm« zur Behandlung von Masturbation. Diese nette Gerätschaft wurde erfunden, um dem Penis ihres Trägers einen Stromstoß zu versetzen, falls dieser eine Erektion bekam. 1887.
Aber es wird noch besser: In einem fort entstehen neue Forschungsarbeiten, die zeigen, wie wichtig der Orgasmus für menschliche Beziehungen ist. Bartels und Zeki bewiesen 2004, dass die Hirnareale, die während eines Orgasmus aktiv sind, auch aktiviert werden, wenn diese Person sich ein Bild von ihrem/ihrer Liebsten ansieht.[30] Die Arbeiten von Komisaruk und Whipple (2008), Kurtz (1975) und Yang et al. (2007) zeigen allesamt, dass die Hirnaktivität während des Orgasmus bei Menschen und bei Tieren mit der Gedächtniskonsolidierung in Verbindung steht, was bedeutet, dass der Orgasmus die Partner*innen aneinanderbindet.[31] Hierauf baut die Arbeit von Pfaus et al. (2016) auf und zeigt, dass der Orgasmus der Schlüssel zur Paarbildung und sogar zur Entwicklung von Vorlieben bestimmter »Typen« ist.[32] Im Jahr 2007 untersuchte Stuart Brody die vaginalen Orgasmen von 1256 Frauen und kam zu dem Schluss, dass regelmäßige Orgasmen zu einem erfüllteren Sexleben, zu geistiger Gesundheit und allgemeinem Wohlbefinden führten.[33] 2011 zeigten Luca Cindolo und Kolleg*innen, dass unregelmäßiges Ejakulieren zu einer Verschlechterung des Miktionsreflexes führt (die Fähigkeit, Urin abzusetzen). In einer weiteren Studie fand man heraus, dass zweiunddreißig Prozent von 1866 befragten US-Amerikanerinnen in den vorangegangenen drei Monaten masturbiert hatten, weil es ihnen beim Einschlafen hilft. Dieselbe Studie belegte außerdem, dass Orgasmen den Endorphin- und Corticosteroidspiegel ansteigen lassen, was uns weniger schmerzempfindlich macht und Leiden wie Arthritis, Menstruationskrämpfe und Migräne lindert.[34] 2001 zeigten Untersuchungen, dass Orgasmen bei Migränebeschwerden und Clusterkopfschmerzen bei bis zu einem Drittel der Patient*innen Erleichterung brachten.[35] Und ich habe hier nur leicht an der Oberfläche der Forschung gekratzt, die belegt, warum ein Orgasmus gut für uns ist.
Also bitte, schüttelt euch einen von der Palme, poliert euch die Brosche und würgt den Jürgen – solange sich niemand davon gestört fühlt, besorgt es euch nach Herzenslust selbst. Das ist eine ärztliche Empfehlung. Und jedes Mal wenn ihr das tut, dann seht euren Orgasmus als Würdigung all der Menschen vor euch, die einen unglaublich hohen Preis bezahlt haben für den Genuss dessen, was Quentin Crisp als ultimativen »Ausdruck der Selbstachtung« bezeichnet hat.[36]