7. OKTOBER 1193
Das Licht der Abendsonne tauchte die Dächer von Salerno in ein warmes Rot. Ein leichter Geruch von Lavendel wehte von den Bergen herab. Seyfrid liebte diesen Moment des Tages, kurz bevor der glühende Ball im Meer versank. Alles erschien friedlich, selbst seine inneren Qualen gerieten für kurze Zeit in Vergessenheit. Über den Hängen schwebte der Hauch des Friedens, wie er ihn seit seiner Kindheit nur selten erlebt hatte.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter und riss ihn aus seinem Tagtraum. »Bist du in Gedanken schon in deiner Heimat, Seyfrid?«
Um Roger Frugardis Mund spielte ein Lächeln, doch wusste Seyfrid, dass er seinem Lehrer Kummer bereitete, und strich sich verlegen eine Locke aus der Stirn. Unter der Sonne Italiens waren seine einst dunklen Haare deutlich heller geworden, ein Umstand, der die anderen Schüler stets erheiterte. »Verzeih, Meister, ich habe dich nicht kommen hören.«
»Gibt es nichts, was dich hier halten könnte?«, fragte Frugardi, und diesmal konnte er seine Traurigkeit kaum verhehlen. »Du könntest eines Tages meinen Platz einnehmen. Kaum zu glauben, dass du erst vor zwei Jahren an die Tür unserer Medizinschule geklopft und um Aufnahme gebeten hast.«
Beschämt senkte Seyfrid den Kopf. »Ich bin dir unendlich dankbar für alles, was du mir beigebracht hast, und deine Großzügigkeit werde ich dir im Leben nie vergelten können, Meister Roger. Dennoch steht mein Entschluss fest: Ich muss nach Hause. Du kennst den Grund, und ich hoffe sehr, dass du mich verstehst und mir verzeihen kannst.«
Der Magister Medicus trat einen Schritt vor und sah nun seinerseits schweigend über die rot leuchtende Silhouette Salernos. Schließlich wandte er sich dem jungen Mann wieder zu, in den er so viel Hoffnung gelegt hatte.
»Seyfrid, ich verstehe, warum du nach Köln zurückkehren willst. Der Grund ehrt dich, und vielleicht musst du es um deines Seelenfriedens willen tun. Aber wie oft haben wir über die Erkenntnisse der alten Philosophen diskutiert? Sollte die Vernunft nicht über das Gefühl siegen? Wenn ich daran denke, welch hohe Ziele du hier noch erreichen und wie vielen Menschen du helfen könntest!«
Es war Seyfrid wie ein Traum vorgekommen, als er damals an der Scola Medica von Salerno aufgenommen worden war. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, dass man ihn, den Deutschen aus niederem Adel, ohne Empfehlung und ohne Geld, an der berühmtesten Schule für Medizin akzeptieren würde. Noch dazu war sein Lehrmeister der große Roger Frugardi, der das Buch »Practica chirurgiae« verfasst und damit die Chirurgie in eine neue Sphäre des Wissens gehoben hatte. Seyfrid hatte seitdem jeden Tag aus Dankbarkeit zu Gott gebetet, weil er ihm diese Gnade erwiesen hatte.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum du ausgerechnet mich als deinen hoffnungsvollsten Schüler betrachtest, der einmal in deine Fußstapfen treten soll. Es gibt so viele kluge und fleißige Männer und Frauen aus der ganzen Welt in unserer Schule, wären einige davon nicht viel eher geeignet?«
Wieder huschte dieser kurze Anflug von Amüsiertheit über das Gesicht des Gelehrten, bei dem Seyfrid nie sagen konnte, ob sie ehrliche Belustigung oder beißenden Spott bedeutete.
