Kampala, Anfang Mai

Seit Februar ist viel geschehen. Gutes und Schlimmes. Aber ich bin vorerst nicht bereit aufzugeben oder abzuhauen. Wohin denn auch?

Die meisten von uns hatten lange das Gefühl, dass nach dem Überfall auf Mama Sebugas Sunshine Bar sich die Lage doch erst mal wieder beruhigt hätte. Frank16, der landesweite Direktor von SMUG, hatte via Facebook im April sogar gepostet: „Now or never! Ende Juni wird es einen neuen Anlauf für eine Gay-Pride-Parade durch das Zentrum von Kampala geben!“

Er bekam innerhalb von vier Stunden fast achthundert Likes – Wahnsinn! Auch Julian, Betty, Anne und ich waren dabei.

Ein Kommentar von Anne, ebenfalls auf Facebook, lautete: „Ndi musanyufu – ich bin glücklich! Unsere Schwestern und Brüder werden lernen, uns zu akzeptieren!“

Obwohl es kein Mittwoch ist, treffen sich die meisten abends bei uns daheim. Pepe öffnet sogar eine Sektflasche und lässt den Korken an die Zimmerdecke fliegen: „Wenn auch nur die Hälfte derjenigen kommen, die Franks Nachricht unterstützt haben – ein paar hundert von uns, sichtbar für alle! Stellt euch das vor!“

Mama kann nicht mitfeiern, da sie eine Nachtschicht im Krankenhaus hat. Aber ich habe sie sofort angerufen. Sie sagt spontan zu, bei der Parade Ende Juni mitzulaufen.

Sorgen mache ich mir nur weiter um Isaac. Warum meldet er sich bei keinem von uns?

Anne hatte eine Weile in Entebbe ganz in seiner Nähe gewohnt und kannte ihn aus dieser Zeit. Sie bestätigt, dass Isaac kein Feigling ist. „Vielleicht hat er Uganda längst verlassen?“, meint sie. Wohl auch, um mich zu beruhigen.

Aber wenn er in Sicherheit im Ausland wäre, könnte er doch noch einfacher mit uns Kontakt aufnehmen. Etwas stimmt nicht, finde ich. Aber behalte es den Rest des Abends für mich.

Wir haben heute das erste Mal selbst unsere eigenen Sicherheitsmaßnahmen gelockert. Unter denen, die mitfeiern, sind drei oder vier neue Gesichter. Es ist ja eigentlich gut, wenn neue Leute zu uns stoßen. Aber können wir ihnen vertrauen?

Pepe denkt, dass Anne und ihre neue Freundin sie mitgebracht hätten. Ich hatte sie mit Julian ankommen sehen. Erst hinterher merken wir, dass keiner von uns sie eingeladen hatte. Woher haben sie von unserem privaten Treffpunkt gehört? Als es uns auffällt, sind die Neuen jedoch schon wieder weg.

Owange – hört mal“, ruft Pepe. „Es ist gut, wenn wir mehr werden!“ Und nur zu gern wollen wir ihm glauben.

Bevor ich schlafen gehe an diesem Abend, checke ich erneut Franks Facebook-Aufforderung zur Gay-Pride-Parade. Inzwischen haben über tausend Leute ihre Zustimmung geklickt. Die meisten anonym. Aber doch. Das hatte es noch nie zuvor in Uganda gegeben.

Doch die „ehrenwerten“ Leute von Uganda lassen nicht lange auf eine Reaktion von sich warten. Schon am Wochenende wird der Minister für Ethik, Simon Lokodo17, in der Zeitung zitiert mit den Worten, dass diese geplante „Parade von Kriminellen“ niemals genehmigt werden würde, da sie eine „Sache des Teufels“ sei.

An diesem Sonntag geht Mama das letzte Mal in den Gottesdienst von Pastor Patrick in unserer Nachbarschaft. Wutschnaubend kommt sie viel eher als sonst nach Hause.

Schon im Flur höre ich sie rufen: „Ndi munyiivu – ich bin so wütend! Pastor Patrick hat den Gottesdienst von einem weißen Fanatiker aus den USA leiten lassen … und ihn als unseren Retter vorgestellt!“

Ich habe noch im Bett gelegen, aber springe nun auf, um ihr ein Glas Wasser zu bringen.

