Spaßbremsen

Vibratoren und Viktorianer*innen

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Das habt ihr doch ganz bestimmt auch schon mal gehört: Viktorianische Ärzte haben den Vibrator erfunden, um Frauen zum Orgasmus zu bringen, weil sie mit dem Ziel, deren Hysterie zu heilen, so viele Patientinnen gefingert hatten, dass ihnen die Arme wehtaten. Wir lieben diese Geschichte. Ich liebe diese Geschichte. Hollywood liebt diese Geschichte so sehr, dass sowohl The Road to Wellville (Willkommen in Wellville, 1994) als auch Hysteria (In guten Händen, 2011) darauf basieren. Aber traurigerweise ist es wirklich nur eine Geschichte. Wie Trickle-down-Ökonomie und Jamie Lee Curtis’ Hermaphroditismus ist das einfach nur ein Ammenmärchen. Aber wie bei allen guten Geschichten steckt auch hier ein Fünkchen Wahrheit drin. Wir lieben diese Geschichte, weil sie genau ins Herz der viktorianischen Scheinheiligkeit in Bezug auf Sex trifft, über die wir so gerne lästern: »Wusstest du, dass viktorianische Ärzte ihre Patientinnen gewichst haben und gleichzeitig fanden, dass nackte Tischbeine unanständig waren? Gott sei Dank sind wir heute nicht mehr so drauf!« (Das Tischbein-Ding ist leider auch nur ein Märchen, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen.)

Der Ursprung der Wichsende-Ärzte-Theorie ist Rachel Maines’ Buch Technology of Orgasm von 1999. Hier stellt Maines die Hypothese auf, dass Ärzte Frauen aus gesundheitlichen Gründen zum Orgasmus masturbierten und der Vibrator daher nicht weniger als ein Gottesgeschenk für die Ärzte und ihre überlasteten Zeigefinger war. Außerdem stellt Maines die Behauptung auf, diese Praxis könne bis in die Klassik zurückverfolgt werden. Allerdings muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass Maines’ Nachweise für medizinische Vulvamassagen in der Antike stark kritisiert wurden, ganz besonders von Professorin Helen King sowie von Hallie Lieberman und Eric Schatzberg, die diese Behauptungen akademisch zerlegten.[1] Was das angeht, ist es aber wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass Maines ihre Argumentation selbst als Hypothese kennzeichnete. Und fairerweise muss man sagen, es ist eine verdammt interessante. In einem Online-Interview von 2010 sagte Maines:

Die Leute liebten meine Hypothese, und genau darum geht es auch, um eine Hypothese, die besagt, dass Frauen mit Massagen gegen diese Krankheit, Hysterie, behandelt wurden, die man wahrscheinlich seit hippokratischer Zeit, um 450 v. Chr., kennt, und dass der Vibrator erfunden wurde, um diese Krankheit zu behandeln. Na ja, die Leute finden die Idee so cool, dass sie das alles glauben, als wäre das eine Tatsache. Und ich immer so: Es ist eine Hypothese! Es ist eine Hypothese! Aber wissen Sie, es ist auch egal. Die Leute mögen sie so sehr, sie wollen nichts von irgendwelchen Zweifeln wissen.[2]

Okay, schauen wir uns diese Hypothese mal etwas genauer an. Viktorianische Ärzte waren besessen von Sex und Gesundheit, so viel steht fest, und es waren viele höchst zweifelhafte Theorien unterwegs, von der Anti-Onanie-Truppe, die meinte, Masturbation sei tödlich, bis hin zum italienischen Kriminalanthropologen Cesare Lombroso, der behauptete, dass Sexarbeiterinnen keine Gefühle in der Klitoris hätten, weil sie durch »Übergebrauch« »unempfindlich« geworden wären.[3] Aber die Theorie, Ärzte hätten Vibratoren erfunden, um Hysterie zu heilen, ist aus mehreren Gründen fraglich.

