Die ersten Tage und Nächte in Kabale sind beinahe unwirklich entspannt und gut. Fast wie Ferien. Tagsüber helfe ich Mama Obuja im Garten und besonders gern mit den Kühen auf der Weide oder im Stall. Ihre Kinder und Enkelkinder leben alle in Kampala und kommen nur selten, wie sie sagt. An den eher kühlen Abenden sitzen wir zusammen bei einem kleinen Feuer und erzählen Geschichten.
Einen Fernseher will sie nicht. „Macht mich nur nervös“, erklärt sie.
Leider funktioniert der WhatsApp-Plan von Mama erst nicht. Zwei Mal gibt sie an Mama Obuja Handynummern aus Kampala durch, die jedoch keine WhatsApp-Verbindung herstellen. Aber zumindest weiß sie, dass ich hier in Sicherheit bin. Und ich kann darauf vertrauen, dass sie alles tut, um meine weitere Flucht zu unterstützen.
Die Grenze zu Ruanda ist nur zwanzig Kilometer entfernt. Ich könnte ohne Probleme in gut fünf Stunden hinlaufen. Aber ich will doch lieber warten, bis ich einen Pass habe, um nicht illegal über die Grenze gehen zu müssen. Und dann für ewig in Ruanda festzusitzen.
Von den beiden Organisationen aus den USA und England, denen ich geschrieben hatte, bekomme ich nur allgemeine Hinweise über Verfolgungen sexueller Minderheiten in mehreren afrikanischen Ländern sowie Kontonummern, wo man Spenden für Flüchtlinge wie mich überweisen kann. Vermutlich habe ich mich nicht gut ausgedrückt in meinen Anfragen. Aber Amerika und England sind auch weit weg.
Durch David in Hamburg ist Deutschland plötzlich näher gerückt – zumindest in meinen Träumen. Letzte Nacht habe ich Hamburg gegoogelt: Viele bunte Bilder von einem Riesen-Hafen habe ich gesehen, von einem See mitten in der Stadt und einem großen grünen Park. Alles sauber und aufgeräumt. Und um Weihnachten ist dort Winter mit Schnee und Eis, oft unter null Grad. Wie kann man da nur leben, ohne zu erfrieren? Wie bekommen die Leute ihre Häuser warm? Ob es auch bettelnde Straßenkinder in Hamburg gibt?
Hamburg ist fast so groß wie Kampala mit etwas weniger als zwei Millionen Einwohnern. Einer von ihnen ist David.
Jener große schlanke Junge, nur zwei Jahre älter als ich. So ein Bruder wäre toll. Jeden Abend, seit ich in Kabale angekommen bin, chatten wir kurz. Länger geht nicht, denn ich muss sparsam mit meinen Data umgehen. Seine wichtigsten Sätze habe ich mir in ein kleines Heft notiert, das Mama Obuja mir geschenkt hat. Sie auf meinem Smartphone zu bewahren, wäre zu gefährlich.
Nur das Foto von David, jenes aus dem Schwimmbad, wo er nur eine Badehose trägt, habe ich nicht gelöscht. Ich wünsche mir so sehr, dass wir uns einmal in Wirklichkeit sehen. Meinen Namen will ich erst verraten, wenn ich raus bin aus Uganda.
In meinem kleinen Heft habe ich folgende Sätze von David notiert:
Es wird nicht leicht werden. Aber wir tun hier, was wir können.
Du bist uns wichtig geworden, Freedom Fighter.
Mehr und mehr Flüchtlinge aus Afrika wollen nach Europa und vor allem nach Deutschland. So gibt es leider auch Politiker hier, die das verhindern wollen.
Das größte Problem wird sein, dich an die Grenze zu Deutschland zu bekommen. Denn nur dann kannst du hier einen Antrag auf Asyl stellen. Deutschland liegt nicht am Mittelmeer, leider. Und weit weg von Afrika.
