Die dritte Mail von Dr. Aldemir kommt nicht ein oder zwei Wochen später, sondern bereits am nächsten Morgen, als ich gerade mein Fahrrad am Rand des Schulhofs anschließen will. Zu meinem Glück sind die Fahrradständer in der Nähe des Schulbüros, sodass ich deren eines WLAN, das nicht passwortgesichert ist, unbemerkt nutzen kann.
Lieber David,
alles geht jetzt schneller, als ich selbst dachte.
Ich werde in Kürze einen neuen Pass für Dennis haben. Aber dann muss er auch umgehend weg von hier, denn diese Aktion ist nicht ohne Risiken und lässt sich nicht wiederholen.
Ein Bekannter bei Turkish Airlines hat den Flug geregelt. Demnach wird er am Mittwochabend hier abfliegen und Donnerstagfrüh gegen 6.30 Uhr auf dem Atatürk Flughafen in Istanbul landen.
Aus Sicherheitsgründen werde ich ihn erst am Vortag zuverlässig informieren können. Bitte sage auch du ihm jetzt noch nichts von diesem Plan.
Ich kann ab dann leider nichts mehr für ihn tun. Kannst du ihn abholen?
Ich bestätige dir noch, ob weiter alles gutgegangen ist und er wirklich im Flugzeug TA 626 sitzt.
Danke auch dir.
Viele Grüße, Deniz Aldemir
Jetzt ist Montagmorgen. Bis Donnerstagfrüh sind es genau drei Tage und drei Nächte. Nicht gerade viel Zeit.
Ich google die Entfernung Hamburg – Istanbul. Luftlinie knapp zweitausend Kilometer. Landweg (ohne Umwege) über zweitausendfünfhundert Kilometer.
Einmal bin ich mit Michelle von Hamburg nach Norditalien im Auto gefahren, um eine unglückliche Liebe von ihr in Milan zu besuchen. Das war noch, bevor Marco auf der Welt war. Eigentlich todesmutig von Michelle, denn sie hatte gerade ihren Führerschein und nur den klapprigen VW von Leila geliehen. Aber wir kamen tatsächlich nach zwei Tagen und einer Übernachtung in Milan an. Nur dieser fürchterliche Gianni wollte meine liebestolle Schwester am Ende nicht mal sehen.
Woran ich mich aber noch genau erinnere: Wir brauchten für rund tausend Kilometer fast zwei Tage. Da sind zweieinhalbtausend Kilometer bis Istanbul niemals in drei Tagen zu schaffen, zumal ich erst ein Auto organisieren müsste. Einen Führerschein habe ich zwar seit kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, aber null Fahrpraxis.
Niemals werde ich Dennis jedoch in Istanbul hängen lassen. Aber wie dort hinkommen bis Donnerstagfrüh? Mit wenigstens dem Hauch einer Idee, wie von da auch wieder zurück nach Hamburg?
Während ich noch beim Fahrradständer am Grübeln bin, kommt leider unser Mathelehrer, Herr Semmelrogge, vorbei. Sonst geht er immer gleich vom Parkplatz direkt zum Lehrerzimmer. Nun aber hat er mich gesehen und deutet dramatisch mit dem Zeigefinger auf seine Armbanduhr. Dabei schaut er mich vorwurfsvoll an.
Gut, er hat recht, dass es nun schon kurz nach acht ist. Aber sein Drama wegen fünf Minuten Verspätung finde ich doch übertrieben. Jedenfalls unnötig angesichts eines echten Dramas, das sich derzeit zwischen Lagos, Istanbul und Hamburg abspielt. Ja, genau hier vor seiner Nase. Frau Schneider hätte ich vermutlich etwas zu erklären versucht.
Nicht bei Herrn Semmelrogge. Jetzt ist einfach keine Zeit zu verlieren. Ich schließe mein Fahrrad wieder los und kann nicht umhin, an ihm vorbeizuradeln, um zum Ausgang zu kommen. „David!“, ruft er empört. „Heute beginnt deine Nachhilfe für die Abi-Prüfungen!“
Ich bin nicht empört, sondern antworte eher ruhig: „Ich weiß!“
Ab dann trete ich umso kräftiger in die Pedale. Herr Semmelrogge und ich werden wohl in diesem Leben keine Freunde mehr werden.