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Das ist Granvilles Vibrator, und wie man sieht, war der nicht zur inneren Anwendung entwickelt worden. Abbildung aus Joseph Mortimer Granvilles Nerve-Vibration and Excitation as Agents in the Treatment of Functional Disorder and Organic Disease, 1803.

Der britische Arzt Joseph Mortimer Granville (1833 – 1900) ließ sich den ersten elektrischen Vibrator in den 1880er Jahren patentieren, und zwar nicht als Sexspielzeug, sondern als Massagegerät, das die Beschwerden von Männern, nicht Frauen, lindern sollte – da war er ziemlich deutlich. In seinem Buch Nerve-Vibration and Excitation as Agents in the Treatment of Functional Disorder and Organic Disease (1883) schrieb Granville: »Bisher habe ich noch keine Patientin perkussiert […] Ich habe es vermieden und werde es auch weiterhin vermeiden, Frauen mittels Perkussion zu behandeln, einfach weil ich nicht durch die Wechselfälle des hysterischen Zustands getäuscht werden und eine Hilfe dabei sein möchte, andere fehlzuleiten.«[4]

Zudem muss man nur einen kurzen Blick auf diese Apparatur werfen, und wir sind uns mit Sicherheit alle einig, dass man sie nur unter Aufsicht und mit vereinbartem Safeword in die Nähe seiner Weichteile lassen sollte. Das Gerät war eindeutig nicht zur inneren Anwendung gedacht. Es sollte den Körper ähnlich wie ein kleiner Hammer abklopfen, und darum nannte Granville das Ganze auch »perkussieren«.

Bald folgten weitere vibrierende Massagegeräte der losgetretenen Welle pseudowissenschaftlicher Theorien zur Elektrizität, die als Allheilmittel gepriesen wurde, genau wie Anal-Dilatatoren und Radium. Vibrationsmassagen versprachen alle Arten mentaler und körperlicher Störungen zu lindern (inklusive der mysteriösen »Hysterie«), aber sie wurden nicht zur Verwendung an den Genitalien konzipiert, und sie wurden auch nicht von Ärzten benutzt, um Orgasmen herbeizuführen. Gut, das bedeutet nicht, dass die Menschen nicht herausgefunden hätten, dass die Massagegeräte auch auf andere, weniger hygienische Art eingesetzt werden konnten. Kink Blink nenne ich das: die absurd kurze Zeitspanne zwischen der Einführung einer neuen Technologie und deren Adaption für den sexuellen Gebrauch. Und genau wie bei Spekulum, Krankenschwesternuniform und Viagra ging es auch für den Vibrator ratzfatz von medizinisch zu schweinisch. Ein früher pornografischer Film aus den Dreißigerjahren, The Masseur, zeigt den Vibrator in Aktion, zwei neckische Masseure behandeln den Hintern irgendeines Glückspilzes ausführlich damit. Aber entscheidend ist, dass auch hier der Vibrator nur äußerlich angewendet wird.

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»VeeDee«, ein mechanischer Vibrator aus London, 1900 – 1915. Der VeeDee-Massagevibrator heilte angeblich Erkältungen, Verdauungsbeschwerden und Flatulenz durch »kurative Vibration«.

Wenn wir glauben, dass Vibratoren Allgemeingut waren und weithin benutzt wurden, um Orgasmen zu erzeugen, dann müssen wir der Tatsache Rechnung tragen, dass es nicht einen einzigen Hinweis darauf gibt, weder in viktorianischen Texten noch auf viktorianischen Bildern. Nicht einen. Allerdings gibt es viele Dildo-Referenzen und auch die ein oder andere zweckentfremdete Gurke. Sexspielzeug war nichts Neues. Und wie diese Bilder zeigen, wussten die Viktorianer*innen genau, wie man einen Dildo einsetzte. Wenig überraschend hat sich das Design nicht groß verändert, seit die ersten Höhlenmenschen dongs (1890) aus Stein gehauen haben. Sie neigen dazu, na ja, schwanzförmig zu sein.

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Anonyme viktorianische Porno-Fotografie, die ein Paar beim »Pegging« zeigt (die Frau penetriert den Mann mit einem Umschnalldildo, einem Strap-on).

