KAPITEL 9
Wie wir Worte fanden
Wären Wünsche Pferde, könnten Bettler reiten.
Und wären Rüben Uhren, trüg ich sie an meiner Seiten.
Wär »Und« eine Pfanne und »Wenn« ein Topf,
Der Kesselflicker wär ein armer Tropf.
Kin derreim
Wie ich bereits mehrfach deutlich gemacht habe, bin ich der Ansicht, dass sich die künstlerischen Fertigkeiten des Menschen eher gleichzeitig, also im Zusammenspiel mit Sprache, und nicht im Anschluss daran entwickelt haben. Musik unserer Tage kann nur insofern als »akustischer Käsekuchen«
1 betrachtet werden, als sie jüngeren Datums ist als frühere musikalische Formen und daher unseren Erfahrungsbereich als Letzte erobert hat. Ganz ähnlich können wir auch die bildenden Künste unserer Zeit und die modernen Sprachen metaphorisch als »exquisites Konfekt« ansehen, das im Verlauf unserer langen Evolution aus verschiedenen Grundzutaten komponiert worden ist. Das gilt auch für die menschliche Vorliebe für das Erfinden und Weiterentwickeln von allem und jedem - von Töpfen und Pfannen, von Raumstationen und Gentechnik.
Im Hinblick auf den Kinderreim, der am Anfang dieses Kapitels steht, ist sicher zu sagen, dass das Erfinden von Namen mit Sicherheit ein entscheidender Schritt war, der der Herausbildung einer Protosprache vorausging, und dass die ersten Wörter vermutlich Nomen waren. Wären unsere Vorfahren niemals über das simple Stadium des Benennens hinausgekommen, hätten sie es niemals bis zu den subtileren Teilen der Rede (den »Unds« und »Wenns«) gebracht. Aber sie sind darüber hinausgelangt, und zwar, weil ihr Gehirn sich verändert hat.
Auch wenn ich mich auf Mütter und Säuglinge als Primärziele jenes Teils der natürlichen Selektion konzentriert habe, der letztlich in der Entwicklung von Sprache, Musik und bildender Kunst endete, will ich in diesem Kapitel meinen Blickwinkel aus einem wichtigen Grund etwas weiten: weil Merkmale, die bei einem Geschlecht in besonderer Weise selektiert wurden, aufgrund der Art und Weise, wie Gene sich bei der Weitergabe an die nächste Generation durchmischen, höchstwahrscheinlich auch das andere beeinflussen. Das ist der Grund dafür, dass allüberall Menschen beiderlei Geschlechts ein Talent für Sprache haben und in unterschiedlichem Maße auch musikalische Aktivitäten und die bildenden Künste goutieren oder selbst betreiben. Die Evolution des Gehirns war allerdings für die Herausbildung dieser kognitiven Fertigkeiten bei unseren Vorfahren selbstredend eine entscheidende Voraussetzung.
Die Evolution des Gehirns
Als ich zum ersten Mal ein Gehirn zu sehen bekam, das man soeben einem Schädel entnommen hatte, war ich zutiefst schockiert. Die Gehirne, die ich früher in meinen Neuroanatomiekursen zu sehen bekommen hatte, waren feste graue Präparate gewesen, die in Kanistern mit Fixierlösung aufbewahrt wurden. Ich hatte in diesen Kursen mehr als ein Gehirn seziert und meiner Erinnerung nach hatten sie alle die Konsistenz eines gut durchgegarten Hackbratens gehabt. Was für eine Überraschung also festzustellen, dass ein frisches Gehirn wie ein Wackelpudding wabbelt - so sehr, dass es dem Präparator glatt durch die behandschuhten Finger geschlüpft wäre, hätte es nicht eine Hülle aus Hirnhäuten umschlossen. Gehirne bestehen zu 78 Prozent aus Wasser, daher ihre weiche Konsistenz. Bei genauerem Nachdenken kam ich dahinter, dass mein Erstaunen zumindest teilweise auf die falsche Vorstellung zurückzuführen war, dass ein Organ, das so kompliziert und wichtig ist wie das Gehirn, auch in physikalischer Hinsicht eine solide Angelegenheit sein sollte.
Das Gehirn eines Menschen wiegt im Durchschnitt ein bisschen weniger als drei Pfund, und es enthält Milliarden Hirnzellen. Schimpansen hingegen haben ein Gehirn, das ein bisschen weniger als ein Dreiviertelpfund wiegt, was sehr nahe am durchschnittlichen Hirngewicht unserer ältesten Vorfahren, der Australopithecinen, liegt, wie man aus deren Schädelvolumen errechnet hat. Bis vor Kurzem ging man davon aus, dass die Hirngröße bei den Australopithecinen zunächst ganz allmählich zunahm, und dann vor ungefähr zwei Millionen Jahren bei ihren Nachkommen (den ersten Vertretern der Gattung
Homo), von denen einige zu unseren Vorfahren wurden, schlagartig explodierte.
2 Dank kürzlich vorgenommener Korrekturen an den Berechnungen zum Schädelvolumen und den Daten bestimmter Fossilien beginnt sich allerdings ein anderes Bild herauszukristallisieren.
Wie ich in Kapitel 4 dargelegt habe, scheinen die etwa 1,8 Millionen Jahre alten Fossilien, die man im georgischen Dmanisi gefunden hat, den Übergang - eine Art Bindeglied - von den Australopithecinen zu den ersten Vertretern der Gattung
Homo zu bilden. Auch wenn wir gerade erst anfangen, etwas über den Körperbau bei den Homininen von Dmanisi zu lernen, sind deren Schädeleigenschaften definitiv geeignet, Zweifel an einer plötzlichen Explosion der Hirngröße vor zwei Millionen Jahren zu nähren.
3 Grafiken, die das Schädelvolumen mit den bereinigten Volumina und Daten für andere Homininen darstellen, legen vielmehr die Vermutung nahe, dass die durchschnittliche Gehirngröße bei unseren Vorfahren über drei Millionen Jahre hinweg mehr oder minder stetig zugenommen hat.
4 Das hat dazu geführt, dass das menschliche Gehirn heute dreimal so groß ist wie das eines Menschenaffen, und es ist keineswegs gesagt, dass seine Evolution nicht weitergehen und es noch größer werden wird.
