Kampala, im Februar

Der erste Horror begann mit Robinson. Heute vermute ich, dass es damals einen Verräter in unserer SMUG-Gruppe gegeben haben muss.

Wir fühlten uns wirklich sicher an jenen Samstagnachmittagen. So weit man sich eben sicher fühlen kann, wenn man ein Doppelleben führt. So wie die meisten von uns: Draußen im Leben voll Normalo. Nur nichts anmerken lassen. Nur wenige konnten zumindest daheim ehrlich sein, wie ich bei meiner Mutter.

Samstags trafen wir uns ab drei Uhr in der Sunshine Bar, nicht weit vom Unabhängigkeitspark in nordwestlicher Richtung. Hier konnten wir kuchu5 sein – wir selbst, einfach wunderbar und jung. Niemals waren wir mehr als zehn oder höchstens fünfzehn von uns. Meist dabei Betty, John, Josiah, Pepe, Anne, Julian, ganz am Anfang auch noch Isaac, bevor er dann untertauchte.

Die Besitzerin der Sunshine Bar, Mama Sebuga, ist eine von uns, obwohl sie das niemals öffentlich zugegeben hätte. Vor langer Zeit war sie aus dem Norden Ugandas nach Kampala gekommen. Ihre Familie?

„Mein Mann ist gestorben, und meine Kinder sind groß und selbstständig“, hatte sie uns einmal berichtet. „Und das bin ich jetzt auch … ich will keinen Mann mehr. Ich bin mein eigener Mann!“ Mit dem Erbe, das ihr Ehemann ihr hinterlassen hatte, eröffnete sie die Bar, nicht weit weg vom schicken Protea Hotel, aus dem die meisten ihrer Kunden kommen. Vor allem Touristen, die etwas „echt Ugandisches“ kennenlernen möchten. Und wir eben … meist an Samstagnachmittagen.

Mama Sebuga macht ab drei Uhr immer „Happy Hour“ – alle Getränke zum halben Preis. Die Touristen dachten, dass es für sie ist. War aber für uns. Mama Sebuga war auf unserer Seite. Bis zu jenem Samstag Mitte Februar.

Es waren noch nicht einmal alle von uns da. Betty fehlte noch und ja, auf Isaac warteten wir nicht mehr wirklich. Ich hatte Robinson mitgenommen, da er gern mit mir gemütlich durch den Park trottete.

Weil wir auf dem Innenhof im Schatten saßen und alle durcheinander redeten und lachten, bemerkten wir die fünf oder sechs Schläger erst, als sie schon im Hof mit erhobenen Knüppeln standen und Mama Sebuga schrie: „Raus mit euch! Ich habe die Polizei schon alarmiert! Haut ab! Haut ab!“

In unserer Gruppe war es mit einem Mal todstill. Wir hatten von einem Vorfall vor Weihnachten am Miami Beach gehört, als ältere Schwule dort versucht hatten, eine Party zu veranstalten. Noch vor Mitternacht waren ein paar religiöse Fanatiker erschienen, die alles kurz und klein schlugen. Dabei wurden drei Party-Besucher so schwer verletzt, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Uns war klar – das hier war Ernst!

Anne, Josiah, Julian, Pepe und ich waren bereits aufgesprungen und hatten jeder einen Stuhl gepackt zur möglichen Selbstverteidigung. An einem Nachbartisch schoben sich zwei junge Frauen, deutlich Touristinnen mit ihren Rucksäcken, dagegen soweit wie möglich aus dem Kampffeld. Einer der Typen schrie: „Ihr Sünder! Ihr Sodomiten! Wir kommen im Auftrag von Gott!“

Womit jedoch niemand gerechnet hatte – mit Robinson! Er hatte sich zuvor unter meinem Tisch zum Schlafen zusammengerollt und wurde nun angesichts des Geschreis langsam wach. Trotz seines hohen Hundealters erfasste er die Situation sofort.

Ohne Vorwarnung kam er unter dem Tisch hervor, schüttelte sich einmal kurz und sprang dann mit wütendem Knurren den Schläger, der mir am nächsten stand, voll an. Robinson biss sich in dessen Arm fest und ließ nicht wieder los. Der Typ schrie wie am Spieß, kurz darauf fiel sein Stock zu Boden. Blut tropfte auf den weiß gefliesten Boden des Innenhofes.