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Anonyme viktorianische Pornografie, die eine Frau zeigt, die von ihrer Liebhaberin mit einem Strap-on masturbiert wird.

Wenn man sich in modernen Sexshops umsieht, stellt man schnell fest, dass die Schwanzform bei Sextoys immer noch sehr angesagt ist.

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Anonyme viktorianische Fotografie, die beweist, dass man in viktorianischer Zeit ganz genau wusste, wozu ein Dildo gut ist.

Die viktorianischen Dildos waren aus Holz, Leder und sogar Elfenbein und versprachen eine Menge Spaß, wie dieser Auszug aus der Zeitschrift The Pearl belegt: »Weil wir fünf gegen zwei sind, wie man sieht, habe ich einen Vorrat an feinen, biegsamen, solide gemachten Dildos, die die männliche Unterlegenheit ausgleichen und in abwechselndem Gebrauch mit dem Original dafür sorgen werden, dass wir uns gründlich amüsieren.«[5]

Oder dieses heitere Liedchen mit dem Titel The Old Dildo:

Sie floh auf ihr Zimmer mit dem neuen Spiel

(das hatte die Größe von ’nem Besenstiel)

Oh! Welch Ekstase, welch Entzücken,

Als sie hochwarf die Beine an Stuhles Rücken.

In jede Ader schoss die Flamme empor,

sicher und zügig lief der Motor;

Vorne und hinten und aufhören, no! No!

Schneller und schneller flog der gute Dildoe.[6]

Nicht nur gibt es keine Erwähnungen von Ärzten und ihren Vibratoren in der viktorianischen Pornografie, auch in der Arbeit von frühen Sexologen findet sich nichts darüber. Iwan Bloch, Havelock Ellis, Richard von Krafft-Ebing und Sigmund Freud katalogisierten sorgfältig jeden Fetisch, jede Abweichung von der Norm, jede bekannte Äußerung von Sexualverhalten, aber keiner von ihnen erwähnt Ärzte, Vibratoren und Orgasmen. Ellis und Bloch berichten sogar von Frauen, die sexuelle Lust im Zusammenhang mit Nähmaschinen und Siegelwachs empfinden, aber weit und breit keine Spur von einem Vibrator.* Auch Alfred Kinsey erwähnt fünfzig Jahre später in seinem bahnbrechenden Buch Sexual Behaviour in the Human Female (1953) keine Vibratoren in seinen ausführlichen und umfassenden Kapiteln zur weiblichen Masturbation. Man sollte doch meinen, wenn Ärzte Frauen wirklich für mehr Wohlbefinden gefingert hätten, dann wäre das irgendwo in diesen Texten aufgetaucht.

* In Das Sexualleben unserer Zeit in seinen Beziehungen zur modernen Kultur (1907) schreibt Bloch, die Bewegung der Tretkurbel einer Nähmaschine gebe Anlass zu »masturbatorischer Stimulation«, genau wie Reiten, Radfahren und die Schenkel aneinanderreiben (S. 461). Auch Havelock Ellis erwähnt Frauen, die Nähmaschinen zur sexuellen Stimulation nutzen, genau wie Siegelwachs, Bananen, Haarnadeln und Korken. Havelock Ellis, Psychology of Sex: A Manual for Students (London: Heinemann, 1933), Seite 104.

Aber was ist mit den viktorianischen Medizinschriften selbst? Da gibt es doch bestimmt Berichte von Ärzten, die »Beckenmassagen« bei ihren Patientinnen vornahmen? Oh ja! Ja, die gibt es, und zwar zahlreich! Der Medizinhype Beckenmassage wurde vom schwedischen Geburtshelfer und Gynäkologen Thure Brandt (1819 – 1895) ausgelöst, der 1861 mit seiner Behandlung von Frauen begann. Die »Thure-Brandt-Methode« der Beckenmassage und der »Bearbeitung des Uterus« erwies sich als sehr beliebt und war zu jener Zeit bald weit verbreitet. Das New York Medical Journal (1876) war eine unter vielen anderen Zeitschriften, die die Technik detailliert beschrieben:

