Hamburg, im April

Seit Februar ist viel geschehen. Überwiegend Gutes.

Es gab sogar schon ein paar richtig milde Frühlingstage. Die ersten warmen Sonnenstrahlen tun gut nach dem langen kalten Winter.

Morgens ist jetzt schon immer Licht, wenn ich wach werde.

Hassan ist inzwischen ein echter Freund geworden, obwohl er einige Jahre älter ist als ich. Im Sommer wird er fünfundzwanzig. Seit er den Führerschein hat, konnte er Arbeit finden als Taxifahrer bei einem kleinen Betrieb am Hafen. Sein Traum ist, irgendwann ein eigenes Taxi zu haben und selbstständig zu sein.

„Ich finde, du solltest dein Abi hier nachmachen und irgendwann studieren“, entgegne ich, als er es mir das erste Mal erzählt. Ich klinge jetzt beinahe wie meine ältere Schwester Michelle. Aber Hassan hat eindeutig das Zeug zu einem Lehrer oder gar Professor. In jeder freien Minute liest er dicke Bücher. Manchmal erzählt er mir dann davon, weil ich selbst nicht so gern lese.

Zum Beispiel, warum es Hunger in der Welt gibt. Obwohl eigentlich genug Nahrung für alle da ist. Und warum immer mehr Menschen flüchten müssen wegen des Klimawandels und dass jetzt etwas dagegen getan werden muss. Oder warum Staaten sich bekämpfen und Kriege führen, obwohl schon Kinder lernen sollen, Konflikte ohne Gewalt zu lösen und sich zu vertragen. Oder warum manche Minderheiten verfolgt werden, obwohl sie niemandem etwas zuleide tun.

Solche Bücher. Manchmal reden wir dann stundenlang darüber. Ich bin froh, dass Hassan und ich Freunde geworden sind.

Auch sein jüngerer Bruder Abdul findet es gut. Letzte Woche überraschte er mich im Supermarkt, als er direkt sagte: „Weißt du, David, bei uns benutzt man das Wort schwul nur als Schimpfwort. So wie das bei euch hier in Deutschland auch früher war. Aber wenn du und Hassan andere Männer lieben, ist das für mich okay. Seit Hassan dich kennt, ist er richtig aufgeblüht und redet auch mehr mit mir …“

Und mit einem Grinsen fügte er hinzu: „Meine bescheuerten Freunde werden das auch irgendwann kapieren!“

Seit Kurzem gehen Hassan und ich jeden Mittwochabend zur Safe Space Gruppe ins mhc. Die meisten anderen da sind aus arabischen, afrikanischen und osteuropäischen Ländern. Letzte Woche kamen auch erstmals zwei Männer, die vor den Mordaktionen in Tschetschenien fliehen konnten. Aber ein paar sind auch Deutsche wie ich.

Geleitet werden die Safe Space Treffen meist von Leila, einer jungen lesbischen Frau aus Ägypten. So steht es im mhc-Programmheft. Leila? So heißt doch auch die Kollegin von Michelle in der Farbenfirma, denke ich spontan, als ich es lese.

Erst habe ich sie nicht wiedererkannt. Das einzige Mal, als sie Michelle daheim besuchte und auch wir uns kurz gesehen hatten, trug sie noch ein Kopftuch und einen langen dunklen Rock. Nun hat sie kurze Haare, die sogar an einer Seite blau gefärbt sind, und trägt enge Jeans und einen weiten rosa Pullover.

Sie lacht, als sie mich das erste Mal hier trifft: „Du hast dich gar nicht verändert, David!“

„Langweilig?“, entgegne ich ebenfalls lachend.

„Ja“, meint sie freundlich. „Ich werde Michelle raten, dir zumindest zu zeigen, wie man Haare färben kann.“

Hassan reagiert kritisch, als ich ihm Leila vorstelle.