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Dieses Gesamtbild einer allmählichen Evolution der Hirngröße steht im Einklang mit den gradualistischen Modellen, die ich im Zusammenhang mit höheren kognitiven Funktionen - darunter unter anderem Sprache, Musik und bildende Künste - beschrieben habe. Es gibt somit wenig Beweise für eine kürzlich erfolgte rasche Expansion der Hirngröße. Wenn überhaupt eine Tendenz nachzuweisen ist, dann hat die Gehirngröße in jüngster Zeit (seit den Neandertalern) eher abgenommen.
6 Doch die Größe eines Gehirns vermag weder bei unseren Vorfahren noch bei uns alles zu erklären, was mit Kognition zusammenhängt. Tatsächlich weiß man, dass das Schädelvolumen völlig normal agierender moderner Menschen ungemein variabel ist und zwischen 790 und 2350 Kubikzentimetern schwankt.
7 Auch die relative Größe und Verschaltung der einzelnen Bestandteile des Gehirns waren einer Evolution unterworfen, und ich glaube, dass der dabei erfolgte Umbau eine neurologische Reorganisation mit sich brachte, die für die Evolution der kognitiven Fähigkeiten des Menschen von kolossaler Bedeutung gewesen ist.
Von begreifenden Händen zu »begreifenden« Gehirnen
Dieser neurologische Umbau führte dazu, dass menschliche Gehirne sich in vieler Hinsicht von denen anderer Primaten wegentwickelten. So unterscheiden sich zum Beispiel beim Menschen die beiden Hirnhälften in ihrer Kontrolle der Hirnaktivität sehr viel stärker als bei anderen Primaten. Obwohl unsere beiden Hände genau wie bei Menschenaffen von der jeweils anderen Hirnhälfte kontrolliert werden, haben die meisten von uns eine starke Vorliebe für die rechte Hand, was bei anderen Primatenpopulationen nicht der Fall ist, sie bevorzugen im Allgemeinen keine Hand. Ein Hirnareal namens Broca-Region in der linken Hirnhälfte des Menschen liegt nahe an der Region, die die rechte Hand kontrolliert, und hat auch das Sagen, wenn es um das Sprechen geht. (Das erklärt übrigens, warum Rechtshänder beim Sprechen mehr mit der rechten Hand gestikulieren.) Diese Tatsachen sind der Wissenschaft hinlänglich bekannt.
8 Andere Einzelheiten hingegen rücken erst jetzt in den Blickpunkt, und zwar dank bildgebender Verfahren, die es möglich machen, einen Menschen in eine Maschine zu packen (zum Beispiel einen Scanner für die funktionelle Kernspinresonanz- oder für die Positronenemissions-Tomografie), ihn darum zu bitten, an etwas Bestimmtes zu denken, und dann zu schauen, in welchen Teilen des Gehirns »das Licht angeht«.
So wunderbar diese Techniken sein mögen, sie lassen sich leider nicht verwenden, um zu beleuchten, welche Veränderungen die innere Organisation unserer Vorfahrengehirne im Lauf der Zeit erfahren hat. Wir können jedoch eine gewisse Vorstellung davon bekommen, indem wir die Gehirne von heute lebenden Menschenaffen und Menschen vergleichen und Schädelausgüsse fossiler Homininen untersuchen. Wir wissen von Menschen und Menschenaffen zum Beispiel, dass sich, nachdem sich die Homininen von der Linie der Menschenaffen abgetrennt haben, die relative Gesamtgröße der großen Lappen des Gehirns recht wenig verändert hat.
9 Demnach sind die Stirnlappen des Menschen - im Gegensatz zur landläufigen Meinung - im Vergleich zu den anderen Hirnlappen nicht übermäßig groß.
10 Eher scheint es, als seien ihre Nachbarn, die Schläfenlappen, ein wenig überdimensioniert - umso besser für
Homo sapiens. Hier werden Sprache, Musik und andere Geräusche verarbeitet, werden Menschen, Tiere und Gegenstände erkannt, Dinge erinnert. Andererseits ist die relative Größe des Kleinhirns, des großen Bewegungskoordinators, der seinen Sitz am hinteren Ende des Gehirns hat, ein wenig reduziert.
Studien, in denen man die Gehirne von Menschen und anderen Primaten verglichen hat, gewähren ebenfalls Einblicke in die Frage, wie bestimmte Hirnstrukturen im Lauf der Homininenevolution neu arrangiert wurden. So ist zum Beispiel eine Struktur tief im Hirninneren, die man von außen nicht sehen kann, die Insula (Inselrinde), beim Menschen ein bisschen vergrößert. Dieser Teil des Gehirns ist wichtig für »Bauchgefühle«, Geschmack und gewisse Aspekte von Sprache.
11 Außerdem ist das Zellmuster in einem Teil des visuellen Systems, der seinen Sitz in den hinteren Regionen des Gehirns hat, beim Menschen in einer Art und Weise entwickelt, dass sich damit das rasche Entschlüsseln von Mund- und Handbewegungen in Rede und Gestik erklären ließe.
12 All diesen Beobachtungen zum Trotz haben diese Beobachtungen jedoch überraschend wenig darüber preisgegeben, wie sich die funktionellen Details unserer Gehirne von denen anderer Primaten unterscheiden.
Todd Preuss vom Yerkes National Primate Research Center, einer der herausragendsten Experten für Primatengehirne, gibt zu bedenken, dass es nicht hinreicht, Hirngewebe von toten Affen und Menschen zu vergleichen. Was wir brauchen, sind vergleichende Untersuchungen zu der Frage, wie die Gehirne im lebenden Subjekt - vorzugsweise in Schimpanse und Mensch - tatsächlich funktionieren, und das ist heute mittels bildgebender Verfahren möglich. Preuss ist der Ansicht, dass wir Verhaltensweisen in kleinere Aktionen aufteilen müssen, bevor wir uns mit ihrer Evolution befassen können.
13 Eines der von ihm angeführten Beispiele betrifft den Akt des Schauens und Nach-etwas-Greifens, den ich besonders faszinierend finde. Schließlich konnten die Babys unserer Vorfahren sich nicht mehr ohne Hilfe an der Mutter festhalten und gleichzeitig die Hand nach etwas austrecken. Wie, fragt Preuss, kann ein scheinbar so einfacher Akt wie das Betrachten eines Gegenstands und das Handausstrecken danach für die Evolution von Bedeutung gewesen sein?