Brandt behauptet, diese Behandlungsmethode sei nützlich bei Gebärmuttervorfällen; Vaginavorfällen; Hypertrophie und uterinen Verhärtungen; Geschwüren; übermäßigen Blutungen bei Uterusrelaxation; Risiko für Fehlgeburten; leichter Hypertrophie der Eierstöcke. Die Methode ist einfach, sie besteht aus drei Bewegungen:

  1. Über Lenden und Kreuzbeinregion streichen. Hierbei nimmt die Patientin eine nach vorn geneigte Position ein, die Hände ruhen an Wand oder Tür.

  2. Mit den Fingerspitzen beider Hände Druck an beiden Körperseiten ausüben, über Lenden- und Kreuzbeinregion genau wie über die obere und vordere Fläche des Sitzbeins. Der Druck wird mit einem schwingenden Schütteln verbunden. Die Patientin nimmt eine halbliegende Position ein, die Knie sind gebeugt, um die Bauchmuskulatur zu entspannen.

  3. Anhebung der Gebärmutter unter schwingendem Schütteln. Die Position der Patientin ähnelt der vorangegangenen. Der Behandelnde bemüht sich, die Fingerspitzen beider Hände genau über dem horizontalen Ast des Schambeinbogens an beiden Seiten hinunter bis zum kleinen Becken zu drücken und dann die Gebärmutter anzuheben. Dieser Versuch der Anhebung erfolgt ebenfalls unter Schwingung.[7]

Wie man sieht, wird die Technik weitgehend äußerlich angewendet, man beachte die auffällige Abwesenheit von Vibratoren und Orgasmen. Und wenn sich immer noch jemand unsicher sein sollte, wie genau diese Massage funktioniert, dann gibt es in dem 1895 erschienenen Buch von A. Jentzer, Die Heilgymnastik in der Gynaekologie und die mechanische Behandlung von Erkrankungen des Uterus und seiner Adnexe nach Thure Brandt, Illustrationen, die den Prozess zeigen und die wahrscheinlich verstörendsten Bilder von gynäkologischen Untersuchungen beinhalten, die jemals produziert wurden.

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Furchteinflößende Illustration zur Beckenmassage in Die Heilgymnastik in der Gynaekologie von Dr. Jentzer.

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Ein Teil von Brandts Methode bestand im Dehnen der Wirbelsäule.

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Illustration der innerlichen Anwendung von Brandts Beckenmassage.

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Weitere Illustration der innerlichen Anwendung der Beckenmassage.

Wenn man erst einmal die Tatsache verwunden hat, dass Arzt und Patientin aussehen, als seien sie gerade aus der Area 51 geflohen, dann wird man feststellen, dass die Technik im Grunde darin besteht, in verschiedenen komischen Positionen Druck auf den Beckenbereich auszuüben. Hier sieht man auch, dass ein Teil der Massage tatsächlich innerlich erfolgte (Brandt war schließlich Gynäkologe), ein Finger wurde eingeführt, und die andere Hand drückte von oben auf den Bauch. Aber nirgends wird ein Orgasmus erwähnt oder ein Vibrator benötigt.

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Ein großer Teil von Brandts Massage bestand darin, die Patientin energisch zu schütteln oder in Schwingung zu versetzen.

Brandts Theorien wurden gefeiert und nach dessen Tod von Dr. Robert Ziegenspeck (1856 – 1918) weitergeführt. In Anleitung zur Massagebehandlung (Thure Brandt) bei Frauenleiden: Für praktische Ärzte (1895) gibt Ziegenspeck umfangreiche Details zum inneren Teil der Beckenbodenmassage preis. Der gute Doktor betont, dass es bei dieser »örtlichen« Behandlung viel »Massage und Dehnung« bedarf, wobei ein Finger in der Vagina steckt und die freie Hand auf den Bauch drückt.[8] Für den Fall, dass man immer noch nicht genau wusste, was man da tat, gab es eine praktische Sieben-Schritte-Anleitung von Ziegenspeck:

Die Eigenthümlichkeiten Brandt’s bei der Diagnose bzw. auch bei der Massage sind die,

  1. dass die Kleider der Kranken nicht abgelegt, auch nicht zurückgeschlagen, sondern in der Taille nur geöffnet werden; auch das Corset wird aufgehakt, so dass kein Band, kein Haken mehr schnürt; das Hemd wird dann so weit hinaufgezogen, dass die Hand darunter auf den Leib gelegt werden kann; dieser selbst wird nicht entblößt;

  2. dass der in die Vagina einzuführende Finger unter dem Knie der entsprechenden Seite hindurch auch unter den Kleidern der Ost. vaginae genähert wird, die Knie dabei nicht gespreizt werden;

  3. dass nur ein Finger unter allen Umständen eingeführt wird und zwar der Zeigefinger, ausgenommen bei der Ventro-vaginal-rectal-Palpation, wo der Zeigefinger in das Rectum, der Daumen in die Vagina kommt;

  4. dass die auf den Bauchdecken entgegentastende Hand nicht gleichmäßig aufdrückt, sondern unter sanft massierenden Cirkelbewegungen tiefer und tiefer eindringt;

  5. dass der Untersuchende am unteren Ende des Lagers auf einem Stuhle sitzt und die Ecken dieses Lagers zwischen seine gespreizten Knie nimmt;

  6. dass ausschließlich ein niedriges Lager in Form einer Bank, eines Sophas, oder das sogenannte Plint benutzt wird, kein Untersuchungsstuhl oder Untersuchungstisch, und

  7. dass die nicht eingeführten Finger nicht in die Hohlhand eingeschlagen werden (Untersuchung mit geschlossener Hand), sondern schlaff ausgestreckt in der Kerbe zwischen den Nates liegen (Untersuchung mit offener Hand).[9]

Es ist schwierig, dieses Stück Text zu lesen und nicht das Gefühl zu kriegen, hier ginge es einzig und allein ums Fingern, und scheinbar zog diese »Behandlung« im 19. Jahrhundert ganz ähnliche Kritik auf sich. Ziegenspeck behauptet, dass man der Massage »ungerecht zum Vorwurfe« mache, es könne dabei »eine sexuelle Erregung eintreten«.[10]

Wenn man die […] Regeln befolgt, so kommt sexuelle Erregung auch nicht öfter bei der Massage vor, wie sonst bei einer gynäkologischen Diagnose. Es gibt ja abnorm sexuell reizbare Frauen, die aber dann auch bei jeder gynäkologischen Diagnose, ja ganz ohne eine solche Ursache sexuell erregt werden. Diejenigen aber, welche immer und immer wieder diesen Einwand gegen die Methode erheben, freilich ohne sie genauer zu kennen, beschuldigen in verletzender Weise damit einestheils die zahlreichen Aerzte, welche dieselbe anwenden, entweder der Sorglosigkeit oder der Gewissenlosigkeit, da man es ja erkennen kann, ob eine Frau sexuell erregt ist oder nicht, beschimpfen auf das Gröbste andererseits Tausende von hochachtbaren Frauen, dass sie trotzdem oder sogar deswegen diese Methode an sich haben anwenden lassen.

Sexuelle Erregung während der Beckenmassage galt es offensichtlich zu vermeiden, zumindest wenn es nach Ziegenspeck ging. Sollte eine Patientin sexuelle Erregung verspüren, könne man diese »sehr leicht wieder zum Schwinden bringen, indem man nun so stark aufdrückt, dass wirklich Schmerzen entstehen«.[11]

Die Theorien und Techniken, die hinter der »Beckenmassage« stehen, sind wirklich bizarr, und obwohl ich immer zurückhaltend mit einer Bewertung nach heutigen Maßstäben bin, hat diese »Behandlung« zweifellos etwas Sexuelles an sich. Das weiß ich, das wisst ihr, und die Leute damals wussten es offensichtlich auch. Aber da gab es keinen Vibrator, keinen Orgasmus, keine Hysterie, und die Praktizierenden bestritten energisch, dass es sich bei ihrer Methode um medizinische Masturbation handelte. Trotzdem scheint der Mythos, dass viktorianische Ärzte ihre Patientinnen kollektiv ins postorgasmische Delirium wichsten, genau hier, in der verwirrenden Praxis der Beckenmassage, seinen Ursprung zu haben.

Den anderen hartnäckigen Teil der Vibrator-als-Medizin-Story bildet der »hysterische Paroxysmus«, unter dem Maines den »weiblichen Orgasmus unter klinischen Bedingungen« versteht.[12] Wenn man aber anfängt, die medizinischen Texte dieser Zeit zu untersuchen, dann hat man nicht den Eindruck, selbst schon einmal einen hysterischen Paroxysmus-Orgasmus gehabt zu haben. In Hysterical and Nervous Affections of Women. Read Before the Harveian Society wird der hysterische Paroxysmus als »unkontrollierbare Attacke von abwechselndem Schluchzen und Lachen« definiert.[13] Andrew Whyte Barclays A Manual of Medical Diagnosis (1864) beschreibt ihn als »Anfall« und »Epilepsie-Simulation«.[14] John Henry Walsh meint, der hysterische Paroxysmus beginne mit unkontrollierbarem Gekicher und dauere »mindestens eine Stunde, oft aber fünf oder sechs«.[15] William Potts Dewees behauptet: »Sehr häufig setzt der Bauch am Ende des hysterischen Paroxysmus eine gehörige Menge Gas frei, was der Patientin große Erleichterung verschafft.«[16] Entschuldigung, aber ein Furz-und-Kicher-Anfall, der den ganzen Nachmittag dauert, ist kein Orgasmus. Was auch immer das sein mag, die Beschreibung ähnelt der eines Anfalls oder einer nervösen, unkontrollierbaren psychischen Episode. In der medizinischen Theorie jener Zeit wird dieses merkwürdige Phänomen mit einer gynäkologischen Ursache erklärt. Walsh schrieb, die »reichliche Absonderung blassen Urins« begleite diese Krankheit.[17] George Bacon Wood notierte, der hysterische Paroxysmus neige dazu, »um die Menstruation herum« schlimmer zu werden, und W. W. Bliss war sich sicher: »Hysterische Paroxysmen sind für gewöhnlich eine Begleiterscheinung schmerzhafter Menstruation.«[18] Das sollte nicht weiter überraschen, denn das Wort »Hysterie« kommt vom lateinischen hystericus, was »die Gebärmutter betreffend« heißt und selbst wiederum vom altgriechischen hysterikos abgeleitet wird, »Leiden an der Gebärmutter«.

Das mysteriöse medizinische Phänomen, das wir »Hysterie« nennen, wurde in der modernen Wissenschaft ausgiebig untersucht, eben weil niemand so wirklich weiß, was das ist. Das Wort deckt eine Unzahl an psychologischen und physiologischen Leiden ab und wurde bis Freud weitgehend als Frauenkrankheit verstanden. Auf die Gefahr hin, dass ich hier zu stark vereinfache: Hysterie war die körperliche oder verhaltensmäßige Manifestation der psychologischen Probleme von Frauen. Das konnte sich in Aggressionen, Ohnmachtsanfällen, Nymphomanie oder Furzattacken äußern. Die Annahme, dass die Gebärmutter emotionale Instabilität hervorrufe, reicht bis ins antike Griechenland mit seiner Theorie der »wandernden Gebärmutter« zurück. Aretaios, Arzt und Zeitgenosse Galens im 2. Jahrhundert n. Chr., beschreibt, wie die Gebärmutter im Bauchraum umherwandert und damit Wahnsinn verursacht:

Zwischen den Flanken der Frau liegt die Gebärmutter, ein weibliches Organ, das einem Tier ähnelt; denn es bewegt sich hin und her zwischen den Flanken, auch in direkter Linie aufwärts bis unter den Rippenknorpel, auch quer nach rechts oder nach links, entweder zur Leber oder zur Milz, und genauso senkt es sich ab, mit einem Wort, die Gebärmutter ist ganz und gar unberechenbar. Sie erfreut sich an Wohlgerüchen und bewegt sich auf sie zu; und sie hat eine Abneigung gegen üble Gerüche und zieht sich von ihnen zurück; alles in allem ist die Gebärmutter wie ein Tier in einem Tier.[19]

Im 19. Jahrhundert wurde die Theorie der wandernden Gebärmutter obsolet, wenngleich die Verbindung zwischen Gebärmutter und Hysterie offensichtlich einen letzten Aufschwung mit dem Thema Beckenmassage und Gebärmuttermanipulation erlebte. Der hysterische Paroxysmus war lediglich eine weitere unklar definierte Kategorie der Hysterie, die man in den Medizinhandbüchern des 19. Jahrhunderts neben hysterischem Koma, hysterischen Kopfschmerzen, hysterischer Aufregung, hysterischen Zuckungen und (natürlich) hysterischer Flatulenz finden kann.

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Anonyme viktorianische Fotografie.

Und außerdem: Die Viktorianer*innen wussten, was ein Orgasmus war! Es gab keinen Grund, ihn hinter einer euphemistischen Sprache zu verstecken. Ein flüchtiger Blick in die erotische Literatur dieser Zeit reicht, um zu erkennen, dass man gut darüber Bescheid wusste, was es mit Orgasmen auf sich hatte. The Pearl (1879 – 1880) ist vollgestopft mit kommenden Frauen: »Ich fühlte, wie es warm und cremig ihren Schlitz flutete, während mein eigener Saft voller Anteilnahme über ihre Hand und ihr Kleid rann.«[20] Auch The Romance of Lust ist im Bilde darüber, was Frauen wollen: »Sie kam rasend schnell zum ekstatischen Ende, stieß fast mein ganzes Gesicht in ihren gewaltigen Orbit und spritzte eine wahre Flutwelle über mein Gesicht und meinen Nacken.«[21] Und Jack Saul dirigiert ein regelrechtes Orgasmus-Konzert in Sins of the Cities of the Plain (1881): »Wie oft ich sie zum Kommen brachte, ist unmöglich zu sagen.«[22]

Fern Riddell, einer der führenden Wissenschaftler*innen, wenn es um die Sexualität in der viktorianischen Epoche geht, drückt es so aus: »Viktorianische Ärzte wussten genau, was der weibliche Orgasmus war; genau genommen ist das einer der Gründe, warum sie fanden, dass Masturbation nicht so eine gute Idee sei.«[23]

Die Ärzte wussten damals nicht nur, was ein Orgasmus war, die Medizintheorie des 19. Jahrhunderts lehrte auch größtenteils, dass Orgasmen potenziell gefährlich seien und darum eingeschränkt werden sollten. Bei Frauen nahm man an, dass Masturbation Hysterie hervorrufe, nicht heile. In The Generative System and Its Functions in Health and Disease (1883) behauptet James George Beaney, dass Hysterie eine Krankheit sei, die »mit weiblicher Masturbation in Verbindung gebracht wird und sehr häufig darauf beruht«.[24] Edward John Tilt (1815 – 1893) schrieb: »Gewohnheitsmäßige Masturbation vermindert die Spannkraft des gesamten Systems, verursacht ein gereiztes Gemüt [und] die milderen Erscheinungsformen der Hysterie.«[25] Im Jahr 1852 unterschied Samuel La’mert ganz klar zwischen hysterischem Paroxysmus und Masturbation, als er schrieb: »Frauen, die sich der libidinösen Selbstbeschmutzung hingeben, sind anfälliger insbesondere für hysterischen Paroxysmus.«[26] In dem Artikel »Sexuelle Perversion bei Frauen« nennt Dr. A. J. Block aus New Orleans weibliche Masturbation »moralischen Aussatz«.[27] Man hielt die Masturbation bei Frauen für derart gefährlich, dass sie auf zahllosen Einweisungsunterlagen in Irrenanstalten auftaucht und den Quacksalber Isaac Baker Brown dazu veranlasste, routinemäßig Klitoridektomien durchzuführen.** Also noch mal: Sieht das etwa nach einer Gruppe von Leuten aus, die eine Runde Finger-Action verschreiben würde?