Wie geht es deiner Mutter in Kampala? Michelle, Marco und mir geht es gut.
Michelle meint, du kannst bei uns im Wohnzimmer auf dem Sofa schlafen. Du kannst aber auch bei mir im Zimmer übernachten.
Spontan rutschte mir heraus:
Hallo David: Lieber bei dir im Zimmer.
Und er: Okay, wird gemacht. Gern!
Über das „gern“ freue ich mich besonders. Hoffentlich findet er auch mich kuchu – gut aussehend. Ich hatte noch nie Sex mit einem weißen Jungen. Ob er schon mal mit einem dunkelhäutigen Jungen? Ich traue mich nicht, es zu fragen. Vorerst noch nicht.
Am fünften Tag funktioniert plötzlich doch eine WhatsApp Nummer von Mama – endlich. Gerade habe ich die beiden Kühe zum Melken in den Stall gebracht. Die müssen eben warten. Mama und ich sind überglücklich.
„Mama, kann ich offen reden?“
„Kannst du, mein Junge. Niemand kennt diese Verbindung. Wie geht es dir und Mama Obuja?“
„Hier ist alles wunderbar, Mama. Fast wie Urlaub. Soll ich nicht einfach hier warten, ob sich alles beruhigt? Wie geht es dir?“
„Du hast keine Nachrichten gesehen, nicht?“
„Was ist denn passiert, Mama? Hier gibt es immer noch keinen Fernseher.“
„Wirklich furchtbar: Es soll einen neuen Antrag im Parlament geben, um doch noch die Todesstrafe für Homosexuelle in Uganda einzuführen. Gestern haben einige tausend Menschen in Kampala dafür protestiert. Anne hat ihre Arbeit im Pflegeheim verloren, weil ein Kollege sie als lesbisch anzeigte. Pepe wurde auf dem Nachhauseweg angepöbelt – als abartig. Zwei Betrunkene haben versucht, ihn auszuziehen, mitten auf der Straße. Er konnte nur knapp entkommen und hat sich jetzt ebenfalls irgendwo versteckt.“
„Und du, Mama? Was ist mit der Anzeige gegen dich?“
„Bin nicht sicher. Bisher habe ich keinen Termin beim Gericht. Meinem Anwalt von SMUG haben sie gesagt, dass sie die Anzeige fallen lassen würden, wenn ich ihnen verrate, wo du bist.“
„Okay, ich werde weiter hier warten, Mama. Aber noch etwas Gutes von mir – weißt du was?“
„Was denn, David?“
„Erinnerst du dich noch an den Jungen aus Deutschland, der auch David heißt? Er versucht da mit seiner Schwester und einigen Freunden, dass ich zu ihnen kommen kann.“
„Das ist verrückt. Lies‘ mal die Zeitungen, David. Niemand will Afrikaner in Europa.“
„Aber David ist anders, Mama!“
„Ach, mein lieber Junge. Träum mal schön, aber glaube nicht alles. Hinterher bist du nur enttäuscht. Die meisten Europäer, die nach Uganda kommen, sind mehr an den Gorillas als an den Menschen hier interessiert. Das weißt du doch selbst.“
„Aber David ist anders“, wiederhole ich, weil mir nichts Besseres einfällt.
Wenig später beenden wir das Gespräch. Ich spüre bei David, dass er mir echt keine falschen Hoffnungen machen will. Er postet immer wieder ehrlich von all den Schwierigkeiten. Gerade das macht mir Vertrauen.
So froh ich bin, Mutters Stimme gehört zu haben und zu wissen, dass sie erst mal nicht weiter akut bedroht ist, so traurig bin ich zu erfahren, was Anne und Pepe widerfahren ist. Und dass ich wohl doch erst mal nicht zurückkann.
Ich melke die Kühe und bringe die warme Milch zu Mama Obuja. Sie freut sich mit mir, dass ich endlich mit Mama reden konnte. Von den Demos gegen uns in Kampala sage ich kein Wort.