Bevor ich nachfragen kann, fährt sie fort: „Dieser Pastor Jim aus Chicago schrie, dass wir hier in Uganda noch für die echten christlichen Werte stünden: Die heilige Ehe, die gesunde Familie, das Beten aus dem tiefsten Herzen … und den Kampf gegen das Böse. Gegen Ungläubige wie die Drogengangster und Homosexuellen!“

„Das hat er gesagt, Mama?“ Endlich trinkt sie das Wasser zur Beruhigung.

„Er nicht geredet, er hat es geschrien, David! Und die ganze Gemeinde schrie mit …“

Sie wischt sich den Schweiß von der Stirn und setzt ihren breitkrempigen, hellblauen Sonntagshut ab.

Erst jetzt kann auch sie wieder normal reden: „Dann aber kam das für mich genauso Schlimme: Pastor Patrick – ach, ich mag ihn gar nicht mehr Pastor nennen – nahm wieder das Mikrofon und wedelte mit einem Dollar-Scheck vor unseren Augen herum. ‚Das hier haben wir von unseren amerikanischen Schwestern und Brüdern für den neuen Glockenturm bekommen!‘ So hat der unsere Seelen verkauft, dieser … dieser …“

Sie mag ihn nicht mehr Pastor nennen. Aber kommt eben auf kein passenderes Wort.

„Mama, hat er gesehen, wie du mitten im Gottesdienst gegangen bist?“

„Hat er, mein Junge … da gehe ich nie mehr hin!“

Ich weiß, wie wichtig die Kirche immer für Mama war. Sie betet auch jeden Abend vorm Schlafengehen. Früher hatte sie es auch mit mir getan.

Es ist deutlich, dass sie bei allem Ärger auch einfach traurig ist. Aber es soll noch schlimmer kommen.

Nur eine Woche später habe ich mich mal wieder mit Julian verabredet. Seine Mutter und jüngeren Geschwister sind schon früh schlafen gegangen. Sein Vater ist auf einer Dienstreise und soll erst am nächsten Tag wiederkommen. Erst haben wir ein Fußball-Länderspiel angeschaut, das wegen zweier Verlängerungen gar nicht aufhören will. Aber ich wohne nur zwanzig Minuten Fußweg entfernt und werde immer noch rechtzeitig heimkommen, ohne dass Mama sich Sorgen macht.

Sawa mmeka – wie spät ist es?“, fragt Julian, als Uganda schließlich doch noch gegen Kamerun verloren hat.

Ich lasse kurz mein Smartphone aufleuchten: „Halb zehn.“ Und ich ahne, wozu Julian noch Lust hat. Er weist mit dem Kopf fragend Richtung Schuppen.

Kale – okay“, grinse ich zurück.

Julian geht voran zum Schuppen, der noch hinter der Garage ganz am Ende des Gartens liegt. Die einfache Holztür ist wie meist unverschlossen.

Um nicht aufzufallen, schalten wir kein Licht an. Es ist eine klare Nacht, und der Mond verbreitet genug schummriges Licht durch das eine Fenster zur Straße. Dann breitet Julian eine Decke auf dem plattgestampften Erdboden aus.

Mwattu – bitte“, flüstert er. „Tuula wansi – setz dich, David.“

Ich spüre seinen Atem und lehne mich gegen ihn. Es tut einfach gut. Obwohl er sich manchmal schminkt, wenn wir unter uns in der Gruppe sind, hat er doch einen wunderbar männlichen Körper. Auch ich spüre mein Herz klopfen. Nicht aus Liebe … einfach aus Freude über unsere beiden Körper, die einander so guttun können. Inzwischen haben wir uns beide vollständig ausgezogen.

Warum wir nie verliebt waren, weiß ich auch nicht. War einfach nie. Vielleicht lassen wir all die verlogenen Sehnsüchte schlicht weg – und nur das zu, was wir spontan in uns fühlen. Das Verlangen, einen anderen Jungenkörper zu berühren, festzuhalten, zu spüren.

Danach liegen wir noch einen Moment dicht beieinander. Gemeinsam einschlafen wäre zu gefährlich. Ich werde mich auch erst daheim waschen, damit seine Mutter keinen Verdacht schöpft.

Als ich schon meine Unterhose anhabe, zuckt Julian plötzlich zusammen. Auch ich höre jetzt ein Geräusch vom Gartentor her. Schwere Schritte, die sich schnell unserem Schuppen nähern. Ist sein Vater doch eher zurückgekommen? Aber wieso haben wir nicht sein Auto gehört?