»Mein Junge, noch nie habe ich jemanden gesehen, der so voller Wissbegierde und bei so hellem Verstand ist. Du hast schon aus dem Morgenland einen Reichtum an Wissen über die Medizin mitgebracht, der sogar mich überrascht hat.« Er zog die buschigen weißen Augenbrauen zusammen. »Es ist das erste Mal, seit ich Magister Medicus der Scola Medica Salernitana geworden bin, dass ich von einem Schüler gelernt habe.« Er hob mahnend den Zeigefinger. »Es sollte doch wohl umgekehrt sein, und genau deshalb glaube ich, dass dein Platz hier ist.«
Die Rufe von den Straßen Salernos weit unterhalb drangen mit einem kurzen Windstoß zu ihnen herauf. Roger Frugardi seufzte und hob in einer verzweifelten Geste die Arme. »Aber es hat wohl keinen Zweck, weiter in dich zu dringen. Ihr Deutschen seid immer so entsetzlich stur.«
In Wahrheit hatte sich Seyfrid die Entscheidung nicht leicht gemacht und nächtelang darüber gegrübelt. Als er vor einem Monat die schreckliche Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten hatte, war er am Boden zerstört gewesen. Natürlich hatte Frugardi sofort bemerkt, dass sein Musterschüler mit sich rang, ob er bleiben oder in seine Heimat zurückkehren sollte, und ihn aufgefordert, weiter in die Zukunft zu denken.
Als Seyfrid nach einer Woche um ein Gespräch nachsuchte und seine innere Zerrissenheit darlegte, hatte der berühmte Arzt ihm ruhig zugehört und seinen Schüler dann eine Weile schweigend gemustert.
»Seyfrid, die Entscheidung, deine Studien hier weiterzuführen und ein großer Medicus zu werden oder nach Köln zurückzukehren und dort zu versuchen, die Ehre deiner Familie wiederherzustellen, liegt allein bei dir«, hatte er schließlich gesagt.
Heute war Seyfrid davon überzeugt, dass der brillante Geist Roger Frugardis schon in dem Augenblick gewusst hatte, welche Wahl er treffen würde. Vielleicht, weil Frugardi ihn besser verstand als der junge Schüler sich selbst.
Roger Frugardi hatte die Aufnahme des jungen Deutschen nicht bereut, denn Seyfrids ganzes Sinnen lag darin, seine Kenntnisse stetig zu erweitern und zu vertiefen. Frugardi sah viel von sich selbst in Seyfrid. Der Kosmos der Medizin erschien dem jungen Mann so gigantisch groß, dass ihm die Vorstellung, jemals alles darüber wissen zu können, einfach absurd vorkam, aber dennoch strebte er danach. Seyfrid war der Erste, der morgens bei den Kranken war, Salben und Tinkturen anrührte, der am aufmerksamsten den Vorträgen der erfahrenen Ärzte lauschte, und der Letzte, der bis in die Nacht über den Schriften hockte und ganz nebenbei in kürzester Zeit Italienisch lernte.
Der Magister Medicus hätte unter normalen Umständen gegenüber Seyfrid niemals zugegeben, dass er ihn für seinen talentiertesten Schüler hielt, aber als der junge Mann ihm eröffnete, dass er in seine Heimatstadt zurückzukehren wolle, hatte es sein Lehrmeister für notwendig befunden, ihm dieses höchste Lob auszusprechen. Tatsächlich hatte Frugardi nie daran gezweifelt, dass Seyfrid von Viskenich einmal zu den berühmtesten Namen der Scola Medica gehören würde. Bis sein Schüler die bittere Nachricht aus dem fernen Köln erhielt.
Dabei war das Studium der Medizin Seyfrids sehnlichster Wunsch gewesen. Der junge Ritter war vor zwei Jahren an einem regnerischen Tag nach seiner langen Reise von Palästina endlich in Salerno angelangt und durch die Straßen geirrt, auf der Suche nach der Scola Medica, von der er so viel gehört hatte. Schon vor über hundert Jahren hatten hier in der Medizin bewanderte Mönche kranke oder verwundete Kreuzfahrer behandelt, die in der Hoffnung auf Heilung aus dem Heiligen Land nach Salerno kamen.
