Kampala, Januar

Kampala im Januar ist wie Kampala im Februar oder August. Meist einfach gutes Wetter. Das ganze Jahr. Sonne, 25 Grad – mal etwas wärmer. Nachts meist kühler, gut zum Schlafen.

Dass es nicht knallheiß ist wie in unseren Nachbarländern – im nördlichen Sudan oder westlichen Kongo, wie im östlichen Kenia und südöstlichen Tansania –, hat damit zu tun, dass Uganda höher liegt. Im Durchschnitt um die tausend Meter über dem Meer. Gute Luft, immer ein leichter Wind. Eher wie im südwestlich von uns ebenfalls hoch gelegenen Ruanda, dem Land der tausend Hügel.

Und der Himmel über Kampala? Blau. Fast immer blau, manchmal knallblau, manchmal seidenblau. Selten nur graublau, wenn es mal Wolken und Regen gibt. Oder eines der vielen reinigenden Gewitter. Gut. Regen ist immer gut. Heute ist der Himmel knallblau.

Kampala – oder in unserer Sprache Kasozi K’empala: Hügel der Antilopen. Schon lange her, als hier noch die Impala-Antilopen frei herumliefen. Aber vorstellen kann ich’s mir. Wenn ich aus dem Fenster unserer Parterrewohnung im Stadtteil Kololo schaue und nicht weit von uns die hohen Baumkronen des Unabhängigkeitsparks erkennen kann. Dahinter riesige Hochhäuser am Horizont dieser Millionenstadt.

Mama vermisst die Kühe aus Kabale. Ich auch. Kühe haben eine gute Seele.

Dabei waren wir nie Bauern. Als ich noch ganz klein war, wurde Mama als leitende Krankenschwester von Kampala zum Aufbau des staatlichen Kreiskrankenhauses nach Kabale versetzt, fast sieben Stunden im wackelnden Autobus südwestlich von der Hauptstadt entfernt, nicht weit von der Grenze zu Ruanda. Da hatte sie sich schon getrennt von meinem Vater, der als Stationsarzt auch ihr ehemaliger Chef gewesen war.

„Ich war nur eine seiner vielen Frauen“, erklärte mir Mama, als ich schon zur Schule ging in Kabale. Und ich sie nach meinem Vater gefragt hatte. Ihre Stimme klang traurig, als sie es sagte.

Trotzdem fragte ich weiter. Denn noch eine andere Frage lag mir auf dem Herzen. Und Mama kann ich alles fragen. Immer.

„Warum habe ich keine Geschwister, Mama?“ Alle meine Freunde haben Geschwister. Viele. Im Durchschnitt, das weiß ich heute, sechs Kinder pro Familie in Uganda.

„Weil ich nach deiner Geburt lange sehr krank war, David“, antwortete sie. Und fügte dann noch trauriger hinzu: „Hinterher konnte ich keine Kinder mehr bekommen.“ Sie wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht. Ich ahnte, dass auch darum mein Vater sie verlassen hat. Oder sie sich, wie sie sagt, getrennt hat. Männer in Uganda wollen immer viele Kinder. Das weiß jeder.

Aber meine Mutter ist perfekt für mich. Die beste Mama der Welt. Und ich will nicht, dass sie traurig ist. Niemals. Dann habe ich eben keine Geschwister. Außerdem ist sie eine tüchtige Krankenschwester. Oberschwester Patience Kutala. Alle achten sie in Kabale, auch wenn die meisten Leute hier nicht unsere Sprache Luganda sprechen, sondern Rukiga. Von ihrem Gehalt haben wir ein kleines Haus mit Garten nicht weit vom Krankenhaus mieten können. Wegen des kühleren Klimas hier wachsen sogar zwei Apfelbäume direkt davor.

Unsere kleine Familie: Nur Mama und ich. Mamas Eltern und Geschwister wurden alle ermordet zu Zeiten des furchtbaren Idi Amin1. Sie wuchs als kleines Mädchen bei einer Tante auf, die aber inzwischen auch verstorben ist.