In diesem Moment fliegt die Tür auf, und das grelle Licht einer Taschenlampe blendet uns. Dann die wütende Stimme seines Vaters, eigentlich mehr ein Schrei: „SAAGALA!“

Ein Schrei des Abscheus, der wörtlich bedeutet: Ich will DAS nicht. Julians Vater legt allen Hass und alle Verachtung in seinen Schrei. Julian erstarrt vor Entsetzen und fällt auf die Knie.

Ich höre ihn stammeln: „Taata wange, mwattu – mein Vater, bitte …“

Aber sein Vater hat bereits einen Spaten gepackt, der in einer Ecke lehnte und gegen seinen Sohn erhoben. Erst da scheint er mich wahrzunehmen.

Hasserfüllt schaut er mich an und befiehlt nur kurz: „Genda eri – verschwinde, du Mistkerl!“

Ich packe nur meine Jeans und drücke mich an ihm vorbei nach draußen. Von da renne ich direkt zum abgeschlossenen Gartentor. Mit einem Satz springe ich hinüber. Als ich auf dem Schotter der anderen Seite lande, höre ich den ersten Schrei von Julian. Dann ein dumpfer Schlag und ein erneuter, dieses Mal langgezogener Schrei.

Um Himmels willen, wird sein Vater ihn umbringen?

Aber ich wage nicht umzukehren. Sein Vater ist ein Riesenkerl, der früher einen Namen als Boxer hatte und noch heute Geld in einen Kampfsport-Verein in unserem Viertel steckt. Auch zu zweit oder gar dritt hätten wir keine Chance gegen ihn.

Ich streife meine Jeans über und laufe so schnell durch die jetzt abendlich leeren Straßen, dass ich in weniger als zehn Minuten daheim bin. Sowohl mein Hemd als auch meine Sandalen habe ich in Julians Schuppen zurückgelassen.

Als ich endlich zu Hause ankomme und unsere Wohnungstür aufschließen will, zittert meine Hand so, dass ich den Schlüssel erst kaum aus der Hosentasche bekomme und dann einfach nicht ins Schloss. Schweiß läuft mir über den ganzen Oberkörper. Bevor ich klingeln kann, hat Mama von innen geöffnet. Vermutlich hat sie meine Geräusche an der Tür gehört.

„David!“, ruft sie erschrocken und hält sich eine Hand vor den Mund.

Dann zieht sie mich in die Wohnung und schließt die Tür von innen ab. Erst jetzt merke ich, dass mein linker Fuß blutet und ich rote Flecken auf dem Teppich im Flur verbreite.

Mama zieht mich ins Badezimmer, säubert zuerst meine Fußsohle und legt professionell einen Verband an. Dann reicht sie mir ein Handtuch, um mich abtrocknen zu können. Nur langsam legt sich mein Zittern am ganzen Körper.

Erst jetzt bekomme ich ein paar Worte heraus: „Ich habe solche Angst, dass Julian von seinem Vater ermordet wird …“

Meine Mutter scheint sofort zu erfassen, was geschehen ist. „Er hat euch erwischt, ja?“, fragt sie leise, aber ganz ruhig.

Ich nicke nur still. Sie weiß mehr, als ich dachte.

Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich wegwill. Einfach nur weg. So weit wie möglich.


16 Dr. h.c. Frank Mugisha (*1979), nationaler Direktor von SMUG (Sexual Minorities Uganda) in Kampala, bereits mehrfach verhaftet für sein Engagement. 2011 erhielt er den Robert F. Kennedy-Menschenrechtspreis und 2013 einen Ehrendoktor der Universität Gent/Belgien. Der Frank in diesem Roman ist dem echten Frank Mugisha nachempfunden. Zitate sind sinngemäß, aber nicht wörtlich übernommen worden.

17 Simon Lokoda (*1959) ist seit 2011 Staatminister für Ethik und Integrität in Uganda. In jüngster Zeit verlor er jedoch erstmals an Zustimmung und wurde sogar vom Innenminister Jeje Odongo (*1954) zurückbeordert, nachdem er das unter jungen Leuten sehr beliebte jährliche Nyege Nyege Musikfestival im September 2018 hatte verbieten lassen. Auch hier sprach er davon, dass „der Teufel seine Hand in Spiel gehabt“ habe. Alle Zitate sind wörtlich von ihm aus verschiedenen Presseartikeln übernommen.