Seyfrid hatte es nur einem Irrtum zu verdanken, dass man ihn überhaupt zum Magister Medicus vorgelassen hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er den Boten eines bayerischen Herzogs erwartet. Der Adlige war schwer erkrankt und hatte einen Vertrauten zur Scola Medica gesandt, um eine Medizin gegen sein Leiden zu kaufen. Da Seyfrid damals noch kein Italienisch sprach, hatte man ihn an der Pforte nicht verstanden und ihn für den Gesandten aus Bayern gehalten.
Erst Roger Frugardi erkannte das Missverständnis, als der junge Mann inständig auf Latein bat, ihn in der Wissenschaft der Medizin auszubilden. Normalerweise hätte er dem anmaßenden Kerl, dessen Namen er noch nie vernommen hatte, gleich die Tür gewiesen: ein mittelloser Ritter, der Arzt werden wollte! Nach Salerno kamen zwar Schüler aus aller Welt, sogar Muslime und Juden wurden an der von Mönchen gegründeten Schule aufgenommen, aber sie stammten fast alle aus reichen Familien. Doch der junge Kölner hatte etwas Besonderes an sich gehabt, das Frugardi zunächst nicht definieren, aber deutlich spüren konnte. Vielleicht war es der klare, forschende Blick aus den braunen Augen, das ruhige, aber dennoch bestimmte Auftreten, wie es für einen Zwanzigjährigen ungewöhnlich war. Eine Aura der Abgeklärtheit umgab Seyfrid, wie jemanden, der schon Schreckliches erlebt und deshalb ein festes Ziel vor Augen hatte. Es schien Frugardi, dass dieser Seyfrid von Viskenich nicht eher wieder gehen würde, bis er sämtliche Geheimnisse der Medizin von ihm persönlich erfahren hätte.
»Hast du ein Studium in deiner Heimat absolviert und willst dich hier weiterbilden?«, hatte er ihn damals gefragt.
Zu seiner Überraschung hatte der Besucher den Kopf geschüttelt und geantwortet, dass er von Abdul Al-Aziz in Tyros unterrichtet worden sei. Doch wollte das Aussehen des jungen Mannes mit den verfilzten langen Haaren und der schmutzigen Kleidung so gar nicht zu seiner Behauptung passen. Der Name des gelehrten Muslims war Frugardi allerdings bekannt und dessen Ruf in der Heilkunde auch bis nach Italien vorgedrungen. Seine Neugier war geweckt, und er beschloss, Seyfrid auf die Probe zu stellen, dem anmaßenden Besucher seine Unwissenheit und seinen Hochmut vor Augen zu führen, um ihn dann hinauszuwerfen.
Im Krankentrakt der Scola Medica hatten einige schwierige Fälle gelegen. Frugardi hatte Seyfrid angewiesen, ihm zu folgen. Vor dem Lager eines Mannes, der schwer atmete und dem der Schweiß auf der Stirn stand, hielten sie an.
»Wohlan, sage mir, welche Krankheit ihn befallen hat!«
Seyfrid trat, ohne zu zögern, an den fiebernden Mann heran, der an Symptomen litt, die auf einige Leiden passten, begutachtete akribisch den ganzen Körper und stellte dem Kranken ein paar präzise Fragen auf Latein, die Frugardi für ihn ins Italienische übersetzte. Dann nannte Seyfrid zur Überraschung Frugardis die richtige Krankheit und beschrieb deren weiteren Verlauf. Die Verwunderung des Gelehrten schlug jedoch in fassungsloses Staunen um, als der junge verdreckte Kerl empfahl, dem Kranken einen Sud aus verschiedenen Kräutern zu geben, deren genaue Zusammensetzung er nannte, und seine Brust mit heißen, in Salbei getränkten Tüchern zu bedecken.
