2. DEZEMBER 1193
Wehmut erfüllte Seyfrids Herz, als er vor dem vertrauten Gemäuer stand, dessen Fenster ihn nun wie aus toten Augen anstarrten. Es war nie eine prächtige Burg gewesen, doch er war hier geboren.
Die Burg Viskenich war von einem Wassergraben umgeben und bestand aus nicht mehr als einem Haupthaus und einem ummauerten Hof mit vier Türmen an jeder Ecke, einem Gesindehaus und den Stallungen. Seyfrid hatte eine herrliche Kindheit hier verbracht. Er war durch die umliegenden Wälder gestromert und hatte am nahen Bach mit den Kindern des Gesindes gespielt. Er erinnerte sich an ihre Gesichter und die Unbeschwertheit jener Tage. Doch nun war alles still, kein Mensch schien mehr hier zu leben.
Das große Burgtor war verschlossen. Seyfrid schlug mit der Faust dagegen und rief, aber niemand antwortete. Doch er wusste, wie er trotzdem in die Burg gelangen konnte.
Er ging im nahe gelegenen Wald zu einem Teich, und tatsächlich lag dort immer noch der kleine Kahn, mit dem er als Kind schon gefahren war. Er schleifte ihn bis zum Burggraben und manövrierte ihn auf dem Wasser mit einem langen Stock zur Rückseite der Burg, wo Efeu die Mauer emporrankte. Seyfrid zog heftig an den armdicken Strängen, sie hielten sein Gewicht aus, und er kletterte an ihnen empor. Oben auf der Mauer verlief ein schmaler Wehrgang, von dem aus Seyfrid die Treppe zum Burghof hinunterstieg.
Er betrat das Haupthaus, wo seine Schritte seltsam laut widerhallten. Alle Böden waren von einer Staubschicht bedeckt und keine Möbel mehr vorhanden. Hier hatte sich jemand schadlos gehalten. Eine maßlose Traurigkeit überkam ihn, als er die Kammer seiner Schwester betrat. Es war nur noch ein kahler Raum, nichts deutete mehr darauf hin, dass hier einmal ein fröhliches kleines Mädchen gewohnt hatte. Seyfrid fröstelte und verließ fast fluchtartig das Haupthaus.
Das Gesindehaus war ebenso verlassen wie das kleine Haus, in dem der Kastellan Eckard gewohnt hatte. Die Tür zum Stall stand offen. Es roch immer noch nach Pferden. Einst hatten hier drei prächtige Gäule seines Vaters gestanden. Nun war alles öd und leer. Traurig bestieg Seyfrid den Nordturm der Burg. Ein kalter Wind strich ihm durch die schulterlangen Haare. Er blickte nach Nordosten, wo die Mauer und die Kirchturmspitzen von Köln am Horizont aufragten.
Manchmal war sein Vater Johann mit ihm in die Stadt geritten. Seyfrid war immer ganz begierig gewesen, dorthin zu kommen. Die große, aufregende Welt! Allein schon durch die gewaltigen Stadttore zu reiten hatte ihn, den kleinen Jungen, damals mit Ehrfurcht erfüllt. Die eng stehenden Häuser und mächtigen Kirchen, deren größte und eindrucksvollste der Dom war – jedes Mal hatten sie ihn besucht und waren vor dem prächtigen Sarg der Heiligen Drei Könige niedergekniet, um zu beten. Es war das wichtigste Heiligtum in ganz Deutschland, und damit sei der Dom die bedeutendste Kirche nördlich der Alpen, hatte sein Vater ihm erklärt.