„Schwester“, spricht er sie ernst an. Wegen mir reden beide auf Deutsch. „Warum bleibst du nicht unseren Traditionen treu? Du könntest ein Vorbild sein als Lesbe mit Kopftuch für andere Mädchen aus Ägypten.“

Leila reagiert ebenfalls ernst, aber nicht verärgert: „Hassan, ich habe früher mit Überzeugung das Kopftuch getragen. Meine Mutter geht bis heute nur verschleiert aus dem Haus, auch hier in Hamburg, und wird dafür von vielen angefeindet. Ich möchte jetzt erproben, wie es sich anfühlt, mich so zu zeigen, wie ich mich selbst am schönsten finde. Das habe ich noch nie zuvor gemacht.“

„Und, fühlt es sich gut an?“, fragt Hassan mit echtem Interesse.

„Ich bin noch nicht sicher. Ich probiere noch …“, antwortet Leila schlicht.

Als ich abends Michelle von Leila erzähle, ist sie nur froh: „Wunderbar! Ich freue mich so für sie. Als wir uns im Betrieb kennenlernten, war sie nur schüchtern und traute sich kaum, den Mund aufzumachen. Jetzt widersprechen wir zusammen dem Chef, wenn’s sein muss!“

Wir nehmen uns vor, Leila und Hassan am nächsten Sonntag zu uns einzuladen.

Am Samstag backen Michelle und ich einen riesigen Apfelkuchen. Auch Marco hilft begeistert mit und hat schon überall Teig im Gesicht. Abends hängen wir zu dritt vorm Fernseher und schauen uns einen alten amerikanischen Spielfilm mit Judy Garland an. Bei ihrem Song Somewhere over the rainbow singen Michelle und ich laut mit. Marco ist inzwischen neben mir auf dem Sofa eingeschlafen und schnarcht wunderbar entspannt trotz unseres Lärms vor sich hin.

„Wenn das keine gelungene Regenbogen-Familie ist“, meint Michelle grinsend zu mir, bevor auch wir ins Bett fallen.

Es geht uns einfach gut zusammen, ist mein letzter Gedanke vorm Einschlafen. Sicher, wenn ich daran denke, wie Samstagabende oft im Streit unserer Eltern vergingen, als wir noch klein waren.

Sonntagfrüh lädt Michelle noch ihre beste Freundin Ayşe ein – und ich Martin und seine neue Flamme Chris. Leila hat orientalisches Gebäck dabei, und Hassan holt eine Tüte mit frischen Pfefferminztee-Blättern aus seiner Tasche. Martin und Chris haben sich richtig in Schale geworfen und sogar einen Schlips umgebunden. Obwohl Martin dünn ist und Chris eher rundlich, wirken sie nach der kurzen Zeit schon wie ein Zwillingspaar. „Echt mein Traummann“, meint Martin strahlend, als wir den Kuchen in der Küche zusammen aufschneiden.

Der kleine Marco freut sich immer, wenn Besuch kommt – und klettert sofort bei Hassan auf den Schoß. Dort bleibt er auch sitzen, als die gefüllten Kuchenteller kommen. Er genießt es, wie Hassan ihn mit kleinen Stücken füttert.

Ayşe lobt unseren Kuchen und sagt: „Können wir das nicht regelmäßig machen – Sonntagnachmittag bei euch?“

„Hilfe!“, ruft Michelle. „Dann will Marco auch, dass wir jeden Samstag Kuchen backen.“ In der Tat nickt Marco begeistert. Sein Mund ist voll mit Apfelkuchen.

Leila berichtet dann von einigen Anfragen, die über Facebook die letzten Tage an die Safe Space Gruppe hereingekommen sind: „In Moskau ist ein Treffpunkt lesbischer Frauen von rechtsextremen Gewalttätern überfallen und kaputtgeschlagen worden. In Kairo wurden fünf junge Männer verhaftet und gefoltert, weil sie angeblich eine Sexparty veranstaltet hatten … zwei sind freigekommen und bitten um Asyl in Deutschland.“

Chris hat bisher nur still zugehört und macht einen Vorschlag: „Wie wäre es, wenn wir Geld für sie sammeln, damit sie nach Hamburg fliegen können?“

„Wenn das so leicht ginge, Chris“, erklärt Leila traurig. „Erst müssten sie entweder ein Visum für Deutschland beantragen, was ausgeschlossen ist, wenn gegen sie eine Anzeige läuft. Oder sie müssten selbst aus Ägypten flüchten und in einem Land Europas um Asyl bitten.“

„Aber wie sollen sie denn nach Europa kommen?“, hakt Martin nach. „Mit einem Schlauchboot?“