Roger Frugardi hatte den ungewöhnlichen jungen Mann lange angesehen und dann eine Entscheidung getroffen, die sich für ihn und die Scola Medica als Glücksfall erweisen sollte: »Ich werde dich in diese Schule aufnehmen und dich unterrichten. Du wirst die Kosten dafür unter meiner persönlichen Aufsicht abarbeiten. Solltest du dich als faul erweisen oder auch nur ein Mal meinen Anweisungen nicht folgen, wirst du noch am selben Tag die Schule verlassen müssen.«
Seyfrid akzeptierte die Bedingungen und dankte Frugardi aus tiefstem Herzen. Seitdem hatte sein Lehrer nicht einen Grund gehabt, sich über ihn zu beschweren. Bis zu dem heißen Tag Anfang September, als der fahrende Händler Giovanni Luciano in Salerno eintraf.
Der Neapolitaner unterhielt gute Handelsbeziehungen und reiste auch regelmäßig nach Köln, der reichsten Stadt nördlich der Alpen, um dort Wein und Olivenöl aus Italien zu verkaufen. Luciano war ein alter Freund von Frugardi und besuchte ihn häufig, da der Weg von Neapel nach Salerno nicht weit war und hier einige hervorragende Weine wuchsen.
Seyfrid hatte den wohlbeleibten Händler, der viel redete und gern lachte, kurz nach seiner Aufnahme in die Scola Medica kennengelernt. Als er eines Tages vernahm, dass Luciano bald nach Köln aufbrechen wollte, bat er ihn, sich nach dem Befinden seines Vaters Johann von Viskenich zu erkundigen, aber ohne dabei Aufsehen zu erregen. Der Händler wollte ihm den Gefallen gern tun, fragte aber erstaunt nach, warum er nicht direkt zur Burg des Vaters reisen sollte.
Seyfrid hatte lange mit sich gerungen, ob er dem Händler die Bitte antragen sollte, aber die Sehnsucht nach Kunde von seiner Familie war übermächtig gewesen. »Ganz offen gesagt: Ich will nicht, dass mein Vater meinen Aufenthaltsort erfährt. Deshalb bitte ich dich, meinen Namen in Köln überhaupt nicht zu erwähnen.«
Da Luciano wusste, dass Seyfrid das Wohlwollen Frugardis besaß, willigte er in die merkwürdige Bitte ein. Nachdem der Händler Salerno wieder verlassen hatte, rief Frugardi seinen Schüler zu einem Gespräch unter vier Augen.
»Es ist erstaunlich, dass ein Sohn zwar Kunde vom Vater haben möchte, aber selbst unerkannt bleiben will. Für gewöhnlich deutet dies auf einen Zwist hin. Ist dem so?«
»Nein, es ist kein Zwist, sondern die Scham!«, gestand Seyfrid. »Wie du weißt, zog ich mit Kaiser Friedrich Barbarossa ins Heilige Land. Mein Vater war mächtig stolz, dass sein Sohn die heilige Pflicht auf sich nahm, Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Das vermehrte das Ansehen unserer Familie ungemein. Doch dann beschloss ich wegen«, er stockte kurz und rang nach Worten, »Umständen, die ich nicht näher erklären möchte, dem Kämpfen zu entsagen und mich in den Dienst der Medizin zu stellen. Mein Ziel ist es, die Kunst des Heilens an der Scola Medica Salernitana zu erlernen. Wenn mein Vater erfahren würde, dass ich das Heilige Land vor der Eroberung Jerusalems verlassen habe, wäre er am Boden zerstört. Ganz zu schweigen von dem hässlichen Gerede in Köln, der Sohn Johann von Viskenichs sei vor seiner heiligen Pflicht davongelaufen.«
Roger Frugardi zeigte Verständnis für die Entscheidung Seyfrids, legte ihm aber dennoch nahe, seinem Vater wenigstens eine Nachricht zukommen zu lassen, dass es seinem Sohn gut gehe.