Er gibt zu bedenken, dass in diese Handlung viele kleinere Aktionen eingehen: das Objekt der Begierde im Raum lokalisieren, seine Größe abschätzen, Kopf und Augen bewegen, um es deutlicher zu sehen, die ersten Bewegungen der Hand in seine Richtung programmieren und ausführen, beim Näherkommen die Handbewegung justieren, die Hand zum Greifen öffnen und den Griff anpassen, um Gewicht, Komprimierbarkeit und Textur des zu greifenden Objekts gerecht zu werden. Im Einzelnen gibt es dabei freilich jede Menge Abwandlungen: Die geöffnete Greifhand wird bei Tieren, die mit der ganzen Hand zupacken, ganz anders aussehen als bei einem feiner differenzierten Zugriff. Wie Preuss feststellt: »Wenn wir die Einzelprozesse verstanden haben, die sich zu einem bestimmten Verhalten addieren, oder einen bestimmten psychischen Ablauf ausmachen, vergrößert sich das Spektrum der evolutionären Veränderungen, die man erfassen (und somit empirisch untersuchen kann) ungemein.«
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Die Evolution ist ein begnadeter Flickschuster, wie der Zellgenetiker François Jacob so treffend bemerkte, denn sie schafft aus alten Teilen immer neue Dinge, und es mehren sich die Hinweise darauf, dass Sprache wahrscheinlich aus Netzwerken im Gehirn hervorgegangen ist, die ursprünglich für das Handausstrecken und Greifen verantwortlich waren. Ja Klein- und Menschenaffen verlassen sich in erster Linie auf ihre Hände. Wenn sie Personen und Gegenstände berühren, fühlen und untersuchen, »begreifen« sie so ihre Welt. Obschon wir in hohem Maße von Sprache abhängen, um unsere Welt zu begreifen, sind die Überbleibsel früherer evolutionärer Basteleien noch an der verschlungenen Art und Weise zu erkennen, in der unser Gehirn einerseits Sprache verarbeitet und andererseits greifbare Gegenstände wie Werkzeuge konzeptualisiert, das heißt sich »einen Begriff davon macht«.
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Die auf der folgenden Seite abgebildete Zeichnung unten (der sogenannte sensomotorische Homunculus) illustriert die Lage der Gehirnareale, die, eher im hinteren Teil des Gehirns lokalisiert, Körperempfindungen empfangen, sowie die motorischen Areale weiter vorne, die die Bewegungen des Körpers steuern.
16 Der Homunculus in der linken Hirnhälfte repräsentiert die rechte Körperseite (und umgekehrt), denn der Hauptteil der Nervenbahnen im Gehirn verläuft über Kreuz (eine Ausnahme macht die Innervierung von Teilen des Gesichts). Aus diesem Grund zeigt der Homunculus hier nur rechte Hände und Füße. Ein gequetschter rechter Daumen würde im hinteren Teil der Daumenregion in dieser Zeichnung wahrgenommen, das Daumenareal davor würde den Daumen bewegen.
Wie in der Abbildung zu sehen ist, befinden sich Areale des Gehirns, die uns Vorstellungen von Gegenständen »begreifen« lassen, ganz nahe bei solchen, die uns das Greifen mit den Händen ermöglichen. So aktiviert das bloße Betrachten eines Werkzeugs Nervenzellen in der Nähe des sensorischen und auch in der Nähe des motorischen Areals für die Hand. Wenn wir daran denken, wie ein Werkzeug zu gebrauchen ist, verstärkt sich die Aktivität in der gepunkteten Region, die sich nächst dem motorischen Areal für die Hand befindet.
18 Wird das Werkzeug betrachtet und im Stillen benannt, werden darüber hinaus auch Teile der Broca-Sprachregion aufleuchten (untere Punkte).
19 Es ist nicht zu übersehen, dass die Teile des Gehirns, die damit befasst sind, Werkzeuge zu sehen, über sie nachzudenken und zu benennen, den sensorischen und motorischen Arealen, die das tatsächliche Greifen nach Dingen und das Hantieren damit ermöglichen, benachbart sind und teilweise mit ihnen überlappen.
20 Vom evolutionären Standpunkt aus betrachtet, kommt Preuss zu dem Schluss, dass »die intime Beziehung zwischen Sprache, der Repräsentation von Gegenständen und dem Greifen ein besonders eindrückliches Bild davon vermittelt, wie die Evolution auf existierende Strukturen zurückgreift und sie umfunktioniert«.
21 Damit gewinnt auch die Metapher des »Begreifens« eine neue Dimension.
Abbildung 9.1 Die linke Hirnhälfte, unter anderem von entscheidender Bedeutung für das Sprachvermögen, mit Benennung der einzelnen Hirnlappen. Die mit der Sprache direkt assoziierten Areale sind die Broca-Region (B) und das Wernicke-Areal (W). Das bloße Betrachten von Werkzeugen aktiviert Areale in der Nähe der Handprojektionen, die am Ergreifen eines Geräts beteiligt wären (obere Punktereihe), sie im Stillen zu nennen hingegen aktiviert Teile der Broca-Region (untere Punkte). Das hellgraue Areal unterhalb von B wird beim Aufnehmen gesprochener oder gebärdeter Sätze aktiviert, die dunkelgraue Region oberhalb von B ist für die Grammatik wichtig.
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Neuere Untersuchungen mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass sich weitere Nachbarregionen im Stirnlappen im Verlauf der Evolution dahin entwickelt haben, die subtileren Aspekte von Sprache zu erfassen.