Leila bleibt ernst: „Manche versuchen es … allein letztes Jahr sind über zweitausend Kinder, Frauen und Männer13 genau dabei im Mittelmeer ertrunken.“

Hassan hat Leila aufmerksam zugehört. Sie sind sich eindeutig näher gekommen. Anerkennend nickt er ihr zu: „David und ich wollen auch bei eurer Safe Space Gruppe mitmachen. Ich kenne einen Freund in Teheran, der dort von der Geheimpolizei vergewaltigt wurde. Said lebt seitdem in einem Versteck. Aber wir halten Kontakt … und vielleicht können wir ihm helfen, doch aus dem Iran herauszukommen.“

„Kennst du Mustafa aus unserer Hamburger Gruppe?“, fragt Leila nach. „Er kommt auch aus Teheran, aber war eine Weile krank. Nächste Woche müsste er wieder dabei sein.“

„Noch nicht“, antwortet Hassan. „Na ja, in Teheran wohnen aber auch über dreizehn Millionen Menschen. Aber ich würde Mustafa gern treffen nächste Woche.“

Zu mir sagt Hassan später leise in der Küche: „Eine wunderschöne iranische Prinzessin hieß auch Leila … jedoch endete sie schrecklich. Aber unsere Leila hat ein ähnlich schönes Lächeln wie die Prinzessin14…“

Hassan überrascht mich immer wieder. Er hat Augen für alles Schöne: Schöne Gedichte, schöne Frauen. Nicht nur schöne Männer.

Michelles beste Freundin Ayşe hat bisher kaum etwas gesagt. Ihre Familie stammt aus der Türkei, aber sie ist in Hamburg geboren. „Bei uns wird auch nicht gut und schon gar nicht offen über Homosexuelle geredet“, sagt sie später am Nachmittag. „Aber soweit ich weiß, werden gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht durch Gesetze bestraft.“15 Für den Sommer plant sie mit Michelle und dem kleinen Marco einen Badeurlaub in Antalya, wo sie noch eine Oma hat. „Eine ganz nette!“, fügt sie hinzu.

In jedem Fall hat Leilas Safe Space Gruppe heute einige neue Mitglieder gewonnen. Wenig später brechen die meisten auf.

„War gut!“, meint Hassan und redet vor dem Abschied noch länger mit Leila auf Arabisch.

„Chris übernachtet jetzt jedes Wochenende bei mir“, flüstert mir Martin ins Ohr, bevor beide aufbrechen. Lange habe ich ihn nicht so zufrieden erlebt. Es lebe Planet Romeo.

Als Marco schon in seinem Bettchen liegt und Michelle noch weiter mit Ayşe in der Küche über ihren Türkei-Urlaub redet, bin ich in meinem Zimmer hinterm Laptop verschwunden, um herauszufinden, ob es auch bei Planet Romeo junge Schwule gibt aus Ländern, in denen es gefährlich ist, jung und schwul zu sein.

Wohl nicht in den Rubriken Sex oder Beziehung, aber vielleicht beim Chatten? Einen neuen Profilnamen dafür muss ich mir erst noch ausdenken.


13 Nach Angaben der UNO wurden 2018 im Mittelmeer 2262 Leichen ertrunkener Flüchtlinge, ganz überwiegend aus Nordafrika, registriert. Die Dunkelziffer derjenigen, die unbemerkt ertrunken sind, ist wesentlich höher.

14 Prinzessin Leila Pahlavi (1970–2001) war die jüngste Tochter des letzten Schahs (Königs) von Persien, Mohammad Reza Pahlavi (1919–1980), der im Zuge der islamischen „Revolution“ 1979 gestürzt wurde und das Land verlassen musste. Seine Tochter Leila tötete sich 2001 in einem Pariser Hotel mit einer Überdosis Schlaftabletten.

15 Bereits im Osmanischen Reich wurden 1858 gleichgeschlechtliche Beziehungen legalisiert. Dies wurde vom modernen Staat Türkei ab 1923 im Prinzip übernommen. Trotzdem gibt es in der heute wieder zunehmend konservativen Türkei viele Benachteiligungen, Diskriminierungen und Anfeindungen, auch Gewalt, gegen sexuelle Minderheiten.