Vielleicht, weil er auch ein Vater ist? Oder mich irgendwie mag und es dann doch überzeugend findet, dass ein deutscher Freund aus Hamburg extra nach Istanbul gekommen ist, um mich abzuholen? Ich werde es wohl nie erfahren.
Jedenfalls knallt er plötzlich einen Stempel in meinen Pass. Dann geht er mit mir gemeinsam durch die automatische Glassperre – und so sehe ich David zum ersten Mal in meinem Leben. Er ist fast einen Kopf größer als ich. Und sieht sogar noch besser aus als auf dem Schwimmbad-Foto.
Auch er erkennt mich sofort und strahlt mich an. Wie in einem guten Drehbuch ruft er so laut, dass es auch der Grenzbeamte neben mir hört: „Welcome, Dennis!“
Daraufhin reicht mir mein Bewacher meinen Pass zurück, klopft mir sogar auf die Schulter und meint: „Viel Glück in Deutschland!“
Gemeinsam gehen wir auf David zu. Auch David begreift, dass er mich jetzt nicht einfach umarmen kann. Zuerst muss er noch seinen Namen und seine Anschrift in das Formular eintragen. Sorgfältig vergleicht der Mann alle Angaben mit denen in Davids Pass, den er ebenfalls vorlegen muss.
Nun nickt er uns beiden zu: „Alles Gute!“
Dann wendet er sich ab und geht zu einem anderen Eingang, dessen Tür sich öffnet, als er eine kleine Plastikkarte gegen einen Scanner an der Wand daneben hält.
Kaum ist das Portal geschlossen, macht David einen Schritt auf mich zu und umarmt mich so fest, als würde ich gleich wieder abgeholt werden.
„Danke, danke, danke … David!“, flüstere ich in sein Ohr.
„Ich bin so glücklich, Dennis!“, flüstert er zurück.
Jetzt ist die Zeit, mein Versprechen einzulösen.
„David?“
„Ja?“ Er schaut mich ernst an.
„Ich heiße nicht Dennis …“
„Stimmt … das ist ja nur für den Pass. Wie heißt du denn?“
„Wie du!“
„Was?“
„David!“
Es dauert etwa zwei Sekunden, bis es bei ihm ankommt. Dann lachen wir beide los, als gäbe es nichts Lustigeres auf der Welt.
Einige Menschen in der Nähe schauen irritiert zu uns. Hoffentlich denken sie nicht, dass wir auf Drogen sind.
„Komm!“, sagt David und nimmt meinen Rollkoffer. Er selbst hat nur einen kleinen Rucksack auf dem Rücken.
„Wohin gehen wir?“, frage ich neugierig.
„Keine Ahnung“, antwortet David. Und schon wieder lachen wir.
Sobald wir aus der Flughafenhalle draußen sind, whatsappen wir direkt an Martin und Chris: Alles gut! Wir sind zusammen … und er heißt auch David!
Fünf Minuten später Martin: Hurraaaa … Chris wäre vor Freude beinahe gegen eine Leitplanke gefahren! Wir sind schon in der Türkei – am frühen Nachmittag wahrscheinlich in Istanbul. Wo können wir euch treffen?
Wissen wir auch noch nicht. Wir googeln uns jetzt erst mal was zum Frühstücken … und dann wieder an euch, wo wir am besten auf euch warten. David und David
So machen wir es. 100.000 Küsse, Martin und Chris
Es stellt sich heraus, dass der damalige Atatürk Flughafen im europäischen Teil von Istanbul liegt und eigentlich wunderbar zentral31. Vorerst ist alles zu Fuß zu erreichen. In südlicher Richtung liegt das Marmarameer, wo wir an einer Promenade ein kleines Lokal finden. David besteht darauf, mit seinen Dollars zu bezahlen. Zum Glück sind die Preise hier nicht so übertrieben wie am Flughafen.
Das Lokal hat WLAN, und so senden wir erst mal beide jede Menge WhatsApp-Nachrichten nach Kampala und Hamburg.
David natürlich zuerst an seine Mutter und seine Freunde daheim, die schon Wochen nichts mehr von ihm gehört haben. Zum ersten Mal höre ich von Betty, Pepe sowie Anne und ihrer Freundin. Von Isaac und Julian erfahre ich erst viel später.