1164 hatte der Kölner Erzbischof Rainald von Dassel die Reliquien persönlich von Kaiser Friedrich Barbarossa geschenkt bekommen und sie in den Kölner Dom gebracht. Seither kamen Jahr für Jahr mehr Pilger in die Stadt, um den drei Weisen aus dem Morgenland zu huldigen, die zur Geburt Jesu nach Betlehem gereist waren. Dass die Gebeine Kriegsbeute waren, war Seyfrid erst Jahre später bewusst geworden. Das Heer Barbarossas hatte Mailand während des zweiten Italienfeldzugs geplündert und die Reliquien mitgenommen. Das schien die Gläubigen aber nicht weiter zu stören, die Bürger Kölns noch weniger, denn die vielen Pilger ließen reichlich Geld in der Stadt.
Seyfrid war mit seinem Vater oft durch die Gassen der Händler- und Handwerkerviertel spaziert. Manchmal kaufte sein Vater Jacken, Kleider, Schuhe oder Hosen für die Familie, aber auch mal ein Fass Wein oder etwas Salz. Der Höhepunkt war für Seyfrid aber stets der Hafen am Rhein gewesen. Hier legten Schiffe aus aller Herren Länder an und entluden Waren, die er noch nie gesehen hatte. Menschen mit fremdartiger Kleidung und Sprachen, die nichts mit seiner zu tun hatten. Wenn Köln schon so unglaublich war, wie musste es dann erst in der Ferne sein?
Die Ferne hatte er dann mit acht Jahren zum ersten Mal zu Gesicht bekommen. Er erinnerte sich noch genau an den Tag, als sein Vater ihn zur Ausbildung an den Hof des Grafen Martin von Saferau in die Nähe von Trier gebracht hatte. Seyfrid war hin- und hergerissen gewesen. Er war begeistert, als Page endlich den ersten Schritt auf dem Weg zum Ritter zu machen, doch andererseits hing er an seiner Familie. Seinen Vater bewunderte er sehr, seine Mutter war der liebevollste Mensch auf der Welt, und seine liebreizende kleine Schwester Isolde war sein Augapfel. Doch Seyfrid hatte keine Wahl gehabt, er musste seine Heimat verlassen.
Auf der Burg des Grafen von Saferau hatte er als Page mit anderen Kindern aus adligen Familien vier Jahre lang Unterricht in höfischem Benehmen, Musik und Lesen erhalten. Er lernte sogar etwas Französisch, weil das in gehobenen Kreisen und auf deutschen Burgen inzwischen als vornehm galt. Anschließend war Seyfrid in einer feierlichen Zeremonie von einem Priester in den Stand eines Knappen erhoben worden. Er kehrte für einen Sommer auf die Burg seiner Familie zurück, ehe er seinen Dienst als Schildknappe des Grafen von Saferau antrat.
Er bekam Unterricht im Schwertkampf, lernte, mit der Lanze auf dem Pferd zu reiten, den gewaltigen Morgenstern zu schwingen, wurde in Gefechtstaktik unterwiesen und ertüchtigte jeden Tag seinen Körper mit Laufen, Ringen und Schwimmen, vor allem aber im bewaffneten Zweikampf. Es war ein hartes Leben, doch Seyfrid war begeistert und konnte es kaum erwarten, einmal die Schwertleite zu erhalten, auch wenn ihn manchmal die Sehnsucht nach der Burg Viskenich überkam. Nach dem lieblichen Gesang seiner kleinen Schwester, dem sorglosen Beisammensein mit Freunden, den Abendessen vor dem prasselnden Kaminfeuer, während er den Geschichten seines Vaters lauschte.
Sieben Jahre war es nun schon her, dass er das letzte Mal mit seinem Vater gesprochen hatte, wurde Seyfrid bitter bewusst. Und er würde nie wieder mit ihm reden können.
Johann von Viskenich, groß und schlank, hatte einen dunklen Bart und einen klugen Blick gehabt. Er war ein gerechter und auch großzügiger Mann gewesen, der jedoch sehr zornig werden konnte, wenn man es ihm gegenüber an Respekt mangeln ließ. »Verliere niemals deinen Stolz!«, hatte er seinem Sohn immer wieder eingebläut.