Doch in diesem einen Punkt weigerte sich Seyfrid hartnäckig. »Ich liebe meinen Vater zu sehr, als dass ich ihm diese Schande antun könnte«, antwortete er.
Seyfrid harrte voller Ungeduld viele Wochen auf die Rückkehr Lucianos. Als er endlich wieder in Salerno auftauchte, stellte Seyfrid zu seiner Freude fest, dass der Händler sich bei seinen Erkundigungen sehr geschickt angestellt hatte und zu berichten wusste, dass Johann von Viskenich tatsächlich sehr stolz auf seinen Sohn sei, der Jerusalem im Namen Christi erobern wolle. Doch hätte man so lange nichts mehr von Seyfrid gehört, dass einige annahmen, er sei im Kampf gefallen.
Außerdem hatte Luciano erfahren, dass Johann von Viskenich in Geldschwierigkeiten steckte, denn die Ernte auf den Ländereien war zum wiederholten Mal schlecht ausgefallen. Irgendwie hatte es der gewiefte Händler auch noch geschafft, einen Blick auf Seyfrids Schwester Isolde zu erhaschen. Laut seiner Schilderung war sie zu einer schönen jungen Dame erblüht, mit langen blonden Haaren und einem lieblichen Gesicht. Die Nachricht erfüllte Seyfrid mit Freude und Trauer zugleich. Wie gern würde er seine kleine Schwester wiedersehen!
Als Luciano im Sommer dieses Jahres erneut zu einer Reise nach Deutschland aufgebrochen war, hatte Seyfrid auf weitere gute Neuigkeiten gehofft. Doch der Weinhändler war Anfang September mit schrecklicher Kunde aus Köln zurückgekehrt.
Der rundliche Mann mit den sonst so fröhlichen Augen hatte kummervoll dreingesehen, als er Seyfrid und Roger Frugardi im Kräutergarten der Scola Medica antraf. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte, und fuchtelte hilflos mit den Händen herum. Schließlich fasste er sich ein Herz. »Mein junger Freund, ich habe eine gar schreckliche Nachricht für dich: Dein Vater ist tot.«
Es traf Seyfrid wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Für einen Moment glaubte er, dass seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten. Frugardi, der neben ihm stand, fasste seinen Schüler am Arm und geleitete ihn in den Schatten einer alten Pinie, wo sie sich auf die niedrige Mauer setzten, die den kleinen Kräutergarten umgab.
»Gott sei seiner Seele gnädig!«, sagte der Magister Medicus und bekreuzigte sich.
»Woran ist er gestorben?«, fragte Seyfrid schließlich mit leiser Stimme.
Der Händler leckte sich über die Lippen und wagte nicht, ihm ins Gesicht zu sehen. »Du musst jetzt sehr stark sein, Seyfrid! Man warf ihm vor, einen reichen Geschäftsmann, bei dem er Schulden hatte, heimtückisch erschlagen zu haben. Er wurde von einem Blutgericht in Köln zum Tode durch den Henker verurteilt. Dein Vater wurde vor zwei Monaten hingerichtet.«
Seyfrid starrte Luciano an, als hätte er den Leibhaftigen vor sich. Er fühlte sich wie gelähmt, als würde ihm jemand die Luft zum Atmen abdrücken. Doch dann sprang er auf. »Nein!«, schrie er mit wutverzerrtem Gesicht. »Mein Vater war ein Mann von Ehre, er hätte so etwas niemals getan! Wer hat diese Lüge verbreitet? Wer ist schuld an seinem Tod?«
Überrascht sah Frugardi seinen Schüler an, den er immer als ruhigen und besonnenen Menschen erlebt hatte, stets hilfsbereit und höflich. Für einen Augenblick befürchtete er, dass sich Seyfrid auf den armen Luciano stürzen würde, der zwei Schritte rückwärts taumelte. Er sah die Wut in Seyfrids Augen glimmen, die Fäuste geballt und den Körper angespannt, wie zum Töten bereit.