Meine Nachrichten gehen zuerst an Michelle und Marco, dann an Hassan, Abdul und Leila. Igor hat immer noch kein WhatsApp.
Zuerst kommt eine Antwort von Hassan, die ich erst beim zweiten Lesen verstehe: „O komm mein Herz … wir flüchten uns zu unserem Gott.“ Von Hafis – weißt du noch, David?
Dann Michelle, deutlich weniger philosophisch: Habt ihr auch genug Geld? Bis Hamburg kostet es jede Menge Benzin! Bitte kommt schnell. Küsse, M+M
Zwischendurch schauen wir von unseren Handys auf und uns an. Es gibt ihn wirklich. Er sieht gut aus. Seine Lippen und Augen sind in Wirklichkeit noch toller als auf dem ersten Foto. Was mag er alles hinter sich haben?
Noch habe ich ihn nicht nach der Narbe an seinem Hinterkopf gefragt. Sie ist deutlich zu erkennen, aber offenbar gut verheilt. Wie viele unsichtbare Narben mögen auf seiner Seele sein?
David, David, David. Ich muss mich noch an seinen wahren Namen gewöhnen. Aber ich finde es schön. Der gleiche Name. Kann nur ein gutes Zeichen sein.
Von dem Lokal ist es nicht weit zu einem wunderschön bewaldeten Park, von dem man über das Meer sehen kann und doch geschützt ist durch die hohen Bäume. Obwohl es nun schon Anfang Oktober ist, scheint heute noch mal angenehm warm die Sonne. Hier wollen wir auf Martin und Chris warten.
Wie heißt der Park genau?, will Martin via WhatsApp wissen.
Floriya Atatürk Park. Wir warten beim ersten Eingang an der Yalilik Yolu Straße. Kannst du es in euer GPS eingeben?
Einen Moment später: Gefunden, Jungs! Angeblich sind wir in zwei Stunden und 48 Minuten dort.
Es sind dann doch fast vier Stunden, die die beiden brauchen, bis wir den roten Volvo ankommen sehen. Da es hier schwierig ist mit Parken, hält Chris nur kurz und schaltet die Alarmblinker ein, bis wir Davids Gepäck und meinen Rucksack hinten im Kofferraum verstaut haben. Dann springen wir auf die Rückbank, und Chris gibt schon wieder Gas.
„Willkommen, David!“, ruft Martin und schaut froh zu uns beiden.
„Das ist Martin!“, stelle ich ihn vor.
„Und das mein Mann Chris!“, nickt Martin.
„Wow!“, ruft David. Dann wieder: „Wow!“ Wir sind nicht sicher, ob er damit seine Freude über die beiden ausdrückt und dass sie einander einfach als Paar ausgeben – oder dass wir uns nun überhaupt alle gefunden haben.
„Wohin fahren wir von hier?“, fragt er dann Chris, der deutlich der Kapitän auf diesem Dampfer ist.
„Nach Hamburg“, antwortet Chris ernst.
„Wirklich?“, bohrt David zweifelnd nach.
„Na klar!“, rufen Martin und Chris gleichzeitig … dann drehen sie den Lautsprecher im Wagen auf Hochtouren.
„Das kenne ich!“, schreit David begeistert nach den ersten Takten.
Es ist Gloria Gaynor. Zu viert brüllen wir „I will survive!“ im Auto, bis wir den Stadtrand von Istanbul erreicht haben.
Für die Rückfahrt nach Hamburg brauchten wir viel mehr Zeit, als Martin und Chris für die Hinfahrt. Aber trotzdem ging es überwiegend gut.
Ungarn haben wir auf Anraten von Leila lieber südlich umfahren, da sie uns gewarnt hatte, dass Menschen mit afrikanischem Pass dort grundsätzlich an der Grenze abgewiesen werden würden. Bei zwei Übergängen haben wir alles auf eine Karte gesetzt, und ich versteckte mich lieber im Kofferraum. Danach hatte ich zwar alles vollgekotzt, aber sonst war es gut gegangen.