Zu unserer Familie gehört dann aber immerhin noch Robinson – unser Wachhund. Den ich auf einem Müllhaufen als kleines, halb verhungertes schwarzes Bündel gefunden hatte. Inzwischen war Robinson zu einer stattlichen Schäferhund-Mischung herangewachsen, der auf unser Haus aufpasste, wenn Mama im Krankenhaus war und ich in der Schule. Mit Robinson würde sich kein Einbrecher einfach anlegen.

Ich war so klein, gerade erste Klasse, dass ich an jenem Abend noch auf ihrem Schoß sitzen konnte, als sie mir von meinem Vater erzählte und warum sie keine Kinder mehr würde haben können. Noch einmal tropften ein oder zwei ihrer Tränen auf meinen Kopf.

Ich zog ihr Gesicht zu mir herunter und flüsterte ihr ins Ohr: „Nkwagala, Mama!“ Sie zog den Rotz hoch und sagte in mein Ohr: „Ich dich auch, David!“

Da mussten wir beide lachen. Nkwagala heißt in unserer Sprache: Ich liebe dich.

Als ich schon im Bett lag, hörte ich die Kühe unserer alten Nachbarin im Schuppen mit den Hufen stampfen und ihren Atem ausblasen. Ein Gewitter zog auf. Aber mir konnte nichts passieren. Mit Mama und Robinson.

An diesen Abend in Kabale musste ich denken. Jetzt, fast zehn Jahre später und zurück in Kampala. Mutter nun als Oberschwester im Kinderkrankenhaus im guten Stadtteil Kololo. Robinson inzwischen hinkend und mit grauen Haaren ums Maul, weil er schon sehr alt geworden ist, jedenfalls nach Hundejahren. Aber wir würden uns niemals von ihm trennen. Er gehört einfach zu unserer kleinen Familie.

Dass ich schwul bin, ahne ich, seit ich klein bin. Aber ich hatte nie ein Wort dafür. Und ich fiel sonst nicht auf. Ich war in der Grundschul-Fußballmannschaft und tobte mit den anderen Jungen nach der Schule.

In meiner Klasse waren damals auch zwei Batwa Kinder, einen Kopf kleiner als alle anderen. Niemand wollte mit ihnen spielen. Sie wurden „Zwerge“ gerufen oder auch „Pygmäen“. Sie wurden nicht einmal in unsere Fußballmannschaft gewählt. Ich fand es gemein, aber sagte nichts. Doch spürte ich deutlich, wie traurig sie darüber waren.

Heute weiß ich, dass ich ebenso nicht dazugehöre. Jedenfalls nicht zu den meisten anderen Jungen, die ich kenne in meinem Alter. Auch wenn es von denen noch niemand weiß.

Seit meinem vierzehnten Geburtstag weiß ich sicher, dass ich schwul bin. Mama hatte mir erlaubt, drei Freunde zu meiner Feier einzuladen: Isaac, Seguja und Paul. Sie war eher von der Arbeit gekommen und hatte für uns alle KFC-Fastfood mitgebracht. Super.

Zuletzt schauten wir alle zusammen den neuen Black-Panther-Film auf DVD an, der damals gerade herausgekommen war. So stark – alle Helden Afrikaner! Gegen 21 Uhr wurde Seguja von seiner Mutter mit dem Auto abgeholt und Paul von einem Fahrer seines Vaters. Isaacs Mutter hatte angerufen und gefragt, ob der Junge bei uns übernachten könne, da ihr Mann nicht rechtzeitig von einer Sitzung des Stadtrates heimgekommen sei.

„Klar“, sagte Mama. „Kein Problem. Er kann dann morgen früh mit David den Schulbus nehmen.“

Und so blieb Isaac über Nacht. In meinem Zimmer. Erst lag er auf der Gästematratze, die Mama für ihn neben meinem Bett zurechtgemacht hatte. Natürlich hatte er keinen Pyjama dabei. Er zog sich aus bis auf die Unterhose. Beide waren wir noch nicht wirklich müde.