In Mama Obujas Wohnzimmer gibt es einen alten Atlas, aber doch mit genauen Karten aller afrikanischen Länder, seit sie unabhängig von den verschiedenen europäischen Kolonialherren wurden. Aufmerksam studiere ich die Nachbarländer, in die ich gehen könnte. Welche haben einen großen Bahnhof – oder gar einen Flughafen, um von da aus weiterzukommen, wenn nötig?
Die nächste Hauptstadt von hier aus ist eindeutig Kigali, ziemlich in der Mitte von Ruanda. Kleiner als Kampala, hat Kigali weniger als eine Million Einwohner. Aber doch groß genug, um eine Weile untertauchen zu können.
Kaum jemand kann sich noch vorstellen, dass dort vor einem Vierteljahrhundert über 800.000 Menschen in nur drei Monaten abgeschlachtet wurden – eine Bevölkerungsgruppe aufgehetzt gegen die andere.18
Außerdem gibt es dort keine Gesetze gegen sexuelle Minderheiten, auch wenn uns Leute aus Kigali, die zu Besuch in Kampala waren, erzählt haben, dass sie sich nirgends offen zeigen können. „Dann bekommen wir meist Ärger!“, meinten sie.
Alle anderen Hauptstädte sind aber nicht nur viel weiter weg, sondern liegen auch in Ländern, wo es strenge Strafen gegen Menschen wie mich gibt: Lange Haftstrafen in Kenia, Tansania und Burundi. Im Südsudan und in Somalia sogar die Todesstrafe.
Im Garten von Mama Obuja träume ich immer öfter von einem Leben ganz weit weg. In einem Land, wo ich einschlafen und aufwachen kann, ohne Angst haben zu müssen. Wo ich leben darf, wie Gott mich geschaffen hat.
Ob David und seine Freundinnen und Freunde in Hamburg immer glücklich sind? Längst habe ich im Internet gelesen, dass es dort sogar Gesetze gibt, die erlauben, dass zwei Frauen oder zwei Männer heiraten oder auch Kinder adoptieren. Was für ein Glück muss das sein!
Zehn Tage vergehen ohne besondere Vorkommnisse. Um ehrlich zu sein: Es ist gut hier in Kabale. Klar vermisse ich Mama und meine Freundinnen und Freunde aus Kampala. Aber es herrscht ein einfacher Frieden in dieser kleinen Welt von Mama Obuja, ihren zwei Kühen und mir. Kontakte zu Nachbarn vermeide ich eher, um keine unnötigen Fragen aufkommen zu lassen.
Den wenigen, die hier vorbeikommen, um etwas abzuliefern oder Nachrichten aus ihrer Kirche zu teilen, erzählt Mama Obuja, dass ich eines ihrer vielen Enkelkinder aus Kampala bin, länger krank war und hier zur Erholung sei.
Von David aus Hamburg weiß ich, dass sie hart daran arbeiten, einen Asylantrag für mich vorzubereiten, sollte ich es tatsächlich bis an eine deutsche Grenze schaffen. Und sie würden bereits Geld für mich sammeln, falls ich irgendwo hängenbleiben sollte und für die Weiterfahrt bezahlen müsste. Bis jetzt habe ich von Mutters großen Scheinen nicht einen angerührt.