Das alles ging Seyfrid durch den Kopf, während er auf der Mauer der Burg Viskenich stand, deren Steine schon von den Römern vor Jahrhunderten zurechtgehauen worden waren, ehe einer seiner Vorfahren sie zum Burgbau verwendet hatte.
»Vater, was ist nur geschehen?«, rief er, den Blick himmelwärts gewandt, und kämpfte mit den Tränen. Er wusste nicht einmal, wo das Grab seines Vaters lag. Und ob seine Schwester Isolde noch lebte.
Wie oft hatte er an sie denken müssen! Sie war sechs Jahre jünger als er und immer ein Sonnenschein gewesen mit ihren großen grünen Augen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Jeder hatte das kleine blonde Mädchen geliebt, das so herrlich lachen konnte. Seyfrid musste um jeden Preis herausbekommen, was mit ihr geschehen war, ohne seine wahre Identität zu verraten. Er musste auf der Hut sein. Wenn sein Plan scheiterte, würde das nicht nur sein Ende, sondern auch das von Isolde bedeuten.
Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und kletterte am Efeu die Mauer wieder herab. Nur einen Steinwurf entfernt, unter einer großen Eiche, lag ein einsames Grab. Seyfrid kniete davor nieder. Auf dem steinernen Kreuz war ein Name eingemeißelt: Lucretia von Viskenich. Seine Mutter. Sie war gestorben, als er dreizehn Jahre alt gewesen war. Die Schwindsucht hatte sie damals innerhalb weniger Wochen dahingerafft.
Es war das einzige Mal, dass er in seiner Zeit als Knappe zur Burg Viskenich zurückgekehrt war. Die Beerdigung seiner Mutter war der schlimmste Tag in seinem Leben gewesen. Er hatte sie sehr geliebt, umso mehr quälte es ihn, dass er sie in den letzten Jahren ihres Lebens nicht mehr gesehen hatte. Sein Vater hatte mit versteinerter Miene an ihrem Grab gestanden, während die kleine Isolde sich an Seyfrid klammerte und nicht verstand, dass ihre Mutter für immer gegangen war. Auch das Gesinde und die Bauern, die das Land der Viskenichs bestellten, hatten sich weinend zum letzten Geleit versammelt.
Seyfrid standen diese Bilder noch deutlich vor Augen, als er nun wieder vor ihrem Grab kniete. Er hätte sich damals nicht vorstellen können, dass es eines Tages noch schlimmer kommen würde. Doch jetzt war sein Vater als Verbrecher hingerichtet worden und Isolde verschwunden.
»Wie konnte das alles nur passieren, Mutter?«, flüsterte er. »Ich war nicht da, um zu helfen. Aber ich schwöre dir, dass ich die wahren Schuldigen finden und die Ehre unserer Familie wiederherstellen werde!«
Nur einen kurzen Ritt entfernt, knapp außerhalb der Sichtweite der Burg, lag ein Gehöft, das zu den Ländereien derer von Viskenich gehörte. Der dort lebende Bauer, Rupert mit Namen, hatte die Äcker für Seyfrids Vater bestellt. Ruperts Familie diente den von Viskenichs schon seit drei Generationen.
Seyfrid rang mit sich, als er sein Pferd mit verhaltenem Schritt in Richtung des flachen, lang gestreckten Hauses trieb. Er kannte Rupert von klein auf, und es bestand natürlich die Gefahr, dass der Bauer ihn erkennen würde. Seine Identität wollte Seyfrid aber nicht einmal ihm gegenüber preisgeben. Doch wenn jemand etwas über das Schicksal seiner Schwester Isolde wusste, dann wohl der alte Lehnsmann seines Vaters. Egal was auf der Burg passiert war, Rupert musste es mitbekommen haben.