Zum ersten Mal wurde dem Gelehrten bewusst, dass in Seyfrids Brust noch eine zweite Seele wohnte, die er immer unterdrückt hatte. Natürlich war Seyfrid von Kindheit an zum Ritter erzogen worden. Dennoch hatte Frugardi es sich bis jetzt nie vorstellen können, dass dieser junge Mann mit dem freundlichen Wesen in Schlachten gekämpft und Menschen getötet hatte. Seyfrid musste dort schreckliche Dinge erlebt haben, über die er nie sprach. Frugardi hob beschwichtigend die Hände. »Das ist eine fürchterliche Nachricht, Seyfrid, aber du musst Ruhe bewahren!«
Seyfrid blickte ihn an, als würde er ihn zum ersten Mal wahrnehmen.
»Verzeih mir bitte, dass ich dir diese schlimme Kunde überbringen musste!«, sagte Luciano ängstlich. »Ich hörte es von einem ehrenhaften Weinhändler in Köln, mit dem ich seit vielen Jahren Geschäfte mache. Er sagte, ein reicher Salzhändler namens Gottfried Hackenbroich habe Johann von Viskenich Geld geliehen, aber dein Vater hätte es wohl nicht zurückzahlen können, deshalb seien sie bei einem Bankett in Streit geraten. In derselben Nacht wurde Hackenbroich in seinem Haus erschlagen. Seine Ehefrau hat ihn am nächsten Morgen in seinem Blut liegend gefunden. Das Schwert deines Vaters steckte in der Leiche.«
Es durchfuhr Seyfrid siedend heiß: das Schwert seines Vaters! Es war eines der legendären Schwerter von Ulfberht, jenes sagenhaften Schmieds, der sich wie kein anderer auf sein Handwerk verstanden hatte. Keine Klinge konnte sich mit Ulfberhts messen. Seyfrids Urgroßvater hatte das Schwert einst für viel Geld erworben, seitdem war es in Familienbesitz und seines Vaters ganzer Stolz gewesen. »Hatte mein Vater die Tat gestanden?«, fragte er.
»Nein, nein!«, beeilte Luciano sich zu antworten. »Vor dem Blutgericht und selbst noch vor dem Henker beteuerte er seine Unschuld.«
»Dann war er es nicht!«, rief Seyfrid. »Mein Vater war ein Ritter, seine Ehre stand für ihn über allem. Er hätte die Tat zugegeben, selbst wenn die Folgen seinen sicheren Tod bedeutet hätten. Auch hätte er niemals sein Schwert zurückgelassen!« Seyfrid wandte sich Frugardi zu, als müsse er ihn überzeugen. »Jemand anderes hat den Mord begangen und es ihm in die Schuhe geschoben. Ich werde den wahren Mörder finden und zur Rechenschaft ziehen!«
»Das war leider noch nicht alles«, meldete sich Luciano vorsichtig zu Wort. »Das Blutgericht hat deine gesamte Familie für geächtet erklärt. Die Ländereien und die Burg gehören euch damit nicht mehr.«
Mit einem Wutschrei schlug Seyfrid auf den Stamm der Pinie ein. Wie wild prügelte er gegen die Rinde.
»Beruhige dich!«, befahl Frugardi mit strenger Stimme. »Wir müssen mit klarem Verstand denken! Habe ich dich die großen Philosophen umsonst lesen lassen?«
Seyfrid ließ von dem Baum ab, seine Kiefermuskeln mahlten, und von seinen Knöcheln tropfte Blut. Doch langsam kam er wieder zu Sinnen. »Verzeih, Meister, du hast recht! Die Wut vernebelt meinen Verstand«, sagte er schließlich keuchend.
Frugardi legte ihm die Hand besänftigend auf die Schulter. »Jetzt ist es Zeit, um deinen Vater zu trauern und nicht an Rache zu denken!«
Luciano nickte hektisch, sichtbar erleichtert, dass Seyfrid sich nicht auf ihn gestürzt hatte. »Ganz genau!«, pflichtete er bei.