Mama Obuja besteht darauf, nichts von mir anzunehmen. „Du hilfst mir genug im Garten, David! Außerdem ist es schön, dich hier zu haben.“
Dies alles geht gut, bis Mama eines Abends große Veränderungen ankündigt. Ihre Stimme via WhatsApp klingt plötzlich anders als sonst – aufgeregt, angespannt:
„David, du musst jetzt gut zuhören. Morgen Abend gehst du in das Mparo-Krankenhaus von Kabale, wo ich früher arbeitete. Dort fragst du nach Dr. Masane. Bist du noch dran, Junge?“
„Ja, Mama.“
„Hast du den Namen gut gehört? Dr. Masane. M–A–S–A–N–E.“
„Ja, Mama.“
„Geh nur zu ihm und zu niemand anderem. Sollte er nicht da sein, geh‘ wieder nach Hause und probiere es übermorgen Abend wieder.“
„Was soll ich denn bei Dr. Masane?“
„Er hat etwas sehr Wichtiges für dich, David. Mehr darf ich dir nicht sagen.“
„Ist gut, Mama, ich bin dort morgen Abend. Gleich nach Einbruch der Dunkelheit. Bei der Notaufnahme – Dr. Masane.“
„Gut, mein Junge. Bitte sende mir eine Nachricht, wenn du zurück bist.“
„Mache ich, Mama.“
„Nkwagala, David.“
„Ich dich auch, Mama.“
Zu Mama Obuja sage ich erst mal lieber nichts. Nur dass ich etwas für Mutter vom Krankenhaus abholen soll.
„Sollen wir es ihr dann mit dem Postbus schicken?“, fragt sie.
„Mal sehen“, entgegne ich ausweichend.
Es ist die erste Nacht, die ich unruhig schlafe in Kabale. Immer wieder wache ich auf. In einem Albtraum sehe ich Julians Vater, wie er sich hinter einem Polizeiauto versteckt und plötzlich auf mich losstürmt, als ich näher komme. Er hat denselben Spaten in der Hand, mit dem er damals auf seinen Sohn einschlug.
Schweißgebadet und mit einem Schrei wache ich auf. Zum Glück ist Mama Obuja schwerhörig. Ihr ruhiges Schnarchen kommt aus dem Nebenzimmer.
Nur langsam vergeht der Tag. Meine Umgebung wirkt zum ersten Mal nicht friedlich, sondern blind und ignorant auf mich. Niemand kümmert sich hier darum, ob woanders Menschen um ihre Freiheit oder gar ihr Leben bangen müssen.
Endlich geht die Sonne unter, und ich mache mich auf den Weg in die Stadt. Obwohl es viele Jahre her ist, finde ich den Weg zum Mparo-Krankenhaus ohne Probleme. Es liegt in der Nähe des Hauptpostamtes, und jeder kennt es in Kabale. Den Namen des Arztes dagegen habe ich noch nie gehört: Dr. Masane.
Gerade als ich mich bei der Notaufnahme in die Warteschlange einreihen und nach ihm fragen will, fährt ein Krankenwagen mit Blaulicht vor. Die beiden Sanitäter beeilen sich, eine offensichtlich schwerverwundete junge Frau auf einer Trage vorsichtig herauszuschieben. Eine Schwester hat bereits ein fahrbares Gestell herbeigeholt, worauf die Trage gehievt werden kann. Es scheint wirklich um Leben und Tod zu gehen.
„Bestimmt ein Verkehrsunfall!“, meint ein älterer Mann in der Schlange vor mir.