Als Seyfrid den Hügel hinabritt, kreuzte ein Jüngling von vielleicht siebzehn Jahren in einfachen Kleidern und mit der für Bauern üblichen Haube auf dem Kopf seinen Weg. Einige Strähnen flachsblonder Haare lugten darunter hervor. Auf seiner Schulter trug er ein Bündel Brennholz. Der Bursche grüßte freundlich, und Seyfrid brauchte einige Augenblicke, um in ihm Benjamin, den ältesten Sohn Ruperts, zu erkennen. Die hellgrauen Augen und die abstehenden Ohren ließen keinen Zweifel aufkommen. Als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, war Benjamin noch ein kleines Kind gewesen.
Der Bauernjunge schien hingegen keine Ahnung zu haben, wen er vor sich hatte. Benjamin hatte den unverkennbaren Zungenschlag der Kölner, der sich bei Seyfrid schon vor Jahren mit dem der Eifel und später mit dem Singsang der Italiener gemischt hatte. Heute würde wohl niemand mehr den Kölner bei Seyfrid heraushören.
»Sei ebenfalls gegrüßt, mein Freund!«, sagte Seyfrid. »Sage mir, ist der Bauer anwesend?«
»Du stehst vor ihm«, erklärte Benjamin heiter.
Seyfrid war überrascht. Was war mit Rupert geschehen? »Du bist noch so jung.«
Benjamins Miene wurde ernst. »Mein Vater starb letztes Jahr, nachdem er sich an einer Sense geschnitten hatte. Innerhalb weniger Tage ging es mit ihm zu Ende. Seitdem führe ich den Hof.«
Eine Vergiftung des Blutes, folgerte der Medicus in Seyfrid unwillkürlich. Solche Wunden führten häufig zu einem qualvollen Tod, wie er ihn im Heiligen Land beinahe selbst erlebt hätte. Auch seine von Schwerthieben verursachten Wunden hatten sich damals entzündet, weil sie nicht rechtzeitig gereinigt und verbunden worden waren. Nur die Heilkunst von Abdul Al-Aziz hatte ihn gerettet.
»Sei meines Beileids gewiss! Aber sag mir, weshalb die prächtige Burg hinter dem Hügel verlassen ist. Ich klopfte an, um ein Nachtlager zu erbitten, doch niemand scheint mehr dort zu leben.«
Der Gesichtsausdruck des jungen Bauern verdüsterte sich noch weiter. »Es ist eine traurige Geschichte, edler Herr. Auf der Burg residierte der Ritter Johann von Viskenich, mein Lehnsherr. Er war stets gütig und gerecht zu uns, doch im letzten Sommer klagte ihn ein Blutgericht des Mordes an einem reichen Mann aus Köln an und ließ ihn durch den Henker hinrichten.« Er schluckte schwer, als hätte er einen Kloß ihm Hals. »Ich kann es bis heute nicht glauben, er war so ein aufrechter und gottesfürchtiger Ritter.«
Auch Seyfrid fiel das Sprechen schwer, doch er riss sich zusammen. »Wieso hat er den Mann getötet?«
Benjamin schüttelte den Kopf. »Er hat es bis zu seinem Tod geleugnet. Er hat geschworen, er sei unschuldig.«
Der Zorn wühlte in Seyfrid. »Und dennoch hat man ihn hingerichtet? Warum?«
»Ich bin nur ein einfacher Mann, edler Herr. Ich verstehe es nicht.«
»Was ist mit der Familie des Ritters? Wieso sind sie nicht mehr hier?«
»Der Ritter lebte allein mit seiner Tochter Isolde und dem Gesinde auf der Burg. Seine Frau Lucretia starb vor langer Zeit, und sein Sohn Seyfrid zog mit Kaiser Barbarossa ins Heilige Land. Johann von Viskenich wartete Jahre vergeblich auf Nachricht von ihm. Viele sagen, dass er wohl im Heiligen Land für den Glauben an Christus gefallen sei. Doch Johann von Viskenich war überzeugt, dass sein Sohn noch lebt.«
Unwillkürlich hatte Seyfrid den Blick abgewendet, aus Angst, er würde bei der Erwähnung seiner Person doch noch erkannt werden. »Was ist mit seiner Tochter?«