22 Kuniyoshi Sakai von der Tokioter Universität wartet mit folgendem Beispiel auf: »John glaubt, dass David Oskar mag« bedeutet etwas ganz anderes als »John glaubt, dass Oskar David mag«, obwohl beide Sätze exakt dieselben Worte beinhalten. Um zwischen den beiden Aussagen zu unterscheiden, ist ein Verständnis für die Syntax - den Bereich der Grammatik, nach dessen Regeln Wörter zu Phrasen und Sätzen zusammengefügt werden - nötig, und Sakai hat herausgefunden, welche Teile des linken Stirnlappens die beiden Bedeutungen auseinanderdividieren. Das hellgraue Areal unmittelbar vor der Broca-Region B in der neben stehenden
Abbildung 9.1 wird während des Aufnehmens von gesprochenen oder gebärdeten Sätzen selektiv aktiviert. Diese Region selbst aber entschlüsselt nicht die Bedeutung des aufgenommenen Satzes. Vielmehr kommuniziert sie mit der dunkelgrauen Region oberhalb von B, die Sakai als Grammatikzentrum betrachtet, welches die Universalität der Verarbeitung von Grammatik reflektiert. Obschon Sakai der Ansicht ist, dass es für das Grammatikzentrum bei anderen Tierarten keinerlei Entsprechung gibt, ist es doch interessant, dass in den Gehirnen von Kleinaffen ganz ähnliche Regionen für das Orientierungsverhalten bedeutsam sind, denn in gewissem Sinne haben auch Grammatik und Syntax mit Orientierung zu tun: Der Ausrichtung (= Orientierung) kleiner Einheiten (Wörter zum Beispiel) innerhalb größerer (Sätze zum Beispiel).
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Wenn Preuss recht hat, dann besitzt die Floskel »von der Hand in den Mund« weit über die Nahrungsaufnahme hinaus Geltung. In der Tat haben die Babys unserer Vorfahren die Fähigkeit verloren, sich selbständig an ihren Müttern festzuhalten, und ich vertrete die Ansicht, dass dadurch eine ganze Kaskade von Ereignissen in Gang gesetzt wurde, die letztlich in der Erfindung einer Protosprache mündete. Die Teile des Gehirns, die am Zupacken und Festhalten beteiligt sind, werden natürlich im Verlauf dieser Entwicklung ebenfalls verändert worden sein, was wunderbar zu der Vorstellung passt, dass im Verlauf der Sprachentwicklung Handprojektionen eingebunden wurden. Statt einen Gegenstand durch reines Betrachten und Befingern (oder Beschnüffeln und mit Pfoten betasten) zu erfassen, wie andere Tiere das tun, verfügen wir über eine zusätzliche Verständnisebene, zu der das Konzeptualisieren von Gegenständen (also die Fähigkeit, sich »einen Begriff« von Dingen machen zu können) in Gestalt von Laut- oder Gebärdeneinheiten (Namen) gehört, die intentional an andere übermittelt werden können. Hinzu kommt, dass die Gehirnanatomie, die für diese zusätzliche Dimension erforderlich ist, durchaus aus Netzwerken zusammengestrickt worden sein kann, die ehedem für das Betrachten und »Begreifen« zuständig waren.
Die Spiegel des Gehirns
Ähnliche Elemente der Gehirnanatomie lassen sich heutzutage bei Kleinaffen beobachten, den besten aller verfügbaren lebenden Vorlagen für die Entschlüsselung der Evolution des menschlichen Gehirns. Wenn Kleinaffen andere Individuen dabei beobachten, wie diese nach etwas greifen und zupacken, wird ein bestimmtes Areal im Stirnlappen ihres Gehirns aktiviert. Ja bestimmte Nervenzellen in dieser Region feuern sowohl, wenn der Affe einem Individuum dabei zusieht, wie es eine Aktion vollführt, als auch, wenn der beobachtende Affe selbst diese Aktion durchführt - sie buchstäblich nachäfft.
24 Diese Spiegelneuronen, wie sie von ihren Entdeckern - Giacomo Rizzolatti und seinen Kollegen von der Universität Parma - genannt wurden, sind aufgrund dieser Doppeleigenschaft ziemlich bemerkenswert. Wie Rizzolatti herausgefunden hat, bilden Spiegelneuronen eine Brücke zwischen Akteuren und Beobachtern, indem sie beobachtete Ereignisse mit ähnlichen, innerlich ablaufenden Aktionen beim Beobachter zur Deckung bringen, was dann zum Ausführen besagter Handlung führt (oder auch nicht).
25 Spiegelneuronen spielen daher, so nimmt man an, eine wichtige Rolle beim Nachahmen, Verstehen und Lernen von Handlungen.
Interessanterweise korrespondiert der Teil des Stirnlappens, in dem die Spiegelneuronen bei Kleinaffen ihren Sitz haben, in seiner Lage mit einem Teil der Broca-Sprachregion beim Menschen, der aktiviert wird, wenn wir zuschauen, wie andere ihre Finger bewegen, und noch mehr, wenn wir das Verhalten, das wir beobachten, tatsächlich imitieren.
26 Auch wir verfügen also über Spiegelneuronen.
27 Ausgehend von ihren Arbeiten über Spiegelneuronen glauben Rizzolatti und seine Mitstreiter, dass die menschliche Sprache sich aus einem Grundmechanismus heraus entwickelt hat, der ursprünglich mit der Fähigkeit zu tun hatte, Handlungen bei anderen zu erkennen, und dass manuelle Gesten der Evolution von Sprache den Weg geebnet haben. Diese Überlegung fügt sich nahtlos in die Vorstellung, dass die Evolution sich bereits existierender Strukturen im Gehirn unserer Vorfahren bedient und diese mit neuen Funktionen betraut hat.
Aber damit ist es nicht genug: Seit der Entdeckung der ersten Spiegelneuronen im Zusammenhang mit dem Ergreifen von Gegenständen in den 1990er-Jahren hat man bei Kleinaffen und Menschen jede Menge Spiegelneuronen entdeckt, die auf andere Arten von Reizen reagieren, und diese sind unter Umständen sehr wichtig für die Evolution jener kognitiven Fähigkeiten, die Menschen von anderen Primaten abheben. So verfügen wir Menschen beispielsweise über Spiegelneuronen, die aktiviert werden, wenn wir Geräusche produzieren oder hören, die mit bestimmten Aktivitäten von Hand oder Mund einhergehen - wie das Zerreißen eines Stück Papiers zum Beispiel, das Öffnen einer Coladose, das Zerkauen eines Bonbons oder Küssen und Gurgeln.
