Lagos, Ende August

Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ein Flugzeug besteige.

Ich bin erstaunlich ruhig und mache einfach nach, was die anderen Passagiere vor mir tun. Der ruandische Grenzbeamte drückt gelangweilt einen Ausreisestempel in meinen Pass, wobei er mich kaum anschaut.

Der Flieger an diesem Morgen von Kigali nach Lagos ist proppenvoll. Neben mir sitzt bereits eine dicke Dame auf dem Fensterplatz, die kaum in ihren Sitz passt.

Als das Frühstück kommt, bestellt sie mehrfach Kaffee nach. Den dritten Becher, noch voll und heiß, schlägt sie versehentlich vom Tablett. Zum Glück landet er knapp neben meiner Hose auf dem Boden. Sie entschuldigt sich in einer Sprache, die ich noch nie gehört habe. Wenig später fällt sie in tiefen Schlaf und schnarcht so laut, dass sich einige zu uns umdrehen. Der Kaffee scheint wenig geholfen zu haben.

Da sie ihren Kopf mit riesiger Dreadlock-Frisur an die kleine Fensterscheibe gelegt hat, kann ich nur wenig von den Landschaften unter uns erkennen. In weniger als fünf Stunden geht es runter zum Internationalen Murtala Mohammed23 Flughafen von Lagos.

Als das Signal kommt, dass wir die Sicherheitsgurte ablegen können, springe ich von meinem Gangplatz auf und schiebe mich mit anderen Passagieren zum Ausgang. Ich habe keine Ahnung, wie die eingequetschte Dame neben mir jemals aus ihrem Platz hochkommen wird.

Da ich nur meinen kleinen Rucksack als Handgepäck habe, brauche ich nicht am Band wie viele andere auf einen Koffer zu warten, sondern kann durchgehen zum einzigen Grenzkontroll-Schalter, der geöffnet ist. Hier reihe ich mich ein in eine bestimmt schon fünfzig Meter lange Schlange. Nach gut zehn Minuten sind wir etwa einen Meter vorgerückt. Hinter mir kommen noch immer neue Passagiere hinzu. Bald ist das Ende der Schlange nicht mehr zu erkennen.

Wenn das so weitergeht, bin ich frühestens heute Abend dran.

Nach gut drei Stunden Warten erbarmt sich ein anderer Uniformierter und öffnet einen zweiten Schalter. Gut zehn andere bleiben geschlossen. Nach einer weiteren Stunde bin ich tatsächlich dran.

Vor mir ein älterer Beamter, der schwitzt und sich regelmäßig mit einem großen Taschentuch über die Stirn wischt. Er nimmt meinen Pass entgegen und studiert jede Seite, als hätte er noch nie einen grünen Pass aus Uganda gesehen.

„Wie lange willst du in Nigeria bleiben?“, will er wissen.

Was, wenn ich nun etwas Falsches sage?

„Noch nicht sicher“, antworte ich ehrlich. „Aber nicht länger als drei Monate.“

„Wo wirst du hier wohnen?“

Ich setze alles auf eine Karte und sage mutig: „In der Uni-Klinik, Ishaga Road.“

„Studierst du Medizin?“

„Ja“, lüge ich. Wie lange wird das so weitergehen?

Er schießt die nächste Frage ab: „Wie viel Geld hast du bei dir?“

Ich beuge mich nach unten zu meinem Rucksack und ziehe fünf von Mutters acht großen Scheinen so heraus, dass er es nicht genau sehen kann.

„Hier, 500.000 Uganda-Shilling.24“ Ich reiche ihm die Scheine zur Kontrolle.

Er macht irgendwo eine Notiz. Aber gibt mir dann nur zwei Scheine zurück.

„Entschuldigung, Sir“, sage ich vorsichtig. „Aber es waren fünf Scheine.“

Seine verschwitzte Stirn legt sich Falten: „Wie bitte?“

Er merkt deutlich meine Unsicherheit. Soll ich meine Worte wiederholen?

Bevor ich zu einer Entscheidung komme, sagt er: „Willst du zurück ans Ende der Schlange?“

„Nein“, sage ich kleinlaut. Und das soll ein Beamter sein? Ich koche vor Wut, aber versuche, mir nichts anmerken zu lassen. So ein korrupter Gangster!

„Gut“, sagt er, stempelt ein Einreisevisum in meinen Pass und winkt mich durch.

Willkommen in Nigeria. Wo sind meine Schutzengel geblieben?