Während ich heimwärts strampele, gehe ich alle Optionen durch, wen ich am besten um Hilfe in der Not fragen könnte. Michelle kann mit dem kleinen Marco keinesfalls weg. Abdul arbeitet sich kaputt für einen Hungerlohn im Supermarkt, aber braucht das Geld auch selbst, um irgendwelche dummen Schulden von früher zu bezahlen. Hassan mit einem Taxi wäre natürlich ein Traum – aber sein Chef ist ein Ausbeuter und würde niemals ein Auto ausleihen, schon gar nicht für einen guten Zweck. Leila weiß viel über Menschenrechte, aber muss nun vor allem selbst hart für ihre Kauffrau-Abschlussprüfung büffeln.
Zum Glück gibt es Martin in meinem Leben. Er hat zwar auch kein eigenes Auto, aber Chris hat eines. Kaum bin ich in der Wohnung, rufe ich Martin an, der inzwischen nicht schlecht verdient als gelernter Schaufenster-Dekorateur. Er mag zart und jünger aussehen. Aber er ist einfach bärenstark, wenn es darauf ankommt.
Gleich mehrere konkrete Vorschläge sprudeln aus ihm heraus: „Klar, frage ich Chris. Der gibt uns sicher sein Auto!“
„Uns?“
„Ja, denkst du etwa, ich lasse dich allein nach Istanbul fahren, David?“
Ich bekomme kaum ein Wort heraus. Was für ein Freund … ein wahrer Freund!
„Wo bist du jetzt?“, will er wissen, denn auch ihm ist klar, dass ich eigentlich in der Schule sein müsste. „Zu Hause?“
Schließlich wirft er seinen Arbeitsplan für den Tag einfach um und verspricht: „Ich muss noch ein Fenster hier fertig ausschmücken bis zur Mittagspause. Den Nachmittag sage ich ab. Das geht. Dann komme ich direkt zu dir. Schau du schon mal nach, was die beste Strecke ist von Hamburg nach Istanbul und was notfalls ein Flieger kostet …“
Genau das mache ich, bis Martin drei Stunden später unten klingelt.
Irgendwann ist klar: Selbst wenn wir einen Rennwagen hätten, würden wir es nicht schaffen bis Donnerstagfrüh. Es gäbe drei oder gar vier Grenzen zu passieren, bevor wir über Bulgarien endlich in der Türkei wären. Mit unseren europäischen Pässen müsste das im Prinzip auch gelingen. Aber es könnte auch gut sein, dass wir einen Tag später ankämen.
Und was dann?
Wie und wo sollten wir Dennis in Istanbul treffen, wenn wir ihn erst einmal in der internationalen Ankunftshalle des Atatürk Flughafens verpasst hätten?
Und Dr. Aldemir bat uns ausdrücklich, nicht vor Mittwoch dazu mit Dennis Kontakt aufzunehmen.
Es ist wieder Martin, der eine überzeugende Idee hat: „Du musst doch einen Flieger von Hamburg nach Istanbul nehmen! Und zwar so rechtzeitig, dass du in jedem Fall bis Donnerstagfrüh dort bist. Chris und ich kommen dann so schnell es geht mit dem Auto hinterher und holen euch ab. Was meinst du?“
Das ist es! Ich drücke Martin einen wilden Kuss auf den Mund und rufe begeistert: „So machen wir es!“
Martin wischt sich gespielt empört über die Lippen und entgegnet: „Bitte Zurückhaltung! Ich bin verheiratet! Also fast!“
Dabei fällt mir mit Sorge ein: „Hast du Chris überhaupt schon gefragt?“
„Nein“, entgegnet Martin mit einem Selbstbewusstsein zum Umfallen. „Klar macht er mit. Wir beide sind ein Herz und eine Seele – und seit dem Mord an Said will er unbedingt etwas tun!“
Wie gut, dass ich in den Sommerferien so viele Extraschichten in unserem fürchterlichen Supermarkt übernommen hatte. Davon gibt es jetzt noch genug Spargeld, um mir einen Direktflug von Hamburg nach Istanbul für den Mittwochabend leisten zu können. Auch dieser geht mit Turkish Airlines und dauert etwas mehr als drei Stunden. Er startet von Hamburg Fuhlsbüttel um kurz nach 18 Uhr und ist um 23.15 Uhr Ortszeit Istanbul dort – mit zwei Stunden Zeitunterschied.
Ich komme dort also etwa um die gleiche Zeit an, zu der Dennis seinen Flieger in Lagos besteigt. Wenn alles gut geht. Und wenn nicht?