Dann erhob er sich und setzte sich einfach zu mir aufs Bett. Plötzlich fragte er: „Weißt du, was Batwa bedeutet?“

Ich hatte keine Ahnung. Ein Schimpfwort?

„Nein“, erklärte Isaac. „Batwa heißt einfach Mensch. Nicht Engländer, nicht Franzose, nicht Ugander – einfach nur Mensch. Gut, nicht?“

Ich nickte und versuchte, meinen Blick von Isaacs Körper abzuwenden. Er wirkte schon viel männlicher als ich, obwohl er nur ein Jahr älter war. Sonst ebenso dünn zwar, aber seine Muskeln zeichneten sich deutlich ab.

Dann schaltete er einfach meine Nachttischlampe aus. Nur ein schummriges Licht von einer ziemlich weit entfernten Straßenlaterne schien noch ins Zimmer. Er streifte seine Unterhose ab und legte sich neben mich ins Bett. Noch immer hatte ich meinen Pyjama an. Isaac zog mich zu sich. Erst jetzt traute auch ich mich. Fest presste ich meinen Körper gegen seinen.

Das war es. Genau das. Alles glühte in mir. Von nun an war kein Zweifel mehr in mir.

Beim Frühstück brachte ich kein Wort heraus. Isaac lachte mich an und schlug mir auf die Schulter, als wir beim Schulhof ankamen und aus dem Bus kletterten. Ich höre noch seine Stimme, wie er rief: „Siiba bulungi, black panther – mach’s gut, schwarzer Panther!“

Wenig später zog die Familie nach Entebbe ans Ufer des Viktoria-Sees, und wir verloren einander aus den Augen. Ich sah ihn erst gut zwei Jahre später. Das war vor sechs Monaten bei einem gemeinsamen Bekannten aus dem Sportverein am Stadtrand von Kampala. Er war kaum wiederzuerkennen. Vor Kurzem war sein siebzehnter Geburtstag gewesen. Nun hatte er sich schon fast einen Vollbart wachsen lassen und trug die Haare als Afro.

„Isaac?“

Oli otya – wie geht’s, David?“, entgegnete er, und sofort erkannte ich seine Stimme. Ohne meine Antwort abzuwarten, öffnete er sein Hemd und zeigte mir eine schlecht verheilte, ziemlich große Narbe an der Schulter.

„Mein Vater!“, fuhr er fort. „Wenn ich mich noch jemals daheim sehen lasse, will er mich endgültig abstechen. Ein Schwuler wie ich sei eine Schande für die Familie …“

„Mann, Isaac …“, murmelte ich erschrocken.

Isaacs Vater war früher einer der einflussreichsten Stadträte in unserem Distrikt. Bei dem Sportler-Bekannten konnte Isaac nur noch ein paar Tage bleiben. Dann musste er ein neues Versteck finden.

Meine Mutter dagegen hält uneingeschränkt zu mir, obwohl ich es ihr erst ein Jahr nach der ersten Nacht mit Isaac damals gesagt hatte. Manchmal denke ich, sie wusste es schon eher als ich.

An jenem Nachmittag nahm sie einfach meine Hand und schaute ernst, aber liebevoll und sagte nur: „Weißt du noch: Nkwagala …?“

Seit dem letzten Treffen vor einem halben Jahr habe ich Isaac nicht mehr gesehen. Niemand weiß, wo er ist.

„Bestimmt untergetaucht“, meint Betty, eine Transfrau in unserer erst vor Kurzem gegründeten Gruppe für sexuelle Minderheiten, der ersten überhaupt in Kampala. Aber genau weiß sie es auch nicht. Angeblich sucht ihn sein berühmter Vater jetzt sogar mit der Polizei. Den schwarzen Panther.


1 Idi Amin (1928–2003), ursprünglich demokratisch gewählter Regierungschef von Uganda, dann aber sich zum „Präsident auf Lebenszeit“ ernennender Diktator. Während seiner Jahre an der Macht von 1971–1979 verjagte er alle indischstämmigen Bewohner Ugandas und ermordete mindestens 300.000 seiner politischen Gegner.