ACHTERBAHN INS VERDERBEN

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Dirk sprang in das schwarz glimmende Magische Loch und schrie, so laut er konnte: »Grotten der Lady Gram!«

Fast sofort umgab ihn absolute Dunkelheit. Er schien durch eine Art magischen Tunnel zu fallen, ein bisschen kam es ihm wie eine Wasserrutsche vor – nur dass das hier keine Spaßrutsche war, die in einem beheizten Pool endete, sondern ein ungebremster, höllischer Sturz ins Verderben. Seltsame Gesichter und Bilder tauchten blitzartig auf, Kreischen, Heulen, Jammern und entsetzliche Todesschreie hallten und schallten von überall her, grausige Knochenhände griffen nach ihm, klebrige Spinnennetze streiften über sein Gesicht, unheimliche, bleich glimmende Totenschädel mit rot glühenden Augenhöhlen belauerten ihn gierig aus dem Dunkeln. Glücklicherweise war Dirk solche Schrecken gewohnt, die undurchdringliche Dunkelheit mit ihren kreischenden bleichen Totenschädeln und geisterhaften Gesichtern gefiel ihm. Er überlegte sogar, ob der Sturz in die Grotten der ollen Gram nicht eine fantastische Attraktion in einer Art Darkland-Vergnügungspark abgeben würde. »Der Höllentunnel des Dark Lord« oder so ähnlich.

Plötzlich fiel er in gleißend helles Sonnenlicht hinaus und stürzte einen mit staubiger Asche bedeckten Abhang hinunter. Er setzte sich auf, immer noch ein wenig benommen von dem halsbrecherischen Sturz durch den Todestunnel, und blickte sich um. Offenbar befand er sich auf einem Abhang eines kahlen, felsigen Gebirges, das die Farbe von Knochen hatte, die von einer erbarmungslosen Sonne ausgebleicht worden waren. Eine ausgedorrte, wüste, heiße Landschaft, in der nichts, rein gar nichts wachsen und überleben konnte. Die glühend heiße Luft schien förmlich die Lungen zu versengen.

In der nächsten Sekunde stürzte ein schreiender Junge direkt auf Dirk.

»Aaarrr!!!«, heulte der Junge.

»Runter von mir, du kleiner Erdling!«, fauchte Dirk.

»Was, was …«, stammelte Chris und blickte sich verwirrt um. »Wow! Das war … das war … grausig …!«

Dirk drehte sich ruckartig um und blickte nach oben. »Weg! Weg!«, schrie er und riss Chris mit sich zur Seite.

Keine Sekunde zu früh – ein riesiges, massiges, geflügeltes, schuppiges, gehörntes Monster krachte in einer gewaltigen Aschestaubwolke buchstäblich aus dem Himmel herab, genau auf die Stelle, an der Dirk und Chris gerade noch gesessen hatten.

»Roooaaarrrr!!!«, brüllte Gargon. »War spitze!«

»Jaja, wissen wir, Gargon, aber mach schnell Platz! Hier kommt schon Rufino!«

Und tatsächlich stürzte nun auch der große Ritter herab, vor Schrecken völlig weiß im Gesicht. Aber Gargon war darauf gefasst, sprang rasch auf und fing Rufino mit seinen gewaltigen Armen auf. Einen Augenblick lang blieb Rufino bewegungslos an Gargons Hals hängen und blickte wie ein Säugling zu ihm auf.

»Ah, dadada, wo ist er denn, der Kleine …«, sagte Chris mit übertriebener kindlicher Stimme, froh, von dem albtraumhaften Schock abgelenkt zu werden, den er bei dem Sturz durch den Tunnel erlebt hatte. Dirk lachte laut los; sein Gelächter hallte durch das unheimliche Gebirge – und Lachen war etwas, das dort wahrscheinlich schon seit tausend Jahren nicht mehr zu hören gewesen war.

Der große Dämon und der mächtige Ritter blinzelten sich in größter Verlegenheit an.

»Äh, hm, setz mich sofort ab!«, befahl der Ritter.

»Ja, Gargon dich setzt ab, sofort!«, sagte der Dämon mit seiner rau knirschenden Stimme. Und ließ Rufino einfach wie eine heiße Kartoffel fallen.

Dirk runzelte die Stirn und blickte nach oben. »Wer ist der Nächste – Aknus? Er hätte längst hier sein müssen.«

»Vielleicht hat sich das Loch wieder geschlossen?«, sagte Chris. Doch im selben Augenblick stürzte eine weitere Gestalt herab, mit vor in heillosem Entsetzen verzerrtem Gesicht: Suus!

»AAAAUUUU!«, heulte sie durchdringend.

Aber wieder sprang Gargon vor und fing sie sanft in seinen Armen auf, wobei er sorgsam darauf achtete, ihr mit seinen langen Krallen keine Kratzer zuzufügen.

Suus blickte dankbar zu ihm auf.

»Danke, Gargy«, sagte sie matt, ließ den Kopf gegen seine mächtige Brust sinken und rang nach Atem, während sie sich von dem entsetzlichen Geistertunneltrip erholte. Gargon blickte liebevoll auf sie hinab.

»Ist doch selbstverständlich, Mylady. Gargon nur glücklich, wenn Lady helfen.« Sogar seine raue Stimme konnte sanft klingen und auf seinem Gesicht lag ein fürsorglicher Ausdruck – allerdings musste man ihn schon sehr genau kennen, um das in seinem Gesicht, das von riesigen Reißzähnen beherrscht wurde, überhaupt zu erkennen.