Aber das ist nur der Anfang. In der Ankunftshalle, die so groß ist wie ein Fußballstadion und so voll wie bei einem Länder-Endspiel, bekomme ich erst langsam eine Übersicht. Wo mag es hier Busse in die Stadt geben? Zum Glück gibt es freien WLAN-Zugang, der auch funktioniert auf meinem Smartphone, das ich letzte Nacht noch in meinem kleinen Hotel in Kigali voll aufladen konnte. Eine SIM-Karte für Nigeria kann ich für einen Dollar aus einem Automaten ziehen.

Ich setze mich an einer Wand auf die Erde und bekomme heraus, dass der Flughafen etwa fünfzehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt ist. Er liegt in der Nähe der Vorstadt Ikeja. Auf der Strecke zur Stadt befindet sich die Uni-Klinik. Wenn ich es gut anstelle, könnte ich da aussteigen und noch am ersten Abend versuchen, Dr. Aldemir zu treffen.

In jedem Fall rufe ich ihn schon mal an. Aber niemand antwortet. Ich spreche auf eine Mailbox: „Hier ist Dennis aus Kampala. Ich bin heute Mittag in Lagos gelandet, aber erst eben durch alle Kontrollen gekommen. Bitte rufen Sie mich an, wenn Sie diese Nachricht bekommen. Vielen Dank!“

Mama in Kampala sende ich eine kurze WhatsApp-Nachricht, an David in Hamburg das Gleiche über Planet Romeo. „Bin gut angekommen in Lagos.“

Na ja, nicht gerade gut. Aber sie sollen sich keine Sorgen machen.

Bei Mama scheint es angekommen zu sein, denn sie sendet mir nur ein paar Minuten später ein Herz. Meine Nachricht an David geht nicht durch. Ich werde es später wieder versuchen.

Dann gehe ich auf ein Klo in der Nähe, wasche mir Hände und Gesicht und trinke Wasser aus dem Hahn. Außer einem Mini-Brötchen und etwas Saft im Flieger heute früh habe ich noch nichts gegessen. Als ich von der öffentlichen Toilette komme, wird es draußen bereits dunkel. Die Grenzkontrolle hat am Ende länger als der ganze Flug gedauert.

Zum Glück entdecke ich auf dem Weg zum Busbahnhof eine Bankfiliale, die noch geöffnet hat. Ich kann nicht beurteilen, ob der Wechselkurs okay ist. Aber ich habe keine andere Wahl, als Mamas verbliebene Geldscheine in 45.000 nigerianische Naira25 umzutauschen. Wie lange werde ich davon hier leben können?

Ich verzichte darauf, mir hier ein vermutlich eher teures Sandwich zu kaufen, und gehe direkt zu den Bushaltestellen. Auf den inzwischen beleuchteten Informationsschildern ist zu lesen: Lagos City, Lagos Island oder nur Lagos … aber welcher hält beim Uni-Krankenhaus?

Während ich mich noch suchend umschaue, spricht mich ein freundlicher junger Mann mit Rastalocken an. „Kann ich dir helfen? Was suchst du?“

Ob ich ihm vertrauen kann? Dann sage ich aber doch: „Ich will zum Uni-Krankenhaus in Lagos.“

Er strahlt mich an und sagt: „Genau da will ich hin. Komm mit, mein Taxi steht gleich gegenüber. Du bist jung wie ich – halber Preis!“

Als ich ihm schon über die Straße folgen will, kommt ein privater Sicherheitspolizist mit einem Gummiknüppel und schreit ihm zu: „Hau ab! Wenn ich dich noch einmal hier sehe, bekommst du Prügel!“

Tatsächlich sprintet der junge Rastamann davon, ohne sich auch nur einmal umzusehen.

„Das sind die letzten Halsabschneider“, sagt er zu mir. „Nimm niemals ein privates Taxi …“

Erneut stelle ich mich bei einem Bus an, der gerade die Türen geöffnet hat und auf dessen Schild „Lagos City“ steht.

Beim Einsteigen frage ich den Fahrer: „Halten Sie auch am Uni-Krankenhaus?“

Er tut so, als wenn er mich nicht versteht, und sagt nur: „400 Naira!“

Ein Geschäftsmann im dunklen Anzug und mit elegantem Diplomatenkoffer nickt mir zu und sagt: „Der ist richtig. Du musst dem Fahrer nur deutlich machen, da zu halten.“

Ich bezahle, steige ein und stelle mich in die Nähe des hinteren Ausgangs. Es gibt keine Sitzplätze mehr. Der Bus fährt erst ab, als wirklich keiner mehr hineingepresst werden kann.

Zunächst fahren wir noch in normalem Tempo gut fünf Minuten auf einer Autobahn. Es besteht Rechtsverkehr wie in Ruanda. Je näher wir Lagos selbst kommen, desto verstopfter wird die Straße. Bald rollt der Bus nur noch im Schritttempo.