** Siehe auch »The Boy in the Boat« für eine detaillierte Auseinandersetzung mit Dr. Isaac Baker Brown. Der State Report an den Gouverneur von Kalifornien aus dem Jahr 1872 berichtet, Masturbation stehe »noch immer an erster Stelle der angegebenen Gründe« für die Aufnahme in einer Anstalt. Appendix to the Journals of the Senate and Assembly of the Nineteenth Session of the Legislature of the State of California (Sacramento: T. A. Springer, 1872), Seite 211.

Aber ganz so schlimm, wie es hier den Anschein hat, war es auch wieder nicht. Zwar sorgten Ärzte nicht eigenhändig für Orgasmen bei ihren Patientinnen, aber Eheleuten wurden sie allgemeinhin empfohlen, und blieben sie beim Erfüllen der ehelichen Pflichten aus, so betrachtete man das als etwas Schlechtes. In einem Artikel in The Lancet, der 1842 von Dr. W. Tyler Smith veröffentlicht wurde, wird Impotenz bei Frauen als »Unvermögen, den sexuellen Orgasmus hervorzubringen« beschrieben.[28] Eine Denkschule in der Medizin ging davon aus, dass Orgasmen bei der Empfängnis halfen. Dr. J. R. Beck zum Beispiel argumentierte 1872, dass ein Orgasmus es dem Gebärmutterhals erlaube zu kontrahieren und damit dem Spermium helfe, das Ei zu erreichen.[29] Andere wiederum, wie Dr. John S. Parry, widersprachen nicht der Möglichkeit, dass ein Orgasmus hilfreich sein könnte, waren sich jedoch ziemlich sicher, dass er »nicht unerlässlich für die Empfängnis« sei.[30] Aber wie auch immer die medizinische Meinung in dieser Angelegenheit aussah, die viktorianische Pornografie beweist eindeutig, dass der Orgasmus zumindest als sehr wichtiger und vergnüglicher Teil von Sex verstanden wurde.

Was von diesem viel geliebten und weit verbreiteten Ammenmärchen lässt sich also retten? Es stimmt, dass die Ärzte in viktorianischer Zeit fasziniert waren vom weiblichen Fortpflanzungssystem und, genau wie ihre Vorgänger, Wahnsinn mit der Gebärmutter in Verbindung brachten. Um Hysterie in all ihren merkwürdigen Erscheinungsformen zu heilen, verschrieben sie alle möglichen verrückt klingenden Behandlungen, so wie die Beckenmassage, die in Wahrheit nur vornehmes Fingern war. Außerdem hingen Ärzte der seltsamen Vorstellung nach, dass Orgasmen und Masturbation die Gesundheit ruinierten und Hysterie verursachten. Den »hysterischen Paroxysmus« gab es wirklich, er war aber kein Orgasmus, sondern wurde als Anfall aus Kichern und Furzen beschrieben, der Stunden dauern konnte. Es stimmt auch, dass vibrierende Massagegeräte im späten 19. Jahrhundert sehr gefragt waren und zur Heilung verschiedenster Krankheiten empfohlen wurden.*** Aber hier kommt die entscheidende Tatsache: Ärzte mögen ihre armen Patientinnen sediert, in die Irrenanstalt eingewiesen oder mehr oder weniger grob an ihren Muschis herumhantiert haben – aber sie haben sie nicht mit dampfbetriebenen Vibratoren zum »hysterischen Paroxysmus« hin masturbiert, um sie von Hysterie zu heilen. Tut mir leid, dass ich so eine Spaßbremse sein muss.

*** Zur weiteren Lektüre über die Entwicklung des Vibrators im 20. Jahrhundert siehe Hallie Lieberman, Buzz: A Stimulating History of the Sex Toy (New York: Pegasus Books; 2017).