28 Die neuronale Aktivität, die allein durch Geräusche zustande kommt, ist in der linken Hirnhälfte stärker ausgeprägt als in der rechten. Ähnlich wie man es für das physische Greifen im Vergleich zum stillen Benennen von Werkzeugen beobachtet hat, liegen auch hier die Neuronen, die sowohl auf das Ausführen einer Handlung als auch auf das Anhören des mit dieser assoziierten Geräusches reagieren, näher an den Handregionen des Gehirns, wohingegen solche, die mit Aktivitäten des Mundes zusammenhängen, näher an der Repräsentation des Mundes liegen. Auch zeigen, wenn wir einer Rede lauschen, die Teile der Broca-Region lebhafte Aktivität, die auch aktiviert sind, wenn wir selbst sprechen.
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Des Weiteren gibt es Hinweise darauf, dass Spiegelneuronen die wechselseitige Sensibilität zwischen den Homininenmüttern der Urzeit und ihren Säuglingen begünstigt haben und an der Evolution der Kommunikation zwischen beiden maßgeblich beteiligt gewesen sein könnten. Laut Stein Braten von der Osloer Universität beginnt ein Schimpanse, sobald er alt genug ist, von seinem geschützten Platz im Bauchfell der Mutter in die reitende Position auf ihrem Rücken zu wechseln, die Welt buchstäblich mit anderen Augen, aus ihrer Perspektive eben, zu sehen. Ein Säugling, der auf dem Rücken reitet, bewegt nicht nur seinen Körper im Gleichklang mit den Bewegungen seiner Mutter, sondern passt häufig auch seine Blickrichtung der Bewegungsrichtung der Mutter an, wodurch er in dieselbe Richtung wie die Mutter zu blicken scheint.«
30 Im Unterschied zu Menschenkindern aber pflegen Schimpansenjunge keinen ausgedehnten Blickkontakt zu ihren Müttern oder ähnliches Verhalten, das einer Kommunikation von Angesicht zu Angesicht gleichkäme.
Homininenbabys der Urzeit, denen die Fähigkeit, sich in Mamas Fell festzukrallen, abhandengekommen war, wären ausgestorben, hätten sie nicht die Fähigkeit entwickelt, zuzuhören und zu lernen, indem sie die Handlungen ihrer Mütter spiegeln. Als Säuglinge aus ihrer einstigen Huckepackperspektive dazu übergingen, mehr Zeit in den Armen ihrer Mütter oder am Boden zu verbringen, verlegten sie sich erstmals auf die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht.
31 Das war höchstwahrscheinlich auch ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Herausbildung von Sprache. Braten nennt noch weitere Schritte, die dem Leser inzwischen vertraut sein sollten: das lautliche Imitieren von Neugeborenen, das Wechselspiel zwischen Mutter und Kind, das selektive Einstimmen auf die Sprachmelodie ihrer sozialen Umgebung und das Lallen. Wie bereits erwähnt, ist Braten der Ansicht, dass diese Schritte sich ohne Spiegelneuronen nicht ereignet hätten. Die Evolution von Spiegelneuronen war außerdem insofern von Bedeutung, als sie unseren Vorfahren half, die entscheidend wichtige Fertigkeit zu entwickeln, die Motive und Gedanken anderer verstehen zu können.
Und was ist mit TOM?
Wie ich im letzten Kapitel erläutert habe, wird die Fähigkeit, den emotionalen Zustand, die Intentionen und Motivationen unserer Mitmenschen zu erkennen, als Theory of Mind, kurz TOM, bezeichnet, und Menschen sind, was diese anbelangt, außerordentlich begabt. Professionelle Tänzer können im Geiste ihre Schrittkombinationen üben, ja »fühlen« unter Umständen gar die Vorführung, die sie vor ihrem inneren Auge ablaufen lassen: eine künstlerische, eine athletische Manifestation der TOM.
32 Es sollte uns daher nicht verwundern, dass man unlängst in der Nähe der Beinprojektion im sensomotorischen Homunculus Spiegelneuronen gefunden hat und dass diese ansprechen, wenn das jeweils andere Bein sachte mit einem Pinsel gestreichelt wird beziehungsweise wenn Leute solches bei anderen beobachten.
33 Christian Keysers von der Universität Groningen bezeichnet diese letztgenannte Reaktion als »taktile Empathie« und erklärt, dass diese unter anderem dafür verantwortlich ist, dass Leute, die sich
James Bond jagt Dr. No anschauen, beim Anblick der haarigen Tarantel, die 007 auf dem Leib herumkrabbelt, ein schauriges Kribbeln verspüren. Unsere Empathie belässt es allerdings nicht bei Berührungsreizen. Der Betrachter liest an Bonds Gesichtsausdruck ab, dass dieser sich fürchtet, und beginnt sich ebenfalls zu fürchten (das kann bis zu Herzrasen, Gänsehaut und gesträubten Nackenhaaren gehen).
Obwohl andere Primaten, was die Theory of Mind angeht, nicht ganz so versiert sind wie Menschen, geht ihnen diese Fähigkeit doch nicht komplett ab. Paviane zum Beispiel verfügen über ein gewisses Maß an Theory of Mind. Nach langjährigen Experimenten zum Verständnis der geistigen Kapazitäten von Pavianen, in denen sie deren Lautäußerungen aus versteckten Lautsprechern erklingen ließen und die Reaktion der beschallten Tiere aufzeichneten, wurde Dorothy Cheney und Robert Seyfarth von der University of Pennsylvania klar, dass die ungefähr achtzig Paviane, die sie untersuchten, die Stimmen aller Gruppenmitglieder kannten und soziale Interaktionen allein aus deren Tonfall herzuleiten vermochten.
34 Beim Anhören der aufgezeichneten Schreie eines bestimmten Säuglings blickte dessen Mutter beispielsweise gebannt auf den Lautsprecher, während die anderen Paviane auf sie schauten. Einige der Playbacks waren so geschnitten worden, dass sie höchst unwahrscheinliche soziale Szenarien wiedergaben - beispielsweise das Drohgrunzen eines rangniederen Männchens, gefolgt vom Angstkreischen eines dominanten Männchens. Im Vergleich zu Experimenten mit realistischeren Tonaufnahmen, erzeugten diese unwahrscheinlichen Konstellationen bei den zuhörenden Tieren Überraschung. Cheney und Seyfarth kamen zu dem Schluss, dass Paviane über eine Theory of Mind verfügen, diese jedoch in vagen Empfindungen betreffs der Intentionen anderer Tiere besteht und nicht die dem Menschen eigene Fähigkeit erreicht, spezielle Ziele und Anliegen, Vorlieben, Abneigungen und Motive des Gegenübers zu erfassen. Diese Unterscheidung ist insofern interessant, als eine erhöhte soziale Wahrnehmung im Rahmen der Evolution menschlicher Intelligenz, wie man annimmt, eine entscheidende Rolle gespielt hat.