Ich versuche, durch die verschmierten Scheiben etwas von der Umgebung zu erkennen. Den Geschäftsmann von vorhin habe ich aus den Augen verloren. Direkt neben mir steht eine ältere Frau.

„Uni-Krankenhaus?“, frage ich sie, als der Bus wieder einmal am Straßenrand hält. Sie nickt freundlich.

Ob sie mich verstanden hat? Nach meinem Gefühl müssten wir etwa ein Drittel der Strecke vom Flughafen zum Zentrum der Stadt zurückgelegt haben, also kann es nicht mehr weit sein. „Uni-Krankenhaus?“, frage ich noch mal. Ein anderer, eher arm gekleideter Mann nickt auch. Ich springe aus dem Bus.

Mein Gefühl stimmte leider nicht.

Ich gehe von der breiten Autostraße hinunter und sehe, wie sich vor mir ein riesiges Wohngebiet ausbreitet. Undeutlicher Lärm aus plärrenden Lautsprechern und Autohupen weht herüber. Die Gegend vor mir scheint eher ein Elendsviertel zu sein. Schlecht asphaltierte Straßen, Müllberge an jeder Ecke und riesige Apartmentblöcke, die am Verfallen sind. Von den Straßenlaternen geben nur einige Licht. Zwischen manchen Häusern sind Wäscheleinen gespannt.

Straßenhändler sind auch jetzt am Abend noch unterwegs. Einige ehemalige Ölfässer sind zu offenen Feuerstellen umfunktioniert. Eine junge Frau brät Hühnerteile. Für wenige Naira kaufe ich zwei Keulen mit Brot. Hungrig schlinge ich es hinunter. Ob sie Englisch spricht?

„Ist es weit bis zum Uni-Krankenhaus?“, frage ich sie.

„Kommt drauf an … zum Laufen zu weit. Mit dem Bus zwanzig Minuten“, erklärt sie und fügt hinzu: „Der Bus fährt aber erst wieder morgen früh.“

„Und wo bin ich hier?“ Hoffentlich ist sie nicht auch ein Fan ahnungsloser Ausländer.

„In der Vorstadt Mushin“, sagt sie. „Viel Armut, nachts gefährlich.“

Sie meint es eindeutig gut. Ich trete in einen Hauseingang und verstaue meine Geldscheine zur Sicherheit unter meinem Fuß im rechten Schuh.

Wenn ich doch nur Dr. Aldemir erreichen würde. Erneut wähle ich seine Nummer umsonst. Danach schiebe ich mein Handy in meine Unterhose. Ich werde die Nacht wohl hier verbringen müssen, wenn mir nicht noch ein guter Einfall kommt.

Vielleicht irre ich mich, aber ich habe plötzlich das Gefühl, dass mich eine Bande von Jungen verfolgt, seit ich das letzte Mal mein Smartphone benutzt habe. Wiederholt gehe ich im Zickzack über die Straße, biege in einen Holperpfad ein, um dann erneut auf einem halbwegs beleuchteten Weg weiterzulaufen. Die fünf oder sechs Jungs sind noch immer hinter mir. Einige in meinem Alter, andere vermutlich sogar jünger.

Ich weiß mir keinen anderen Rat, als mich in einen Supermarkt zu verdrücken, der um diese Zeit noch geöffnet ist. Da alle Geldscheine in meinem Schuh sind, habe ich jetzt nur noch ein paar Münzen vom Wechselgeld aus dem Bus in der Hosentasche. Aufmerksam betrachte ich einige Süßigkeiten, behalte dabei aber gleichzeitig den Eingang im Auge.

„Kann ich dir helfen?“, ruft ein hagerer, älterer Mann im langen traditionellen Gewand von der Kasse her auf Englisch zu mir. Woher erkennt nur jeder, dass ich Ausländer bin?

„Danke, alles klar!“, rufe ich zurück und nehme die kleinste Schokolade, die ich finden kann, sowie eine Coladose aus einem verglasten Kühlfach.

Die Münzen reichen gerade. Er nickt mir freundlich zu: „Nibo lati – wo kommst du her? Ich vermute, dass seine Muttersprache Yoruba26 ist.

„Aus Uganda“, antworte ich. Und dann benutze ich das einzige Wort, das ich mal von einem nigerianischen Nachbarjungen in Kabale gelernt habe: „Oseun – danke!“

Er lacht über meine Aussprache, aber sieht den guten Willen. „Ofabo!“, nickt er mir freundlich zu. „Heißt auf Wiedersehen!“

Beim Eingang des Supermarkts trinke ich erst meine Cola in Ruhe. Ich will sicher sein, dass sich die Jungen, die mir gefolgt waren, wirklich verdrückt haben. Zum Glück kann ich sie nirgends mehr entdecken.