Als er dran ist, wird er zuerst nach Namen und Geburtsdatum gefragt. Was soll ich nur sagen? Ich setze alles auf eine Karte und erkläre nur: „Ich habe einen Termin bei Dr. Masane.“
Die junge Frau hinter der Glasscheibe schaut kurz auf und wählt eine Nummer auf dem altertümlichen Telefon neben ihr. Dann schaut sie zu mir. „Er holt Sie gleich ab. Bitte warten Sie beim Eingang.“
Ich mache Platz für den nächsten Patienten. Noch bevor ich beim Eingang bin, kommt ein junger Mann im weißen Arztkittel auf mich zu. „Bist du der Sohn von Oberschwester Kutala?“
„Ja, und Sie sind Dr. Masane?“
Er nickt und geht eilig voraus über einen langen Gang bis zu einem kleinen Büro. Als wir beide drinnen sind, schließt er die Tür und sagt ruhig, aber ohne einen Moment Zeit zu vergeuden:
„Deine Mutter hat mir als Kind das Leben gerettet. Tuberkulose. Es gab nur wenig Medikamente. Deine Mutter hatte genug für mich. Ich werde ihr immer dankbar sein.“
Dann holt er einen großen braunen Papierumschlag aus einer Schublade und überreicht ihn mir. „Das gab mir deine Mutter vor zwei Tagen in Kampala. Sie sagte, es ginge erneut um Leben und Tod. Ich habe nicht nachgefragt. Ich vertraue deiner Mutter. Ich wünsche dir alles Gute, mein Junge!“
Bevor ich auf den Gang trete, stopfe ich den Umschlag oben in meine Hose und ziehe mein T-Shirt darüber, sodass nichts zu sehen ist. Ohne Umwege gehe ich direkt zurück zu Mama Obujas Haus. Als sie mich mit leeren Händen kommen sieht, fragt sie besorgt: „Ist das Paket nicht angekommen?“
„Doch“, sage ich, aber gehe dann direkt hinter das Haus, wo ausreichend Licht von einer Straßenlaterne herüberscheint. Aufgeregt reiße ich den Umschlag auf. Als Erstes fällt ein grüner Pass heraus.
Ich bücke mich und schlage ihn nervös auf: Republik von Uganda. Ein Foto von meinem letzten Schülerausweis. Dann der Name: Dennis Kadaga. Mein Geburtsjahr ist zwei Jahre früher angegeben. Demnach bin ich jetzt achtzehn.
Der Name Kadaga lässt mich erst erschrecken. So heißt auch die ugandische Parlamentspräsidentin19. Jeder weiß, dass sie sich besonders stark gemacht hat für die Todesstrafe gegen Homosexuelle. Egal, sie hat eine große Familie, vielleicht gibt es da auch irgendwo eine lesbische Nichte oder einen schwulen Onkel. Jedenfalls gibt es mich ab heute: Dennis Kadaga!
In dem braunen Umschlag sind noch zwei Papiere: Ein Zettel mit Mamas Handschrift und der Ausdruck eines bereits bezahlten Flugtickets mit Barcode. Ich traue meinen Augen nicht, als ich die Bestimmungen lese: One way Kigali – Lagos. RwandAir Flug 202, täglich 9.00 Uhr, noch ohne Datum.
Warum soll ich um Himmels willen von Kigali nach Lagos in Nigeria fliegen, einer Gigastadt mit über zwanzig Millionen Menschen? Ist hier etwas aus Versehen völlig durcheinandergeraten?
Doch Mutters Brief ist eindeutig:
Mein lieber Junge,
hier ist also dein neuer Pass – du wirst nie glauben, wie ich ihn und das Flugticket bekommen habe. Halt dich fest – von deinem Vater. Er lehrt ja jetzt Medizin an der Uni, und ich bin einfach in seine Sprechstunde gegangen und habe gesagt: Dein Sohn ist in Lebensgefahr. Das letzte Mal sprach ich ihn, als du zwei Jahre warst.
Dann fuhr ich fort: Ich will nichts für mich. Aber einen Pass mit anderem Namen für ihn – und ein Flugticket von Kigali, um nach Europa zu kommen.
Und bevor ich mehr sagen konnte, antwortete er: Ist gut.
Ich ungläubig: Was?
Und er: Ja, ich kenne Julians Vater. Der kennt keine Skrupel.
Er hat mich dann innerhalb von vier Tagen wieder zu sich bestellt und mir den neuen Pass und das Flugticket gegeben. Aber warum Kigali – Lagos?
Er: Ich kenne da jemand, der David vielleicht weiterhelfen kann, nach Europa zu kommen. Ein türkischer Kollege. Direkt von Kigali geht gar nichts nach Europa, jedenfalls nicht, wenn er nicht mal ein Visum dafür hat.