Zur Intelligenz gehört jedoch freilich mehr als ein Verständnis für soziale Beziehungen. Aus diesem Grund hat Esther Herrmann vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig zusammen mit ihren Kollegen vor Kurzem eine große Zahl von jungen Schimpansen-, Orang-Utan- und Menschenkindern im Alter von etwa zweieinhalb Jahren auf die Relation zwischen Wissen um die physikalische Welt und sozialer Intelligenz untersucht.
35 Zu den Wissenstests in Bezug auf die physikalische Welt gehörten unter anderem Hütchenspiele - das Hinundherschieben von unter Bechern versteckten Leckereien -, das Abschätzen von Mengen und die Verwendung eines Stöckchens zum Ergattern von Leckerbissen, die außer Reichweite sind. Die Tests zur sozialen Intelligenz umfassten das Lösen eines einfachen Problems nach der Demonstration einer möglichen Lösung seitens der Experimentatoren, das Verstehen von Gesten, die versteckte Belohnungen anzeigten, und ihre Beherrschung sowie zwei Aufgaben, die besonders auf die Theory of Mind abhoben - dem Blick eines Akteurs auf einen Gegenstand folgen und seine Intentionen erfassen. Die Ergebnisse waren verblüffend: »Kleine Kinder, die seit einem Jahr laufen und sprechen konnten, aber noch ein paar Jahre von Schulbesuch und Lesenlernen entfernt waren, schnitten bei Aufgaben zur physikalischen Kognition im Prinzip in etwa genauso ab wie Schimpansen, übertrumpften Schimpansen und Orang-Utans jedoch bei Weitem in Bezug auf kognitive Aufgaben zur sozialen Intelligenz.«
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Noch Erstaunlicheres zum Thema TOM hat man bei Kindern festgestellt, die noch nicht sprechen konnten. In einem intelligent angelegten Experiment mit Puppen konnten Kiley Hamlin und ihre Kollegen an der Yale University zeigen, dass Babys bereits im Alter von sechs Monaten unterscheiden können zwischen Akteuren, die sich anderen gegenüber gut benehmen, und solchen, die sich anderen gegenüber schlecht verhalten, und dass sie diese Information außerdem sehr gut umzusetzen vermochten.
37 Hamlin zeigte den Kindern als Erstes ein Puppentheater, bei dem ein Kreis mit großen Knopfaugen vergeblich einen Hügel zu erklimmen versuchte. Dann wurde dem sich mühenden Kletterer entweder von einer anderen, wohlwollenden Figur geholfen, oder er wurde von einer übelwollenden Puppe am Klettern gehindert. Im Anschluss ließ sie die Kinder eine der beiden Puppen auswählen, und fast alle zogen die hilfsbereite Puppe vor. Ja Hamlin war einigermaßen schockiert über die Eindeutigkeit der Reaktion und mutmaßt seither, dass die Fähigkeit, zwischen netten und garstigen Personen zu unterscheiden, womöglich angeboren sein könnte.
38 Vielleicht ist an der alten Weisheit, dass man in Bezug auf Fremde dem Riecher von Kindern und Hunden vertrauen sollte, tatsächlich etwas dran.
Diese faszinierenden Untersuchungen zusammengenommen legen nahe, dass die Ansprüche, die das Leben in einer sozialen Gruppe an ein Lebewesen stellt, bei unseren Vorfahren vielleicht eine treibende Kraft für die Evolution des Gehirns dargestellt haben könnten - eine Überlegung, die es seit Langem gibt und die eng mit der Theory of Mind verknüpft ist. Eine Version dieser Theorie betont die Wichtigkeit kompetitiver Interaktionen, zu denen auch Manipulation und Betrug gehören, und die bezeichnenderweise den Namen Machiavelli’sche Intelligenz trägt.
39 Eine andere Sichtweise geht davon aus, dass die Hirngröße zunahm, als die sozialen Gruppen immer größer wurden, um mit den zunehmend komplizierter und vertrackter werdenden sozialen Beziehungen Schritt halten und diese handhaben zu können. In einer interessanten Volte mutmaßt diese Theorie, dass Sprache sich irgendwann als eine Art sozialer Fellpflege entwickelt hat, als die Gruppengrößen solche Ausmaße annahmen, dass die Zahl der Bekannten zu groß wurde, als dass man Zeit genug gehabt hätte, jeden davon auf die gute alte Art per Hand zu lausen.
40 Dieser Ansatz postuliert, dass Stimmen irgendwann Hände zu ersetzen begannen.
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Tatsächlich hat es den Anschein, als habe die im Lauf der Evolution zunehmende Größe des Homininengehirns mit der Herausbildung linguistischer Fertigkeiten zu tun. Die folgende grafische Darstellung des Hirnwachstums beim heranwachsenden Menschen während der sensiblen Entwicklungsphase von der frühen Kleinkindzeit bis in die Pubertät, in der das Sprachenlernen besonders leicht fällt, spricht sehr für diese Theorie.
42 Die entwicklungsphysiologischen Meilensteine der Sprachentwicklung wie das Lallen und die Bildung erster Sätze geschieht in den ersten paar Lebensjahren, in denen das Gehirn zwar noch klein ist, aber am raschesten wächst (wie man am steilen Anstieg der Kurve erkennt). Nach der sensiblen Periode des Spracherwerbs ändert sich die Gehirngröße nicht mehr so dramatisch. Wie bereits erwähnt, ist gut vorstellbar, dass dieses Muster, das wir bei der Individualentwicklung von heutigen Kindern beobachten, möglicherweise umfassende Veränderungen widerspiegelt, die sich während der Evolution bei unseren Vorfahren ergeben haben.