»Das Blutgericht verhängte die Acht über das Geschlecht derer von Viskenich. Isolde war die Letzte ihrer Familie und hatte große Angst, getötet zu werden. Sie verschwand am Tag der Hinrichtung ihres Vaters und wurde nie wieder gesehen.«
Auch wenn Seyfrid es geahnt hatte, traf ihn die Nachricht wie ein Schock. War sie geflohen, oder hatte jemand sie umgebracht? Allmächtiger, seine kleine Schwester war doch erst sechzehn! Er fühlte eine eisige Kälte in sich aufsteigen. »Wo sind die Wachen und das Gesinde hin?«
»Sie gingen alle fort, nachdem unser Herr zum Tode verurteilt worden war und im Frankenturm einsaß. Als Letzter verließ der Kastellan Eckard über Nacht die Burg, ich weiß nicht, wohin.«
»Was passierte mit der Rüstung und den Waffen des Ritters?«
Benjamin schien zusehends verunsichert. »Das ist eine merkwürdige Sache, edler Herr. An dem Tag der Hinrichtung verschwanden die Rüstung, die Lanze und der Schild, sogar die Turnierdecke und der Sattel des Schlachtrosses waren fort.« Er blickte furchtsam in Richtung der Burg. »Man sagt, dass nachts der Geist des Ritters von Viskenich wiederkehrt, um alle zu bestrafen, die es wagen, seine Burg zu betreten. Niemand traut sich mehr hinein.«
Seyfrid zog die Augenbrauen zusammen. »Hast du je einen Geist dort gesehen?«
Benjamin bekreuzigte sich rasch. »Nein, ich würde es nicht wagen, die Burg zu betreten!«
»Dann solltest du auch nicht leichtfertig solche Geschichten erzählen!«
»Verzeih, es war nicht meine Absicht, dich zu verärgern.«
»Wer kümmert sich jetzt um das Land?«
»Das Land gehört dem Erzbischof von Köln. Es ist zwar schon vor drei Generationen dem Geschlecht derer von Viskenich zum Lehen gegeben worden, aber nun verwaltet es Erzbischof Adolf von Altena wieder. Ich habe jedoch weder ihn noch sonst einen seiner Pfaffen je hier gesehen. So muss ich den Zehnt nun in Köln und nicht mehr auf der Burg abliefern.«
»Wirst du das Land weiter bestellen dürfen?«, fragte Seyfrid.
Es war keineswegs gesichert, dass die Familie von Benjamin auf der Scholle bleiben würde. Auch wenn sie keine Leibeigenen waren, hatten sie als Bauern dennoch keinerlei Rechte. Dass sie schon seit Generationen hier ansässig waren, spielte keine Rolle, ein neuer Besitzer konnte sie jederzeit seines Landes verweisen und einen anderen Bauern zur Bestellung der Äcker einsetzen.
Benjamin machte ein bekümmertes Gesicht. »Ich hoffe es innig, sonst wüsste ich nicht, wo wir hingehen sollten.«
Seyfrid griff in den Lederbeutel an seinem Gürtel, zog eine Münze heraus und warf sie Benjamin zu. »Hab dank für deine Auskunft!«
Dem jungen Bauern klappte die Kinnlade herunter. »Aber das kann ich nicht annehmen! So viel Geld!«
Seyfrid wusste, dass die Bauernfamilie davon einige Wochen gut leben würde. In Anbetracht der ungewissen Zukunft war es das Mindeste, was er für sie tun konnte. »Ich erkenne einen guten Menschen, der ein gottgefälliges Leben führt. Wer hätte es mehr verdient als du?«
Er wendete sein Pferd und gab ihm die Sporen, bevor Benjamin etwas erwidern konnte. Im weiten Bogen ritt er zurück zur Burg, kletterte erneut über die Mauer und entriegelte von innen das Tor. Dann führte er Giacomo in den verwaisten Stall und versorgte ihn dort mit den wenigen Heuresten, die er noch vorfand.