Überall eilen Menschen unterschiedlichen Alters durch die Straße, selbst kleine Kinder sind noch auf. Einige spielen Fangen, andere streiten sich um einen halbplatten Ball in der Nähe. Noch immer grüble ich, wo ich am besten übernachten sollte.

Erneut suche ich mir einen Hauseingang, wo ich nicht leicht beobachtet werden kann. Ich stelle mich sogar hinter die wackelige Tür, bevor ich versuche, ins Internet zu gehen, um die Entfernung und einen möglichen Weg von Mushin zur Uni-Klinik herauszubekommen.

Es scheint mir inzwischen klüger, mich dorthin zu Fuß aufzumachen und erneut vor Ort nach Dr. Aldemir zu fragen. Sollte er nicht da sein, wäre es vermutlich besser, da irgendwo im Freien auf den Morgen zu warten, anstatt hier in diesem heruntergekommenen Viertel. Aber auch nach drei Versuchen gelingt mir keine Internet-Verbindung.

Erneut stecke ich mein Smartphone in meine Unterhose und trete hinaus auf die Straße.

Dann geht alles so schnell, dass ich mich bis heute nicht genau erinnern kann, was zuerst geschah:

Einer der Jungen von vorhin versperrt mir den Weg, aber tut zunächst nichts weiter. Dann trifft mich von hinten ein Schlag auf den Kopf mit einem harten Gegenstand, der mich augenblicklich in die Knie gehen lässt. Plötzlich sind alle um mich herum. Jeder scheint genau zu wissen, was er zu tun hat.

Einer stopft mir einen dreckigen Lappen in den Mund und bindet ihn mit einem Tuch fest. Ein zweiter tritt mir zwei Mal in den Magen. Ich bekomme kaum noch Luft und kann mich vor Schwindel einfach nicht wieder aufrichten.

Ein anderer packt meinen kleinen Rucksack, während ein weiterer Kumpan meine Hosentaschen durchsucht. Es scheint erst, als würden sie sich nun doch nur mit meinem Rucksack davonmachen wollen. Zwei sind schon vorausgerannt.

Aber da hält der Typ, der wohl ihr Anführer ist, noch mal inne und ruft den anderen etwas zu. Er beugt sich über mich und durchsucht erneut jede meiner Hosentaschen. Auch fühlt er mein Hemd ab. Natürlich weiß ich, was er sucht, denn alle hatten es vorher gesehen.

Schließlich öffnet er meinen Gürtel, zerrt den Reißverschluss auf und greift brutal in meine Unterhose – und findet, was er sucht. Stolz zeigt er den anderen mein Smartphone.

Ein weiterer Schlag auf meinen Hinterkopf lässt alles verschwinden und um mich herum dunkel werden.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich im Hausflur hinter derselben wackligen Tür, von wo aus ich zuletzt mein Smartphone benutzt hatte. Als Erstes reiße ich mir das dreckige Tuch vom Kopf und spucke den stinkenden Lappen aus. Ich habe Blut an den Händen, als ich vorsichtig meinen Hinterkopf abtaste.

Dann versuche ich, mich vorsichtig aufzurichten. Ein stechender Schmerz im Kopf lässt einen Anfall von Übelkeit so stark werden, dass ich das wenige, was ich im Magen habe, erbrechen muss.

Erst dann schaffe ich es, mich sitzend aufzurichten und mit dem Rücken gegen die Wand im Hausflur des alten Hauses zu lehnen. Ich habe nur noch meine aufgerissene Hose an. Selbst den Gürtel haben die Gangster mitgenommen.

Auch mein Hemd. Mamas Smartphone. Die Schuhe mit dem Bargeld. Meinen Rucksack.

Mit dem wertvollen Pass. Ohne den ich verloren bin.

In Nigeria haben mich alle Schutzengel verlassen.


23 Murtala Mohammed (1938–1976), machte sich durch einen Staatsstreich im Juli 1975 zum militärischen Machthaber von Nigeria. Bereits im Februar 1976 fiel er selbst einem Mordanschlag zum Opfer. Er ist u.a. bekannt dafür, dass er die Hauptstadt des Landes von Lagos an der Küste nach Abuja ins Landesinnere verlegte.

24 500.000 Uganda-Shilling sind gegenwärtig ungefähr 120 Euro.

25 45.000 nigerianische Naira sind derzeit knapp 110 Euro.

26 Die verschiedenen Gruppen der Yoruba sind eher eine kulturell traditionelle Ethnie als ein gemeinsames Volk. Yoruba leben außer in Nigeria auch in Benin, Togo und Sierra Leone. In Nigeria gehört Yoruba zu den vier am häufigsten benutzten Sprachen neben Englisch, Hausa und Igbo.