Abbildung 9.2 Die Zunahme der Hirngröße im Verlauf der menschlichen Entwicklung fällt in die Jahre, in denen Kinder für den Erwerb von Sprache am empfänglichsten sind. Das steht im Einklang mit der Überlegung, dass es im Verlauf der Homininenevolution möglicherweise auch einen Zusammenhang zwischen der Hirngröße und der Entstehung von Sprache gegeben hat. (Das Hirnwachstum in den einzelnen Altersstufen ist angegeben in Prozent der Masse des ausgereiften Gehirns beim Erwachsenen). Grafik mit freundlicher Genehmigung von Kuniyoshi Sakai
Sprache muss die Theory of Mind begünstigt haben, indem sie unseren Vorfahren erlaubte, Gedanken zu hegen wie: »Ich glaube, sie weiß, wo der Apfel ist, und wartet nur darauf, dass ich weggehe, damit sie ihn sich holen kann, und sie weiß, dass das der Grund ist, weshalb ich nicht weggehe.« Da Spiegelneuronen sowohl aktiviert werden, wenn jemand bei einem anderen Empfindungen und Emotionen beobachtet, als auch dann, wenn der Betreffende die jeweilige Erfahrung selbst macht, ist es sehr wahrscheinlich, dass Spiegelneuronen die Grundpfeiler der Theory of Mind bilden. Tatsächlich wird diese Überlegung gegenwärtig von einer Handvoll Neurowissenschaftler überprüft, die mithilfe bildgebender Verfahren versuchen, genau aufzuschlüsseln, wo im Gehirn Spiegelneuronen aktiviert werden, wenn Menschen über den mentalen Status eines anderen nachdenken. Ein faszinierender Befund auf dem Weg dahin: Es hat sich gezeigt, dass Menschen, die in Tests auf Sensibilität für das Befinden anderer besonders hohe Werte erzielen, auch besonders aktive Spiegelneuronen haben.
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Attraktionen über Attraktionen
Als ob die Informationsexplosion, die uns die bildgebenden Verfahren beschert haben, noch nicht genug wäre, ist damit zu rechnen, dass eine weitere Revolution unseren Wissensstand zum Thema Evolution des Gehirns in nächster Zeit dramatisch verbessern wird. Es handelt sich um die noch in ihren Anfängen steckende vergleichende Genomik.
44 Die lang erwartete Auflistung aller Gene des menschlichen Genoms wurde im Jahr 2001 veröffentlicht.
45 Das Schimpansengenom ist seit 2005 verfügbar.
46 Vordem hatte die Aussage, dass Menschen und Schimpansen zu etwa 99 Prozent in ihren Genen übereinstimmen, nahezu Faktenstatus erreicht. Nun, da die beiden Genome verfügbar sind, können die Wissenschaftler jedoch erstmals vergleichen, wie die innere Organisation der Gene aussieht, wo es von einer Gruppe zur anderen Vertauschungen, Deletionen, Vervielfältigungen oder neue Anordnungen gegeben hat. In der Tat sieht es mehr und mehr danach aus, dass sich die Genome von Schimpansen und Menschen statt wie bisher angenommen um 1 Prozent um etwa 4 Prozent unterscheiden.
47 Entgegen der landläufigen Überzeugung stehen wir unseren Schimpansenvettern genetisch nicht ganz so nahe, wie wir zuvor glaubten. Trotzdem sind und bleiben sie unsere engsten Verwandten.
48
Auch die Untersuchung von Genen, die mit Erkrankungen einhergehen, beginnt Hinweise über die Evolution kognitiver Fähigkeiten beim Menschen zu liefern.
49 So hat zum Beispiel das Gen
FOXP2 große Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil fast die Hälfte aller Angehörigen einer bemerkenswert großen Familie mit einer Entwicklungsstörung geboren wurde, die das Sprechvermögen der Betroffenen erheblich einschränkt. Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass diejenigen Familienmitglieder, bei denen dieses Gen mutiert ist, beim Sprechen eine stark verringerte Aktivität in und nahe der Broca-Region in der linken Hirnhälfte aufweisen.
50 Stattdessen zeigte sich bei ihnen beidseitig eine erhöhte Aktivität in weiter hinten gelegenen Regionen. Obschon kürzlich gemutmaßt wurde, dass die beim Menschen normalerweise anzutreffende Form von
FOXP2 erst vor Kurzem in der Evolution entstanden ist und eine Art Zauberschlüssel darstellt, der zur plötzlichen, explosionsartigen Entwicklung von Sprache geführt hat, scheint dies eher unwahrscheinlich. Varianten von
FOXP2 hat man auch bei Mäusen und Vögeln gefunden, und beim Menschen ist das Gen in vielen verschiedenen Geweben exprimiert, unter anderem in Herz, Lunge und Darm während der Organentwicklung.
51 FOXP2 ist daher vermutlich kein reines Sprachgen, sondern hat eine eher allgemeinere Funktion. Michail Corbalis von der University of Auckland, Neuseeland, stellt dazu fest: »An der Evolution vom nicht sprechenden Affen zum sprachgewandten Menschen werden viele Gene und zahlreiche Zwischenstufen beteiligt gewesen sein.«
52 Auch wenn das Gebiet noch jung ist: Die Kombination von Erkenntnissen zur Genetik menschlicher Erkrankungen mit Informationen über die Funktion unseres Gehirns sieht in Bezug auf künftige Studien zur Gehirnevolution bei Homininen durchaus vielversprechend aus.