Im Haupthaus zündete Seyfrid ein Feuer im Kamin an, errichtete davor sein Lager und legte sich nieder. Obwohl er müde war, fand er lange keinen Schlaf. War der Geist seines Vaters tatsächlich zurückgekehrt, um über seine Burg zu wachen? Falls es so war, würde er seinen Sohn wiedererkennen und verschonen? Seyfrid vertraute auf die Einsicht seines Vaters, dass sein Sohn gekommen war, um ihn zu rächen. Er erhob sich noch einmal und legte sein Schwert neben sich, auch wenn er damit wohl nichts gegen einen Geist würde ausrichten können.
Vom morgigen Tag würde viel abhängen. Dann würde sich zeigen, ob seine Tarnung als Ulrich von Schwarzenberg funktionierte.
***
Nur wenige Kilometer von Seyfrid entfernt saß ein Mann in einem zerlumpten Mantel an eine Hauswand gelehnt. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und hielt den Kopf gesenkt. Er fiel nicht weiter auf, in Köln gab es genügend Tagelöhner und Bettler, die kein Dach über dem Kopf hatten. Sankt Pantaleon war in Sichtweite, und viele von ihnen suchten nahe der großen Kirche nachts Schutz, in der Hoffnung, dass Gott seine hütende Hand über sie halten würde.
Bei der Kälte des nahenden Winters wickelten sich alle Menschen, die jetzt noch draußen waren, fest in ihre Mäntel. Doch der Mann hatte dies nicht wegen der Temperaturen getan, sondern um unerkannt zu bleiben. Einem aufmerksamen Betrachter wären vielleicht die teuren Schuhe aus Hirschleder aufgefallen, deren Spitzen unter dem Mantel hervorlugten.
Der Mann tat so, als würde er mit halb geschlossenen Lidern vor sich hin dösen, in Wirklichkeit hielt er das Wirtshaus schräg gegenüber genau im Blick. Er durfte nicht versagen, sonst konnte der ganze Plan in Gefahr geraten. Auch sein Leben wäre im Fall des Scheiterns verwirkt. Dabei hätte er nicht einmal sagen können, ob er eher von seinen Feinden oder seinen Verbündeten getötet werden würde.
Vor einer Stunde hatte er die Nachricht bekommen, dass der Kastellan Eckard in dem Wirtshaus aufgetaucht sei. Endlich! Er suchte schon seit über zwei Monaten heimlich nach ihm. Ein zwielichtiger Kerl namens Hermann, der seinen Lebensunterhalt hauptsächlich mit Diebstählen bestritt, hatte ihm schließlich erzählt, dass er den Kastellan ein paar Tage zuvor in diesem Wirtshaus gesehen hätte.
Hermann kannte Eckard, weil er eine Weile auf den Ländereien des Ritters von Viskenich als Tagelöhner gearbeitet hatte. Er war jedoch beim Stehlen erwischt und von Eckard nach einer gehörigen Tracht Prügel aus der Burg gejagt worden. Seitdem schlug Hermann sich in Köln mehr schlecht als recht durch. Er hatte seine persönliche Rechnung mit dem Kastellan zu begleichen und sich umso mehr über den Auftrag gefreut, gegen eine Belohnung nach ihm zu suchen. Jetzt glaubte Hermann, Eckard im Wirtshaus erkannt zu haben.
»Bist du dir sicher?«, hatte er Hermann gefragt.