Erst ein paar Monate nach uns wurde diese Strecke als Teil der sogenannten Balkan-Flüchtlingsroute berüchtigt. Ab dann konnte es auch Kontrollen überall unterwegs geben. Das passierte bei uns nur einmal und kostete mich alle restlichen Dollars, die ich noch von Dr. Aldemir hatte. Überhaupt hätten wir es ohne die Kreditkarte von Chris niemals geschafft.
Mehr kann ich hier leider nicht verraten. Auch nicht, wie wir schließlich über die Grenze zwischen Österreich und Deutschland gelangten. Nur so wurde es möglich, dass ich meinen Erst-Asylantrag tatsächlich in Hamburg stellen konnte. Mit Hilfe von Leila und einem freundlichen Anwalt der Hamburger Flüchtlingshilfe, der all dies ehrenamtlich tut. Er bemüht sich derzeit um einen provisorischen Ausweis für mich – mit meinem richtigen Namen: David Kutala.
Eigentlich hätte ich auch in einem Lager mit anderen Flüchtlingen bleiben müssen. Aber das fand David unmöglich.
„Nicht nach allem, was du schon hinter dir hast!“, beharrte er.
Meine ersten Hamburger Nächte verbrachte ich bei ihm, seiner Schwester Michelle und dem kleinen Marco.
Ja, in seinem Zimmer, wie ich es mir so viele Wochen vorher erträumt hatte. Also ganz ehrlich: In seinem Bett.
Es war noch besser als in meinen Träumen. David und David.
Auf Anraten des Anwalts zog ich dann aber doch erst mal dort wieder aus, da es eben gegen alle Regeln war – und ich bei einer Razzia in große Probleme hätte kommen können.
Ich lebe jetzt in den ehemaligen Büroräumen einer Kirche in Hamburg-Wandsbek. Kirchen-Asyl heißt das hier. Bisher hat sich die Polizei rausgehalten.
Ab und zu gehe ich für eine Nacht heimlich zu David, Michelle und Marco.
Eine Nacht. Mit David.
Auch Frau Gonzales kennt mich inzwischen, aber hält dicht. Sie nennt mich Chico, un buen chico. Ein guter Junge.
Natürlich habe ich immer wieder auch Heimweh nach Uganda. Am meisten nach Mama. Aber es ist weiter gefährlich da – für mich und meine Freunde: Pepe lebt noch immer im Versteck. Und Julian ist seit damals nie wieder aufgetaucht in Kampala. Mama beharrt darauf, dass ich sie einmal nachholen werde – nach Hamburg, irgendwann.
Nachmittags lerne ich in der Kirche hier Deutsch. Am liebsten würde ich einmal Krankenpfleger werden. Wie Mama. Die werden hier dringend gebraucht, hat der Hamburger Pastor gesagt.
Wenn ich mich erst frei bewegen kann, werde ich mit den anderen auch zur Safe Space Gruppe ins mhc gehen. Und als ehrenamtlicher Dolmetscher bei der Flüchtlingshilfe mitmachen. Luganga sprechen hier sonst nicht viele.
Sein Abi wird David vermutlich nicht schaffen, wegen Mathe. Aber er hat doch noch mit Nachhilfe begonnen. Wer weiß.
Seit ein paar Tagen redet David davon, dass ich mit ihm zusammenziehen sollte in Barmbek, weil seine Schwester vermutlich eine Stelle in München annehmen wird.
Nach einem Moment Zögern zieht er mich ganz dicht zu sich und sagt ernst: „… und weil ich dich liebe!“
Ich schaue ihn nur an, aber bringe kein Wort heraus. Obwohl mein Herz so sehr für ihn klopft.
Irgendwann werde ich es ihm sagen können.
31 Der Atatürk International Airport wurde offiziell am 6. April 2019 für den kommerziellen Passagier-Verkehr geschlossen, gleichzeitig öffnete der hochmoderne Internationale Flughafen von Istanbul, der einmal bis zu 200 Millionen Passagiere pro Jahr befördern soll. Für diese Geschichte findet das Treffen von David und David noch auf dem traditionsreichen Atatürk Flughafen statt, benannt nach dem Staatsgründer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk (1881–1938).