Mütter und Kinder - einst und morgen
Nun mag es ein Allgemeinplatz sein, dass Kinder die Zukunft unserer Art sind, dieses Buch aber zeigt, dass sie und ihre Mütter auch unsere Vergangenheit entscheidend beeinflusst haben. Die natürliche Selektion hat den langen Weg der Menschheit geprägt, wie sie es immer tut, indem sie entscheidet, wer überlebt und wer nicht. Da unsere ältesten Vorfahren sich in vielem wie moderne Schimpansen verhalten haben und ihnen ein enges Vater-Kind-Verhältnis fremd war, lag die Bürde der Aufzucht gesunder Kinder in erster Linie bei den Müttern der Frühgeschichte. Als unsere Vorfahren begannen, auf zwei Beinen zu gehen, bildeten die Veränderungen, die ihr Körper erfuhr, ein prominentes Angriffsziel für die natürliche Selektion. Das allein ist Rechtfertigung genug, der Rolle von Müttern und Kindern im Verlauf unserer außerordentlichen Evolution nachzuspüren. Ein weiterer Grund ist der, dass sich die herkömmlichen Theorien, die sich mit der menschlichen Evolution befassen, in aller Regel auf die Rolle des Mannes konzentriert und so ziemlich jeden anderen Faktor unbeachtet gelassen haben. Obwohl Großmüttern und Nahrung suchenden Müttern ganz allmählich ein Teil der Anerkennung für die bemerkenswerten Fortschritte unserer Art zuzufallen beginnt, ist die Rolle von Kindern bis heute kaum beachtet worden.
Das hat sich geändert. Obwohl es auf den ersten Blick wie ein zu simples Detail erscheint, hat die verminderte Fähigkeit zum Zupacken bei den Babys unserer Urahnen, die die evolutionäre Entwicklung zur Zweibeinigkeit überlebt haben, die menschliche Evolution mit Sicherheit tief greifend beeinflusst. Babys, die sich nicht mehr ohne Hilfe an der Mutter festhalten konnten, werden lautstark protestiert haben, sobald ihre Mütter sie ablegten, um Nahrung zu suchen oder auch einfach nur zu ruhen. Zum ersten Mal in der Frühgeschichte haben Mütter mit ihrer Stimme auf diese Klagen reagiert, als Ersatz für Geborgenheit spendende Arme erste Wiegenlieder und eine beruhigende Ammensprache erfunden. Nach und nach haben sich als Nebenprodukt dieser Neuerungen die ersten Wörter entwickelt, aus denen dann irgendwann eine erste Sprache erwachsen ist, und wie die jüngste Entwicklung einer Gebärdensprache an nicaraguanischen Gehörlosenschulen zeigt, sind solche Durchbrüche großenteils von Kindern erfunden und verbreitet worden. Und all das, weil Füße zum Gehen umgemodelt wurden und hilflose kleine Hände die Fähigkeit verloren haben, sich selbsttätig an etwas festzuhalten.
Natürlich haben die Hände der Homininenbabys den Reflex zum Zupacken niemals ganz verloren. Er ist auch bei unseren Neugeborenen noch vorhanden, wie das Bild meines Enkels auf dem Arm seines Vaters zeigt. Aber die Fähigkeit, sich ohne Hilfe festzuhalten, war auf immer dahin. Auch wenn die Homininenbabys, die dieses Experiment der Natur überlebt haben, bei der Entwicklung ihrer motorischen Fähigkeiten langsamer voranschritten, heißt das nicht, dass sie zu ungeschickten Tölpeln heranwuchsen. Im Gegenteil, die Homininenhand hat sich im Lauf der Zeit so verändert, dass aus einem Präzisionsorgan ein noch präziseres Präzisionsorgan wurde. Im Verlauf dieses Prozesses wurden die Daumen sehr flexibel und taugten damit besser zum Beerenpflücken, zum Herstellen und Verwenden von Werkzeugen und schließlich zum Halten von Stiften.
Die evolutionären Veränderungen der Anatomie und der Funktion von Händen und Füßen gingen einher mit Veränderungen ihrer Repräsentationen im Gehirn. Man betrachte nur die Größe von Händen und Daumen bei dem Homunculus, den wir weiter vorne in diesem Kapitel gesehen haben. Und ist es nicht etwas Wunderbares, dass Mutter Natur Netzwerke im Gehirn, die dem Ergreifen und Herbeiholen von Gegenständen gewidmet waren (und sind) mitverwendet hat, als sie uns die linguistische Möglichkeit verschaffte, Konzepte zu »begreifen«? Das ist besonders pikant, weil es die zupackenden Hände und Füße waren - oder besser deren Fehlen -, die die Entwicklung einer Ammensprache und damit letztlich von Sprache überhaupt bedingten. So macht man aus der Not eine Tugend.
Wie wir gesehen haben, haben sich Hand in Hand mit der Entwicklung des Gehirns unserer Vorfahren auch die bildenden Künste entwickelt. Und die Musik. Ihre Hauptbestandteile waren ähnlich und bestanden aus diskreten Elementen - Noten und grafischen Motiven -, die sich zu größeren und bedeutungstragenden Einheiten kombinieren und mit anderen teilen ließen, sowie den Regeln (der Syntax), nach denen dies zu erfolgen hatte. Es sind dies dieselben Elemente, aus denen unsere Vorfahren auch Sprache haben entstehen lassen. Letzten Endes kann man sagen: Wenn die Babys unserer Vorfahren nicht die Fähigkeit verloren hätten, sich ohne Hilfe an ihren Müttern festzukrallen, gäbe es keine Mozart-Klavierkonzerte und keine Mona Lisa, kein Ballett, keine Shakespeare-Dramen und kein E=mc
2. Ja hätte es die ersten Koselaute einer Ammensprache nicht gegeben, die die Kinder unserer Vorfahren beruhigt haben, gäbe es den Menschen, wie wir ihn heute kennen, nicht.
Keine Frage, dass unsere Art nicht nur in der Schuld prähistorischer Mütter steht, auch deren Kindern ist sie zu Dank verpflichtet, denn sie haben den Anstoß für die Evolution jener kognitiven Fähigkeiten gegeben, die uns heute von anderen Tieren abheben. Es ist, wenn man einmal darüber nachdenkt, schon erstaunlich, dass Sprache und das bewusste Denken, das diese erst möglich macht, sich letztlich dem schlichten Bedürfnis prähistorischer Babys verdankt, von ihren Betreuern im Arm gehalten und getröstet zu werden. Harlows legendäre Makakenexperimente und Tausende neuerer Untersuchungen an Primatenkindern - den Menschen eingeschlossen - zeigen, dass das Bedürfnis der Kleinsten nach Körperkontakt mit Eltern und anderen Betreuern für Primaten von größter Wichtigkeit ist. Wenn die Vergangenheit der beste Prophet für die Zukunft ist, dann wären Menscheneltern überall auf der Welt gut beraten, diesem Bedürfnis größte Aufmerksamkeit zu schenken.