Dann brach das völlige Chaos los: Wir versuchten, uns einen Weg nach draußen zu bahnen, indem wir mit unseren Stühlen um uns schlugen. Anne traf dabei einen der Schläger sogar wunderbar am Kopf. Auch die zwei Touristinnen waren aus der Starre erwacht und warfen mit Blumentöpfen auf die Typen. Mama Sebuga hatte derweil einen Feuerlöscher gepackt und sprühte den Angreifern den Schaum ins Gesicht. Erst jetzt begannen die Männer zurückzuschlagen. Einer traf Robinson so hart am Kopf, dass er jaulend losließ und zu Boden stürzte.

In dem Augenblick waren von der Straße her die Sirenen eines Polizeiautos zu hören. Die Sunshine Bar ist zuerst bekannt als sicherer Treffpunkt für devisenbringende Touristen. Vermutlich auch deshalb war der Notruf von Mama Sebuga sofort erhört worden.

Ich hatte mich inzwischen neben Robinson niedergekniet und erkannte mit Schrecken, wie schwer er verletzt war. Sein Atem ging nur noch schwach. Ein Strom dunklen Blutes lief aus einer klaffenden Wunde an seinem Schädel. Er versuchte, mich anzuschauen. Aber dann verdrehte sich sein Blick – und er hörte auf zu atmen. Vor Wut und Trauer schrie ich so laut auf, dass sogar die gerade her­einstürmenden Polizisten innehielten.

Die Schläger waren inzwischen über die Mauer des Innenhofes getürmt. Nur der mit dem blutenden Arm hatte es nicht geschafft und wurde von der Polizei festgenommen. Von allen anderen, auch von den beiden Touristinnen, wurden die Ausweise kontrolliert und Telefonnummern notiert als mögliche spätere Zeugen. Dann war es plötzlich wieder ganz still im Innenhof der Sunshine Bar.

Mir liefen Tränen übers Gesicht. Ich hatte mich neben Robinson niedergekniet und hielt seinen verletzten Kopf in meinen Händen. Robinsons Herz schlug nicht mehr. Unser guter alter Robinson … Nun waren wir nur noch zu zweit daheim.

„Dein Hund hat uns alle gerettet!“, sagte die Kleinere der beiden blonden Touristinnen leise zu mir. Auch sie hatte feuchte Augen.

Mama Sebuga fügte hinzu: „Wir können ihn hier in meinem Garten begraben, David … wenn das für dich und deine Mutter okay ist. Und ein Foto von ihm aufhängen: Er hat alles getan, um uns zu verteidigen.“

Ich nickte nur still. Ich musste es später erst noch Mama erzählen.

Beide weinten wir an dem Abend. Robinson hatte zu uns gehört, seit ich klein war. Mama hatte eine Kerze auf den Tisch gestellt und für ihn angezündet. Niemals würden wir ihn vergessen. Und warum er gestorben war.

Der Hass der Fanatiker verfolgte uns aber noch weiter.

Der Schläger, der festgenommen worden war, konnte angeblich glaubhaft nachweisen, dass nicht Touristen bestohlen werden sollten, sondern dass es allein gegen uns gerichtet war, die „Abartigen“, die dort einen „geheimen Treffpunkt“ gehabt hätten, um unsere „Sünden“ auszuleben und „unschuldigen Nachwuchs zu rekrutieren“. Sie beriefen sich dabei auf den inzwischen landesweit bekannten Pastor Martin Ssempa6, der extra eine eigene Kirche gegründet hatte, um „im Auftrag Gottes die Sünder zu bestrafen und notfalls mit Gewalt auf den rechten Weg“ zurückzubringen.

Daraufhin kam er frei. Mama Sebuga dagegen erhielt eine Auflage des zuständigen Richters, dass ihre Bar sofort geschlossen werden würde, wenn sie uns „kriminelle Sünder“ weiter beherbergen würde. Nur einmal trafen wir uns noch in der Sunshine Bar ein paar Tage später, bewusst nicht an einem Samstagnachmittag. Zur Beerdigung von Robinson.