„Dann verbringen wir ein langes Wochenende in Istanbul, besuchen die berühmte Hagia Sofia29 und laufen über die Bosporus Brücke30. Am Sonntag fährst du dann mit uns zurück nach Hamburg.“ Martin ist nicht schnell von unserem Plan abzubringen.
Tatsächlich ist auch Chris auf unserer Seite.
„Und hast du einfach freibekommen?“, frage ich nach. Wobei mir auffällt, dass ich gar nicht weiß, womit er seine Brötchen verdient.
„Derzeit arbeite ich gar nicht“, erklärt er ohne Scheu. „Meine Eltern sind früh gestorben und haben mir und meinem Bruder einiges hinterlassen.“
„Danke, Chris!“, sage ich leise. Ich wusste das echt nicht von seinen Eltern. „Es ist so nett, dass ihr das für Dennis und mich macht.“
„Auch für uns …“, antwortet er leise.
Er steigt noch mehr in meiner Achtung.
Um hoffentlich bis Donnerstagabend in Istanbul zu sein, starten Chris und Martin schon am nächsten Morgen. Ihr Wagen sieht zuverlässig aus: Ein roter Volvo, stabile schwedische Ausführung. Zuerst soll es Richtung Österreich gehen. Die weiteren Etappen wollen sie dann unterwegs festlegen. Wir bleiben in Dauerverbindung via WhatsApp.
Leila hat mir noch ein paar Hinweise zu Menschenrechten in der Türkei am Telefon gegeben: „Am besten spielt ihr Touristen. Bloß nichts Politisches, schon gar nicht irgendwo mit Menschenrechten argumentieren. Wenn ihr kurz vor einer deutschen Grenze seid, meldet euch wieder. Je nach Bundesland versuche ich dann, jemand zu euch zu schicken, der sich vor Ort gut auskennt … nicht nur mit Grenzübergängen, sondern auch mit Erstaufnahmelagern und anderem.“
Als ich am Mittwochmittag von Barmbek zum Flughafen aufbreche, sind Michelle und der kleine Marco noch aufgeregter als ich. „Bestimmt reden wir heute Abend im mhc nur über euch – und Istanbul!“, meint sie.
Obwohl Frau Gonzales jetzt den Deutschkurs macht, ist sie an diesem besonderen Abend wieder zur Stelle, um auf Marco aufzupassen. Denn Michelle möchte sich unbedingt mit den anderen in der Safe Space Gruppe austauschen. Ich merke, dass sie irgendwie stolz auf mich ist. Auch wenn ich nun eventuell wegen Mathe nicht mein Abi schaffen sollte.
Ich bin schon in der U-Bahn, als die angekündigte SMS von Dr. Aldemir kommt:
D. auf dem Weg zum Flughafen … TA 626 bis jetzt ohne Verspätung.
Meine Antwort an ihn: Ich bin auch unterwegs … soll noch vor Mitternacht in Istanbul sein.
Umgehend gebe ich die hoffnungsvolle Nachricht durch an Martin und Chris.
Zehn Minuten später Nachricht von Martin: Gut so! Wir hatten gestern eine Panne in Ungarn. Sind jetzt aber schon kurz vor Sofia. Und spätestens morgen Abend küssen wir dich und Dennis!
Das Flugzeug startet auf die Minute pünktlich um 18.15 Uhr vom Hamburger Flughafen. Ich habe einen Sitz am Gang.
Neben mir ein altes türkisches Ehepaar. Sie sprechen anscheinend nur wenig Deutsch und schlafen bald ein.
Der Fahrer von Dr. Aldemir bleibt tatsächlich an meiner Seite, bis ich durch die letzte Glastür im Niemandsland zwischen Lagos und dem Flieger von Turkish Airlines bin. Was für eine andere Welt mit allen möglichen schicken Läden und Snackbars. Alles duty free. Zollfrei.
Habe ich es tatsächlich geschafft?
Als Erstes gehe ich zu einer nahen Herrentoilette mit meinem kleinen Rollkoffer als Handgepäck im Schlepptau. Ich betrete eine der modernen Kabinen und schieße sorgfältig hinter mir ab. Dann nehme ich aus dem Koffer alles, was ich brauche, um mich wie irgendeinen Jugendlichen der westlichen Welt aussehen zu lassen. Jeans, ein weißes T-Shirt, eine schwarze Unterhose, ebensolche Socken und die braunen schlichten Lederschuhe.