Dirk hüstelte. »Na dann … Zurück zu unserem Plan. Wo ist Aknus?«

Gargon beugte sich nieder und Suus stieg aus seinen Armen. »Na ja«, sagte sie, »ich habe gesehen, wie er ins Loch sprang, aber dann … ich glaube, er hat da irgendwas verwechselt.«

»Bei den Neun Höllen! Das könnte für ihn sehr gefährlich werden! Was hat er gerufen?«

»Äh …« Suus zögerte.

»Was denn nun?«, rief Dirk ungeduldig. »Wenn er etwas Falsches gesagt hat, wird ihn das Loch irgendwo ausspucken, vielleicht mitten in einem Berg oder an irgendeiner anderen grauenhaften Stelle!«

»Na ja …«, sagte Suus und rieb sich verlegen das Kinn.

»Komm schon! Wohin wollte er, was hat er genau gesagt?«

Suus seufzte. »Er … er sagte … ›Goblin-Gehege‹. Tut mir leid, Dirk!«

Dirk schaute sie entgeistert an. Verraten? Durch einen Kobold? Und dabei hatte er Aknus so gut behandelt, mehr als Freund denn als Lakai, hatte für ihn sogar Dosenfleisch und Rosenkohl und Vanillesoße und all das andere Zeug gekauft! Ha! Das hatte er nun davon, dass er, der Dark Lord, sich wie ein Softie aufführte!

»Oooh! Dieser kleine, verfluchte …«, zischte Dirk und erwürgte einen unsichtbaren Kobold in der Luft.

»Wirklich grauenhafte Feiglinge, diese Kobolde«, nickte Rufino. »Aber die waren ja schon immer so, vollkommen anders als die Orks.«

»Wie jetzt – der Typ ist einfach nach Hause verschwunden?«, wollte Chris wissen.

»Offensichtlich«, nickte Dirk, als er sich wieder ein wenig beruhigt hatte. »Nach Hause, also in das Berglabyrinth der Goblins. Hätte ich eigentlich wissen müssen, nach allem, was er letztes Mal gemacht hat.«

»Spielt jetzt aber keine große Rolle, schließlich haben wir immer noch Gargon, Rufino und den Ring«, sagte Suus.

»Dank den Dunklen Göttern – der Ring, natürlich!«, rief Dirk, hielt die Ringhand in die Höhe und betrachtete begeistert den großen Ring der Macht.

Und der Ring begann zu glimmen, die Runen leuchteten und funkelten in dem seltsamen dunklen Licht, das von ihm ausging und Dirk in einen magischen Schein hüllte. Er blickte sich um – hinter ihm erstreckte sich nun der riesige, lange Schatten eines Wesens mit Ziegenbockbeinen und gewaltigen Hörnern, der Schatten der Gestalt des Dunklen Lords, bevor die Essenz des Bösen aus ihm herausgesaugt und er in die Gestalt eines winzigen Menschlingsjungen verbannt worden war.

Dirk bewunderte seinen Schatten und lachte leise. »Nun gut, Aknus werde ich mir später noch vorknöpfen!«, sagte er.

»Du wirst ihn aber nicht … Ich meine, du wirst doch nicht so gemein sein und ihn töten, oder?«, fragte Suus und wechselte einen besorgten Blick mit Chris. Als sie letztes Mal mit Dirk in die Darklands gekommen waren, hatte die Sache nicht besonders gut geendet.*

»Nein, nein, natürlich nicht! Klar, ich bin ein Dark Lord, aber immer noch ein Junge, kein Monstrum. Ich denke, ich werde ihm höchstens ein paar Tage Latrinendienst oder so aufbrummen.«

Sie standen in einer schmalen Schlucht am Abhang des knochenbleichen Berges. Auf drei Seiten ragten Felsgipfel in die Höhe, bleich und zerklüftet, darüber erstreckte sich ein hellblauer Himmel. Schwaden von Vulkanrauch stiegen aus den Gipfeln.

»Willkommen auf dem Hochland der Ascheberge«, sagte Dirk. »Wenn wir diese Schlucht hinuntersteigen, gelangen wir in eine angenehmere Klimazone. Dort gibt es große Bergterrassen, auf denen die Orks ihr Getreide anbauen und ihre Ziegen weiden lassen. Sie wohnen in Höhlen und Bergfestungen; ab und zu brechen sie zu Raubzügen ins Grenzland auf. Aber hier herauf kommt niemand.«

»Und das dort drüben ist vermutlich der Eingang?«, fragte Rufino und wies auf ein schwarzes Loch, das nicht weit entfernt in einer Felswand gähnte.

»Ja. Das ist der Eingang zu den Grotten der Lady Gram, der Höhle der Schwarzen Hexe«, sagte Dirk mit unheilvoller Stimme und wies mit seiner Ringhand darauf. Der Ring zog einen dunklen Dunst hinter sich her.

Alle starrten recht ängstlich auf den Höhleneingang, als würde die Schwarze Hexe jeden Augenblick wie eine wilde Furie herausstürzen, bis schließlich Chris das Schweigen brach.

»Jedenfalls ist es sinnlos, hier noch länger herumzuhängen«, sagte er und ging auf das Loch zu.

Er ist jedenfalls kein Feigling, dachte Dirk, das muss man ihm lassen.

Sie marschierten zum Höhleneingang. Jeder Schritt wirbelte eine kleine Wolke aus feinster bleicher Asche auf. Vor dem Eingang blieben sie stehen und starrten mit angehaltenem Atem in die schwarze Öffnung, die sich wie das Maul eines Löwen oder eines Drachen vor ihnen auftat. Mussten sie da wirklich hinein?

* Lies nach in »Dark Lord – Immer auf die Kleinen!«, wenn du wissen willst, was letztes Mal abging.