Nsonyiwa – es tut mir so leid“, stammelte Mama Sebuga, nachdem sie uns den Brief des Richters gezeigt hatte. Sie hatte sogar Blumen für das Grab von Robinson besorgt – und alle Getränke waren frei für uns an diesem letzten Nachmittag in der Sunshine Bar. Auch Mama war gekommen.

Bevor wir uns trennten, meinte John: „Wenn meine Eltern meist einmal im Monat im Ausland sind, könnt ihr zu mir nach Hause kommen. Ich sage euch Bescheid.“

Und Josiah überlegte: „Vielleicht geht es auch bei uns in der einen leeren Garage. Die hat einen Zugang von der Straße, die nicht vom Wohnzimmer meiner Eltern einsehbar ist. Aber da müssten wir immer leise sein … und könnten uns nur nach Einbruch der Dunkelheit treffen.“

An der Stelle meldete sich Mama und schlug vor: „Das ist alles zu unsicher … ich will nicht, dass ihr weiter euer Leben riskiert. Nur weil ihr anders seid und euch treffen möchtet. Ab jetzt könnt ihr zu David und mir einmal in der Woche kommen.“ Das sagte meine Mutter. Die meisten anderen trauten sich nicht mal, überhaupt ehrlich zu ihren eigenen Eltern zu sein.

„Aber lasst uns nicht mehr an Samstagnachmittagen treffen“, warnte Julian. „Für den Fall, dass wir beobachtet werden.“

„Wie wäre Mittwochabend ab 18 Uhr?“, schlug ich vor. Mittwochs kam Mama immer eher von der Arbeit aus dem Krankenhaus.

„Lass uns das später festmachen …“, meinte Julian und schaute dabei jeden von uns lange an. Allen war sofort klar, warum er das tat. War vielleicht doch ein Verräter unter uns, der unseren neuen Treffpunkt sofort wieder an die Polizei oder die Fanatiker von Pastor Ssempa durchgeben würde?

Später an dem Abend bin ich mit Mama allein bei uns. Es fühlt sich immer noch so leer an in der Wohnung ohne Robinson. Wir haben sogar noch seine alte Schlafdecke im Wohnzimmer und seinen Wassernapf neben der Wohnungstür stehen lassen.

Als wir die Vortür abgeschlossen haben, will ich gerade den Fernseher anschalten, um gemeinsam die Abendnachrichten zu sehen. Aber Mama winkt mich in ihr Schlafzimmer und holt etwas aus ihrer Nachttisch-Schublade. Ein kleines Päckchen, in blaues Papier eingewickelt.

„Für dich, mein Junge“, sagt sie und drückt es mir einfach in die Hand.

Aufgeregt reiße ich das Papier auf – wow: Ein funkelnagelneues Smartphone!

„Mit Data7 für mindestens zwei Monate“, fügt sie lächelnd hinzu.

Bis dahin hatte ich nur ein ganz altes von Mama, mit dem man einfach nur telefonieren konnte, nichts weiter. Kein Internet, kein Facebook, nichts. Ich kann mein Glück kaum fassen.

Ich umarme sie und sage dann ernst: „Weebale – danke, Mama. Aber das war bestimmt tierisch teuer!“

„Ja“, sagt sie, „war es. Aber du bist mir das Wertvollste auf der Welt! Und ich will, dass wir uns immer gut erreichen können … immer.“

Ich ahnte damals nicht, wie sehr ich dieses Smartphone noch einmal brauchen würde. Nicht nur zum Chatten und all dem. Schlicht zum Überleben.

Ausgerechnet an diesem Abend kommt ein Programm im Fernsehen, in dem unser Präsident Yoweri Museveni8 verkündet, dass es nicht gut sei, Homosexuelle zu ermorden. Nur wenn sie sich öffentlich äußern würden und „Propaganda verbreiten, um Kinder zu Homosexuellen zu machen“ – dann sollten sie mit Gefängnis bestraft werden. Und wenn sie von ihren „abartigen Gelüsten“ nicht lassen können, dann gehörten sie lebenslänglich weggesperrt.