Also, mein Junge: Nimm den nächsten Bus von Kabale nach Kigali, vielleicht einen wackeligen Kleinbus, die werden oft nachlässiger kontrolliert als die großen Reisebusse. Sind außerdem billiger. In Kigali such dir eine einfache Unterkunft, vielleicht ein Backpacker-Hostel. Dafür hast du mehr als genug Geld von mir.
In Kigali musst du zu einem Büro von Rwanda Airlines und dann deinen Flug nach Lagos für einen bestimmten Tag bestätigen. Wie gesagt, alles bezahlt und ausgestellt auf deinen Namen, den neuen.
Wenn du einmal dort bist, melde dich wieder bei mir. Bis dahin weiß ich von deinem Vater den Namen und eine Nummer des türkischen Arztes in Lagos.
Und vergiss nicht, auch diesen Brief sofort zu vernichten, wenn du ihn gelesen hast.
Nkwagala, Mama.
Mama Obuja hat bereits wieder das kleine Abendfeuer im Hof entzündet. Sie schaut zu mir auf, als ich mich neben sie auf die alte Holzbank setze.
„Morgen fahre ich weiter nach Kigali“, sage ich ernst.
Sie überrascht mich: „Ich weiß. Deine Mutter hat mir gerade eine SMS geschickt und sich bedankt. Ihr braucht euch nicht zu bedanken. Es war schön, dich hier zu haben.“
Ich beuge mich zu ihr und flüstere in ihr Ohr: „Weebale, Mama Obuja, weebale!“ Dann lasse ich Mamas Brief über dem kleinen Feuer in Flammen aufgehen. Weil ich keine WhatsApp-Verbindung bekomme, sende auch ich Mama eine SMS von Mama Obujas Handy, damit sie weiß, dass so weit alles gut gegangen ist.
An diesem Abend erzählen Mama Obuja und ich keine Geschichten wie sonst. Später mache ich ein Selfie von Mama Obuja und mir, auch auf ihrem Handy. Ab dann sitzen wir nur still da und schauen in das Spiel der Flammen, die langsam zu rotglühender Asche werden.
Ich werde den ersten Postbus am Morgen nehmen, noch bevor die Sonne aufgeht. Er hat nicht weit von hier eine Haltestelle, ist immer übervoll, manchmal sogar mit Schafen und Ziegen.
Am Grenzposten von Katuna schaut ein ruandischer Beamter nur flüchtig nach unseren Papieren. Ohne Probleme drückt er mir einen Visum-Stempel für drei Monate in meinen Pass. Er scheint selbst müde vom langen Nachtdienst. Dann geht es weiter auf der RN 3 in Richtung Hauptstadt.
Gut drei Stunden später rollt der wacklige Bus eine der breiten Straßen aus nördlicher Richtung hinunter ins Zentrum von Kigali.
18 Nachdem es schon Jahre zuvor aufhetzende Propaganda der regierenden Hutus gegen die Volksgruppe der Tutsis gegeben hatte, explodierte das Pulverfass am 6. April 1994 nach einem Attentat auf den regierenden Diktator Juvénal Habyarimana (1937–1994): Innerhalb von 100 Tagen werden über 800.000 Kinder, Frauen und Männer, überwiegend Tutsis, erschlagen, erstochen und verbrannt. Ein Völkermord, der erst zu einem Ende kommt, als die Tutsi-Partisanenarmee unter Paul Kagame (*1957) das Land unter seine Kontrolle bringt. Er ist bis heute Präsident Ruandas. Es gibt seitdem viele Bemühungen, den früheren Hass zu überwinden.
19 Rebecca Kadaga (*1956), Anwältin, ugandische Parlamentspräsidentin seit 2011, wiedergewählt 2016. Sie ist die erste Frau in der Geschichte Ugandas in dieser hohen Position. Im Dezember 2012 sprach sie sich für den Gesetzentwurf aus, der die Todesstrafe für Homosexuelle vorsah, weil es das sei, was „sich eine klare Mehrheit in Uganda wünschen“ würde.