»Wir werden zur Vesper ein Gebet für ihn sprechen«, sagte Frugardi.
Seyfrid blickte über die grünen Berghänge, als ob er dort eine Antwort suchte. »Ich muss den wahren Mörder finden. Auch die Richter und Schöffen des Blutgerichts sollen mir Rechenschaft ablegen, warum sie meinen Vater fälschlich beschuldigt und zum Tode verurteilt haben.«
Plötzlich schien Seyfrid etwas einzufallen, und er wirbelte zu Luciano herum, der erneut zurückzuckte. Er fasste den Händler bei den Oberarmen. »Was ist mit meiner Schwester? Hast du gehört, was mit Isolde passiert ist?«
Zu seiner Enttäuschung schüttelte Luciano mit traurigem Blick den Kopf. »Leider nein. Auch nach ihr habe ich mich in Köln erkundigt, aber niemand konnte mir etwas über ihr Schicksal sagen. Manche vermuten, dass sie in die Wälder geflohen sei, andere meinten, dass sie vielleicht in einer anderen Stadt lebe. Keiner hat mehr etwas von ihr gehört, nachdem dein Vater vom Büttel der Stadt in den Turm gesperrt worden war.« Er wagte nicht zu erwähnen, dass einige in Köln den Verdacht hegten, dass das arme Mädchen umgebracht worden sei.
»Ich habe noch etwas gehört«, fuhr er fort. »Dein Vater soll vor Gericht ausgesagt haben, dass vermummte Männer ihn auf dem Weg von Köln zu seiner Burg überfallen haben und über Nacht gefesselt im Wald liegen ließen. Sie hätten auch sein Schwert gestohlen. Erst am nächsten Morgen habe ihm ein vermummter Mann die Handfesseln durchgeschnitten, sei dann aber verschwunden. Das Gericht und die Schöffen schenkten seiner Geschichte keinen Glauben, da niemand sie bezeugen konnte. Hingegen gab es einen Zeugen, der gesehen haben will, wie dein Vater den Mord beging.«
»Einen Zeugen? Wie heißt er?«
Luciano zuckte die Achseln und sagte kleinlaut: »Leider habe ich nicht nach dem Namen gefragt.«
»War dir dieser Hackenbroich bekannt?«, fragte Frugardi seinen Schüler.
»Den Namen habe ich wohl schon vernommen. Er gehörte zur Richerzeche.«
»Was ist das?«
»Eine Bruderschaft der reichsten Bürger Kölns«, erklärte Seyfrid. »Aber ich habe Hackenbroich nie getroffen.«
»Was für Geschäfte hat dein Vater mit ihm gemacht?«
»Ich glaube, er hat dort manchmal Salz gekauft, aber nur selten, weil es so teuer ist.«
»Es handelte sich also nicht um eine alte Fehde?«
»Nein, zumindest nicht, bevor ich ins Heilige Land zog.«
Seyfrid wusste, dass die Schöffen, die dem Gericht beisaßen, um ein Urteil zu finden, sich stets zur Hälfte aus Brüdern der Richerzeche zusammensetzten. Einer der Ihren war getötet worden, und sie hatten jemand von außerhalb dafür verantwortlich gemacht, überlegte er. Sein Vater hatte den Mord nicht begangen, davon war er fest überzeugt. Die Richerzeche hatte einen Unschuldigen dem Henker ausgeliefert.
Die Sonne über Salerno war inzwischen im Meer versunken. Seyfrid richtete sich kerzengerade auf und verkündet: »Ich werde in wenigen Tagen nach Köln aufbrechen. Ich muss Isolde finden! Sie braucht mich jetzt. Aber erst werde ich den wahren Mörder enttarnen, und wenn ich ihn aus den Tiefen der Hölle holen muss!«
Als er den letzten Satz vernahm, bekreuzigte Luciano sich rasch.