Immer wieder dieser Unsinn, dass wir „Propaganda“ machen und „unschuldige Kinder missbrauchen“. Als könnte man zum Schwul- oder Lesbischsein verführt werden. Oder ob man lieber ein Mädchen oder Junge sein will.

Niemals vergesse ich, wie wunderbar mich Isaac an meinem vierzehnten Geburtstag „verführt“ hatte. Es war alles in mir, und er hatte mir nur geholfen, endlich mich selbst zu finden. Das war alles. So einfach. Wenn andere nicht ein Verbrechen daraus machen würden.

Aber so sind die Gesetze bis heute in Uganda. Neu dazugekommen ist, dass nun auch diejenigen, die Homosexuellen erlauben, sich bei ihnen zu treffen, verurteilt werden können mit bis zu sieben Jahren Gefängnis.

So wie Mama Sebuga all die letzten Monate. Oder jetzt meine Mama?

Wir schauen einander ernst an.

„Du bist mein Sohn, David, und wirst es immer bleiben.“ Mama hat meine Hand genommen. „Und zwar so, wie Gott dich geschaffen hat.“

Dann versucht sie ein Lächeln: „Deine Freunde können sich bei uns treffen. Punkt. Das wäre ja noch schöner …“

Mama schaltet resolut den Fernseher ab, steht vom Sofa auf und ruft: „Jetzt erst mal viel Spaß mit deinem neuen Smartphone, David. Ich weiß selbst nicht genau, was man damit alles machen kann. Aber der Verkäufer sagte: Alles!“

Gibt es noch mehr als „alles“? Es ist in dieser Nacht, dass ich, David Kutala, endlich, mit sechzehn Jahren die Welt von WhatsApp und Facebook entdecke. Ich mache kein Auge zu in dieser Nacht.


5 Kuchu – ein Wort, das aus dem Swahili (oder: Suaheli) stammt, einer afrikanischen Sprache, die in Ostafrika in mehreren Ländern von über 80 Millionen Menschen gesprochen wird. Ein Swahili Wort kennt jeder: Safari. Kuchu bedeutet so viel wie: Gutaussehend, attraktiv, wunderbar. Die LGBTIQ-Community in Uganda, aber auch einigen Nachbarländern, hat es als positive Selbstbezeichnung übernommen und sagt: Wir sind kuchu.

6 Martin Ssempa (*1968) ist Gründer der Makerere Community Church, deren Hauptziel es ist, „Sodomiten auszurotten“ in Uganda. Er verbreitet vor allem die Propaganda, dass Lesben und Schwule „unschuldige Kinder rekrutieren, damit sie ebenfalls lesbisch und schwul werden“. Er bezeichnet sich selbst als „Doktor“, obwohl er niemals Medizin studiert hat. Den Auftrag, „Sodomiten zu heilen“, hat er angeblich direkt von Gott erhalten. Er ist regelmäßiger Gast im ugandischen Fernsehen. Dem früheren US-Präsidenten Barack Obama wirft er vor, die Unterstützung von Schwulen weltweit zur Hauptaufgabe seiner Politik gemacht zu haben. Alle Zitate sind wörtlich aus Presse-Artikeln übernommen.

7 Data – hier wird durchgehend dieser Begriff verwendet, da in vielen Ländern Afrikas Datenvolumen (data) getrennt von einem Gesprächsguthaben (airtime) gekauft werden kann, um ins Internet zu kommen.

8 Yoweri Museveni (*1944), Präsident von Uganda seit 1986. Während der Zeit des ugandischen Diktators Idi Amin lebte er 1971–1980 im Exil in Tansania. Wenig später gründete er eine Widerstandsarmee gegen die Nachfolgeregierung von Amin und konnte Anfang 1986 schließlich auch die Hauptstadt Kampala erobern. Jahrzehntelang ließ er sich durch Scheinwahlen im Amt bestätigen. Erst in jüngster Zeit gibt es vorsichtige Ansätze, auch andere Parteien zuzulassen. Für den Einsatz tausender Kindersoldaten in seiner damaligen Widerstandsarmee musste er sich bis heute vor keinem Gericht verantworten.