»Natürlich. Ich erkenne den alten Halunken, selbst wenn er jetzt einen Bart trägt und sich ärmlich kleidet. Aber sei versichert, dass er niemand anderes als der Kastellan der Burg Viskenich ist.«
Er gab Hermann den versprochenen Lohn, ermahnte ihn aber zu absolutem Stillschweigen. »Solltest du jemals ein Wort darüber verlieren, werde ich dafür sorgen, dass du nie wieder mit jemandem sprechen kannst!«
Hermann war blass geworden und versicherte stammelnd, dass man sich auf ihn verlassen könne. Dann hatte er Hermann den verschlissenen Mantel abgenommen, um sich zu tarnen, und war zum Wirtshaus geeilt. Unauffällig hatte er sich in der Schankstube umgesehen. Der Gesuchte saß allein mit einem Humpen Bier am Ende eines Tisches. Trotz des Barts, der schlichten Haube und der mehrfach geflickten Kleidung war es ohne Zweifel Eckard, die hellen Augen und die schiefe Nase konnte auch der üppig sprießende Haarwuchs in seinem Gesicht nicht verdecken. Ohne Hast hatte der Mann das Wirtshaus verlassen und seinen Posten gegenüber bezogen.
Niemand wusste, was aus der Tochter des Ritters von Viskenich geworden war, der legitimen Erbin der Ländereien. Niemand, bis auf Eckard. Der alte Kastellan hatte die junge Frau während der Haft des Ritters von Viskenich behütet und geschützt. Gewiss hatte er Isolde von Viskenich nach der Hinrichtung ihres Vaters irgendwo versteckt.
Zwar war die Familie von Viskenich für geächtet erklärt worden, aber Johann von Viskenich war ein treuer Gefolgsmann von Kaiser Heinrich gewesen. Der Monarch hatte sich über die Hinrichtung des Ritters sehr ungehalten gezeigt, und wenn Isolde den Kaiser um Gnade anflehen würde, konnte er das Urteil aufheben und ihr den Besitz wieder zusprechen. So weit darf es nicht kommen, dachte der Mann grimmig.
Die Nacht hatte sich längst über Köln gesenkt, als die Tür des Wirtshauses sich öffnete. Der Mann machte sich bereit, doch es kamen nur zwei sichtlich betrunkene junge Kerle heraus, die grölend die Straße entlangtorkelten. Er entspannte sich wieder und hauchte in seine kalten Hände, bevor er vorsichtig den Dolch unter seinem Mantel zurechtrückte. Kurze Zeit später ging die Tür erneut auf, und diesmal trat Eckard heraus. Der Kastellan blickte sich misstrauisch um, übersah jedoch seinen Jäger im Dunkeln.
Dein ganzer Mummenschanz ist vergeblich, dachte der Mann höhnisch.
Eckard wandte sich nach rechts, und der Verfolger erhob sich. Er ließ ihm gut zwanzig Schritte Vorsprung und bewegte sich lautlos. Hinter der nächsten Straßenecke musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass Eckard einen Stall betreten hatte, wo Pferde gegen einen Obolus für eine Weile untergestellt werden konnten. Damit hatte er nicht gerechnet: Eckard hatte sich gar nicht irgendwo in der Stadt versteckt, sondern einen Unterschlupf außerhalb gewählt.
Während der Kastellan noch mit dem Stallmeister sprach und für die Auslösung seines Pferds bezahlte, fällte sein Verfolger rasch eine Entscheidung. Die nächstgelegene Möglichkeit, von hier aus die Stadt zu verlassen, war, dem Lauf des Blaubachs zu folgen. Der Mann setzte darauf, dass Eckard dort den Stadtwall passieren würde, der sich rund um Köln zog.
Er hetzte die Straße hinab, fiel kurz vor dem Stadtwall in einen gemächlichen Gang, um die Wachen nicht auf sich aufmerksam zu machen, und passierte ungehindert das Tor im mächtigen Wall. Kaum außer Sichtweite der Wachen, rannte er erneut los. Zunächst lagen entlang des Wegs noch vereinzelte Häuser, dann zog er sich entlang von Obst- und Gemüsegärten hinaus durch die Felder.
Außer dem Mann im zerlumpten Mantel war zu so später Stunde keine Menschenseele mehr unterwegs. Ein paar kleine Seitenwege zweigten von der großen Straße ab, aber er setzte darauf, dass Eckard nicht auf schmale Trampelpfade abbiegen würde. Kurz darauf vernahm er Hufgetrappel hinter sich und wusste, dass er richtig spekuliert hatte.