Ich streife meine Fila-Kappe vom Kopf und ziehe mein Yoruba-Gewand aus. Beides falte ich zusammen und lege es sorgfältig in den Koffer. Wie ein wildes Tier, das sich häutet, denke ich für einen Moment.
Dann öffne ich die Kabine und trete zu einem der metallglänzenden Waschbecken gegenüber. Als ich mein Gesicht im Spiegel betrachte, fühlt es sich an wie aus einem anderen Leben.
Erst jetzt schreibe ich Mama eine kurze Nachricht via WhatsApp. Ich bitte sie jedoch, nicht zu antworten, bevor ich mich am nächsten Tag wieder melden würde. Auch Dr. Aldemir sende ich nur wenige Worte zu Beruhigung, dass so weit alles gut ist. Ich kann sehen, dass er es empfangen und gelesen hat. Er antwortet jedoch nicht mehr, wie er es schon erklärt hatte.
Auf seine Bitte habe ich bisher auch nichts nach Hamburg gemeldet. Nun versuche ich zumindest eine kurze Nachricht an David: Denke an dich, D.
Sein WhatsApp ist ausgeschaltet.
Auch wenn der vor mir liegende Flug erst der zweite meines Lebens ist, fühle ich mich schon beinahe wie ein erfahrener Weltreisender. Dieses Mal habe ich einen Fensterplatz. Neben mir zwei junge Frauen mit Kopftuch, die mir einmal schüchtern zulächeln, aber sonst kein Wort sagen und sofort eigene Kopfhörer aufsetzen und beginnen, Filme anzusehen.
Ich kann mich auf keinen Film konzentrieren. Lange schaue ich durch das kleine runde Fenster hinaus in die Nacht. Als wir abheben, sind noch eine Weile die funkelnden und immer kleiner werdenden Lichter der Riesenstadt Lagos zu erkennen. Erst allmählich verschwinden sie an einem weiten Horizont. Umso klarer sind nun die Sterne und ein voller Mond zu sehen.
Wenn das nächste Mal die Sonne aufgeht, habe ich Afrika endgültig verlassen. Ich kann mir noch keine Vorstellung davon machen, wie es in Istanbul weitergehen soll.
Es ist ein komisches Gefühl zuzuschauen, wie die meisten der anderen Passagiere nach der Landung sofort zielstrebig in verschiedene Richtungen laufen, nachdem wir durch die Passkontrolle sind.
Das alte Ehepaar, das neben mir im Flugzeug aus Hamburg saß und nicht mal aufwachte, als Snacks und Getränke serviert wurden, wird von einem Mann mit mehreren kleinen Kindern abgeholt. Alle umarmen sich glücklich, bevor sie ausgelassen zum Ausgang laufen. Vermutlich ihr Sohn mit Enkelkindern?
Um nicht gleich aufzufallen, bewege auch ich mich mit meinem kleinen Rucksack so, als hätte ich ein Ziel. Habe ich aber gar nicht.
Obwohl mir Michelle auch noch von ihrem Ersparten mitgegeben hat, will ich von den insgesamt gut sechshundert Euro nicht schon jetzt etwas ausgeben, um irgendwo in der Stadt ein Hotel für die Nacht zu nehmen. Wer weiß, wie viel wir noch brauchen für die lange Rückfahrt nach Hamburg.
So laufe ich erst noch eine Weile an den Läden vorbei, die sogar zu dieser späten Stunde noch geöffnet sind. In einem Laden erwerbe ich eine türkische SIM-Karte, die ich auch in Euro bezahlen kann. Nach einer Weile merke ich, dass ich nicht der Einzige bin, der offensichtlich die Nacht hier verbringen wird. Die meisten vermutlich, weil sie einen frühen Abflug haben und vielleicht von weit her kommen.
Auch ich komme von weit, aber warte dagegen auf einen ankommenden Flug. Zu meiner Freude ist der Flug TA 626 aus Lagos schon auf den großen Anzeigetafeln angekündigt. Dahinter bisher keine Angaben zu einer möglichen Verspätung.
Leider sind die meisten Bänke hier so gebaut, dass man sich nicht wirklich darauf ausstrecken kann. Nicht weit von mir haben ein paar Jungen in meinem Alter sich einfach bei einer Mauer auf den Boden gepackt, ihre Rucksäcke als Kopfkissen nutzend. Ein Mann in dunklem Anzug versucht dagegen, auf einem der harten Plastikstühle wegzudämmern.
Als auch ich mir gerade ein Quartier nicht weit von den Toiletten bauen will, kommen zwei uniformierte Sicherheitsmänner auf die Gruppe der schon halb schlafenden Jungen zu und kontrollieren offensichtlich deren Pässe. Danach scheuchen sie alle auf und zeigen auf die ungemütlichen Sitzbänke gegenüber. Murrend packen die Jungs ihre Klamotten zusammen und ziehen zu einer der Bänke, wo sie sich halb sitzend, halb hängend für den Rest der Nacht einrichten.
Auch mir bleibt nichts anderes übrig. Es ist kein richtiges Schlafen, zumal ich auch immer darauf achte, dass mein kleiner Rucksack gut eingeklemmt bleibt und ihn niemand klauen kann, falls ich doch tiefer wegsacken sollte. Gegen drei Uhr muss ich aufs Klo. Dann wieder um halb sechs.
Ab jetzt kann ich nicht mehr einschlafen. Noch eine Stunde. Dann landet Dennis. Werde ich ihn sofort erkennen, wenn er durch die automatischen Schiebetüren kommt?
Natürlich habe ich alle drei Fotos bei mir: Das aus der Dusche im Hotel in Kigali und die zwei bei seiner Retterfamilie in Lagos. Doch, ich müsste ihn erkennen, egal, wie er gekleidet ist.
Inzwischen öffnen die ersten Snackbars. Bei einer, die nicht so superteuer aussieht, hole ich mir einen Kaffee und ein Käsebrötchen. Ich kann in Euro bezahlen. Es ist doch superteuer – über zehn Euro!
Um kurz nach halb sieben blinkt ein Leuchtzeichen auf der Tafel hinter dem Flug TA 626 – landed.
Wahnsinn, Dennis ist in Istanbul.
Jetzt kann es nur noch um ein paar Minuten gehen …
Eben hat der Landeanflug auf Istanbul begonnen. Obwohl ich so früh noch nicht wirklich Hunger habe, lasse ich von dem bescheidenen Frühstück an Bord – ein Omelett mit Toastbrot und Orangensaft – keinen Krümel übrig. Niemand weiß, wann ich das nächste Mal würde essen können.
Draußen hat gerade die erste Morgendämmerung eingesetzt. Alle großen Scheinwerfer sind noch an und beleuchten die Landebahn vor uns.
Erst als wir alle ausgestiegen sind und in großen Bussen zu einem bestimmten Terminal gefahren werden, wird es Tag. Zwischen meine Beine habe ich den Rollkoffer geklemmt. In der rechten Hand halte ich meinen neuen falschen Pass sowie die Bordkarte.
Anders als in Lagos geht hier alles gut geregelt und ohne ewige Wartezeiten vor sich. An mehreren Schaltern sitzen türkische Grenzbeamte, um die ankommenden Passagiere zu kontrollieren. Nur noch drei Leute vor mir, da winkt mich der eher junge Beamte in meiner Reihe auch schon zu sich an den Schalter.
So selbstbewusst wie möglich reiche ich ihm meinen Pass und die Bordkarte.
Er schaut auf mein Foto, dann auf mich und fragt, nicht unfreundlich: „You understand English?“
„Yes!“, nicke ich.
„From Uganda?“
Wieder nicke ich.
Er blättert eine Weile in meinem Pass herum und fragt dann: „Warum waren Sie in Lagos?“
Auf gut Glück antworte ich: „Family.“
Er scheint nicht zufrieden. „Wie lange wollen Sie in der Türkei bleiben?“
Jetzt mache ich meinen ersten Fehler. „Nicht lange. Ich möchte weiter nach Deutschland.“
„Wo ist Ihr Visum für Europa, junger Mann?“, bohrt er nach.
Inzwischen steht mir der Schweiß auf der Stirn. Ich setzte alles auf eine Karte.
„Ich werde an der Grenze abgeholt von deutschen Freunden. Die werden das für mich regeln. Bei denen kann ich wohnen.“
Ich spüre, dass er mir kein Wort glaubt.
Er klappt meinen Pass wieder zu. Spricht kurz etwas in ein Mikrofon und sagt ernst zu mir: „Bitte treten Sie zur Seite. Ein Kollege kümmert sich gleich weiter um Sie.“
Er sagt es immer noch höflich. Mein Herz jedoch klopft bis zum Hals.
Werde ich nun doch noch eingesperrt werden? Wird bei genauer Überprüfung herauskommen, dass mein Pass gefälscht ist? Und was dann?
Abschiebung nach Uganda? Dort Verhaftung wegen Passbetrugs – und Verführung eines anderen minderjährigen Jungen zu schwulem Sex?
Würde so Julians Vater doch noch seinen schrecklichen Willen durchsetzen?
Als ein anderer, etwas älterer Beamter auf mich zukommt, kann ich ein Zittern kaum verbergen. Wird er es nicht sofort als Zeichen meiner Schuld deuten?
Er nimmt mich jedoch nur am Arm, um mir den Weg zu einem Vernehmungsbüro ganz in der Nähe zu weisen. Keine Handschellen. Ich spüre, wie mir Schweiß nicht nur übers Gesicht, sondern jetzt auch den Rücken hinunterläuft.
Während wir durch die Halle gehen, merke ich, wie uns die meisten anderen Passagiere in der Schlange nachschauen. Bestimmt denken Sie: Wieder so ein illegaler Afrikaner, der es versucht hat.
In seinem Büro bekomme ich einen Stuhl angeboten. Der Uniformierte mir gegenüber holt jetzt ein Formular hervor und beginnt, Angaben aus meinem Pass zu notieren, den ihm der jüngere Kollege eben übergab.
Nach einer Weile schaut er auf und fragt: „Sie haben eine Anschrift in Deutschland?“
Eine vorsichtige Hoffnung keimt auf. Ich nicke.
„Wo genau?“
„In Hamburg“, erkläre ich.
„Okay“, sagt er ruhig. „Name, Adresse?“
Was nun? Ich weiß doch nur, dass er David heißt und noch zur Schule geht. Und mit seiner Schwester und seinem kleinen Neffen zusammenwohnt. Irgendwo in Hamburg, Deutschland.
„Er heißt David“, beginne ich. Und weiß nicht weiter.
Die Skepsis auf dem Gesicht meines Gegenübers ist unübersehbar.
„Und?“, fragt er erneut, hat aber schon seinen Stift zur Seite gelegt. Er glaubt mir kein Wort mehr. War wirklich alles umsonst?
Er wählt eine Nummer auf dem altertümlichen Telefon vor ihm. Vermutlich soll ich gleich abgeholt und zu irgendeiner Sicherheitsverwahrung gebracht werden.
Plötzlich schießt es mir durch den Kopf: „Darf ich meinen Freund in Hamburg anrufen? Er kann Ihnen dann alles sagen!“
Der Beamte zögert einen Moment, aber legt dann den Hörer noch mal zurück und nickt.
Nervös versuche ich, David über WhatsApp zu erreichen. Er müsste jetzt schon in der Schule sein.
Bitte, David, geh ran – bitte!
David K. (K für Kampala): „Ich bin’s, Dennis. Sorry, dass ich dich so früh störe. Kannst du mir bitte helfen?“
David H. (H für Hamburg): „Hallo, Dennis! Super, dich zu hören! Warum stören? Ich warte doch schon die ganze Nacht auf dich!“
David K.: „Was?“
David H.: „Ich bin schon gestern Abend in Istanbul angekommen … Kaum ein Auge zugemacht auf den elendig harten Stühlen hier am Flughafen.“
David K.: „Wo bist du?“
David H.: „Vermutlich nur ein paar Meter von dir weg. Ich stehe in der Ankunftshalle und warte, dass du endlich rauskommst.“
David K.: „Was?“
David H.: „Bist du noch dran, Dennis? Was ist denn los? Etwas nicht in Ordnung?“
David K.: …
David H.: „Was murmelst du? Ich verstehe kein Wort!“
David K.: …
David H.: „Dennis – was ist los?“
29 Hagia Sofia, eine bereits 532–537 n.Chr. erbaute Kirche, die später als Moschee genutzt wurde und heute ein weltberühmtes Museum und internationales Kulturerbe ist.
30 Die Bosporus Brücke war die erste, die 1973 eröffnet wurde und seitdem den Autoverkehr zwischen dem europäischen und dem asiatischen Teil von Istanbul ermöglicht. Inzwischen gibt es zwei weitere Brücken. Die erste Brücke wurde inzwischen umbenannt in „Brücke der Märtyrer des 15. Juli“ (auf Türkisch: 15 Temmuz Şehitler Köprüsü ), nachdem es am 15. und 16. Juli 2016 dort nach einem am Ende gescheiterten Putschversuch zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen regierungstreuen und regierungsfeindlichen Gruppen gekommen war.