Der Mann blieb stehen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dann postierte er sich in gekrümmter Haltung mitten auf dem Weg und achtete darauf, dass die Kapuze sein Gesicht verdeckte. Der Reiter sah die dunkle Gestalt vor sich erst spät und konnte gerade noch sein Pferd zügeln.
»Heda! Ich hätte dich in der Dunkelheit fast umgeritten. Was ist mit dir?«
Der Mann stöhnte laut auf. »Ich bitte dich, hilf mir! Ich bin verletzt.« Dabei machte er ein paar wankende Schritte auf den Reiter zu, ohne den Kopf zu heben.
»Wo bist du verletzt?«
»Nun … hier.« Der Mann sprang vor, packte den Reiter blitzschnell und riss ihn aus dem Sattel. Mit einem Aufschrei schlug der alte Mann hart auf dem Boden auf. Im nächsten Moment kniete der Angreifer über ihm und hielt ihm einen Dolch an die Kehle. »Wo versteckt sich Isolde von Viskenich?«, zischte er.
»Bist du von Sinnen? Ich kenne niemanden dieses Namens!«
»Lüg mich nicht an, Eckard! Deine Tarnung ist nicht so gut, wie du glaubst.«
»Du musst mich verwechseln!«, beteuerte der am Boden Liegende.
»Strapazier nicht meine Geduld! Sag mir, wo Isolde ist, sonst stirbst du!«
»Warum vergreifst du dich an einem armen alten Mann, der sich nicht wehren kann, und stellst ihm sinnlose Fragen?«
Der Angreifer streifte seine Kapuze zurück. »Erkennst du mich, Eckard? Dann weißt du, dass dir deine Posse nichts nützt.«
Er näherte sein Gesicht dem des Opfers, doch dadurch entging ihm, dass Eckards Hand sich langsam unter den Mantel schob.
»Ich bin der Getreue! Ich werde so lange Teile aus deinem Körper schneiden, bis du mir den Ort nennst, wo –«
Der alte Mann riss den Arm hoch, einen Dolch in der Faust. Doch sein Gegner konnte den Angriff mit seinem Unterarm abblocken, musste dafür jedoch mit dem Oberkörper zurückweichen. Das nutzte Eckard aus, packte mit seiner Linken das Handgelenk des Angreifers und drückte dessen Messer von seinem Hals weg. »Das wirst du nie erfahren, Verräter!«, schrie Eckard.
Sie rangen erbittert, doch an Körperkraft war der Mann, der sich der »Getreue« nannte, Eckard überlegen. Mit aller Gewalt versuchte der alte Kastellan sich freizuwinden, bis sein linker Arm plötzlich ermüdet einknickte. Das Messer seines Gegners fuhr schlagartig nieder. Die Klinge traf Eckard genau ins Herz, er riss die Augen auf, und sein ganzer Körper erschlaffte. Dann wich alles Leben aus ihm.
Entsetzt starrte der Getreue auf die Leiche. »Nein!«, brüllte er schließlich und sprang auf. »Du Hundsfott! Du dummer alter Narr!« Er trat ihm in die Seite, doch Eckard rührte sich nicht mehr. Es war zu spät, Eckard nahm das Geheimnis über Isolde von Viskenich mit ins Grab. Der Getreue stieß vor Zorn einen fürchterlichen Fluch aus, er war so nah dran gewesen.
Langsam kam er wieder zur Besinnung und sah sich gehetzt um, konnte jedoch niemanden entdecken. Er packte die Leiche, schleifte sie hinter einen Baum und ließ sie im Gras liegen. Das Pferd war geflohen, und so hoffte der Getreue, dass der Tote erst am nächsten Tag gefunden würde. Bis dahin war er längst in Sicherheit, und niemand würde ihn mit dem Mord an einem unbekannten Mann in Verbindung bringen.
Nur einen Augenblick später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt.