3. DEZEMBER 1193
Seyfrid war noch vor dem Morgengrauen aufgewacht. Kein Geist hatte sich in der Nacht blicken lassen. Er fand einen Rest Brot in der Tasche und kaute darauf herum, während er Giacomo sattelte. Bei Sonnenaufgang ritt er los, weil er den Anblick der Stadt kaum erwarten konnte.
Je größer die Silhouette Kölns wurde, desto schneller schlug sein Herz. Es hatte sich in seiner Abwesenheit viel getan. Zwar hatte er noch als Kind mitbekommen, dass die Kölner Bürgerschaft beschlossen hatte, eine weitere, noch gewaltigere Befestigungsmauer aufzubauen, um damit das Stadtgebiet mehr als zu verdoppeln, aber was er nun erblickte, verschlug ihm fast den Atem.
Dass die Stadt damals gegen den ausdrücklichen Befehl des Erzbischofs Philipp handelte, hatte sein Vater ihm erzählt. Aber es hatte die Kölner herzlich wenig interessiert, denn schließlich war es der Erzbischof selbst, der sie zu dem Schritt veranlasst hatte. Während seines langjährigen Kriegs gegen Heinrich den Löwen, dem Herzog von Sachsen, waren einfach zu oft marodierende Truppen durch das Rheinland gezogen. Am schlimmsten aber hatten die Brabanter gewütet, die ausgerechnet im Sold des Erzbischofs standen. Mit dem Bau der riesigen Stadtmauer wollten die Kölner ihr Hab und Gut schützen – und ganz nebenbei auch ihr Ansehen im restlichen Reich vergrößern.
Offenbar wuchs Köln stetig weiter. Viele Menschen waren schon in den Jahrzehnten zuvor nach Köln gekommen, um hier ihr Glück zu versuchen, hatte sein Vater ihm einst erzählt, und so entstanden immer mehr Häuser, Stifte und Gärten. Köln war schon vor tausend Jahren zur größten und reichsten Stadt Deutschlands aufgestiegen, und die Aufsässigkeit der Bürger gegenüber dem Erzbischof, zu dessen Grundbesitz die Stadt gehörte, war berüchtigt.
Neue Mauern und Türme sollten auf dem riesigen Stadtwall errichtet werden, der in einem weiten Bogen um Köln verlief. Bis sie jedoch fertiggestellt sein würden, dürften noch viele Jahre ins Land gehen, dachte Seyfrid. Immerhin konnte man schon erahnen, wie die Mauer einmal aussehen würde. Die Befestigungsanlage sollte künftig zwölf gewaltige Torburgen aufweisen, die jeder passieren musste, der in die Stadt wollte.
Es war kein Zufall, dass es ausgerechnet ein Dutzend waren, denn in Jerusalem gab es ebenso viele Tore. Die Kölner Bürger wollten mit der gleichen Anzahl ihren Anspruch auf die Heiligkeit ihrer Heimatstadt unterstreichen. Seyfrid gefiel die Vorstellung. Er hatte Jerusalem gesehen, und die mächtigen Stadttore, wenn auch schon alt und verwittert, hatten ihn sehr beeindruckt.
Die Kirchtürme und großen Häuser überragten die Zinnen der Kölner Stadtmauer. Alles wurde jedoch überstrahlt vom herrlichen Dom. In seinem reinen Weiß mit den himmelwärts strebenden Türmen stellte er die zahlreichen anderen Gotteshäuser der Stadt in den Schatten. Ein Bauwerk, auf das die Kölner zu Recht stolz waren. Freude und Furcht übermannten Seyfrid zur selben Zeit. Er war wieder in seinem geliebten Köln.
Und doch war er hier, um Rache zu nehmen an den Mächtigen dieser Stadt. Bei dem Gedanken lief ihm ein eiskalter Schauer den Rücken herab. Wenn wirklich die Bruderschaft der Richerzeche dahintersteckte, würde er sich mit den wohlhabendsten Männern Kölns anlegen. Nicht nur bildeten fast ausschließlich Mitglieder der Richerzeche den Rat der Stadt, sie stellten auch noch jedes Jahr die beiden Bürgermeister.
Seyfrid hatte sich das Hirn zermartert, warum jemand den Salzhändler Gottfried Hackenbroich umgebracht haben könnte, um es dann seinem Vater anzuhängen. Ganze Nächte hatte er darüber wach gelegen und war letztlich zu dem Schluss gekommen, dass jemand sehr Mächtiges verantwortlich sein musste. Die Intrige gegen seinen Vater war zu aufwendig, als dass sie sich ein einfacher Mann hätte ausdenken, geschweige denn umsetzen können. Nein, es musste jemand sein, der Einfluss in Köln hatte.
Es gab jedoch einen Menschen außerhalb der Richerzeche, der in Frage kam, und allein der Gedanke flößte Seyfrid noch größere Furcht ein: der Erzbischof von Köln, Adolf von Altena.
Seyfrid zog seine Kapuze über den Kopf und trieb Giacomo zum Trab an. Jetzt gab es für ihn kein Zurück mehr. Er hatte am Grab seiner Mutter einen Eid geleistet und würde eher sterben, als ihn zu brechen.
Von der Anhöhe der Burg Viskenich hatte der Ritt nach Köln kaum mehr als eine Stunde gedauert. Seyfrid näherte sich dem aufgeschütteten Wall, wo mit dem Bau der neuen Stadtmauer begonnen worden war, und lenkte sein Pferd gemächlich den breiten Weg entlang, der zur Kirche Sankt Pantaleon innerhalb des Walls führte.
Eine mächtige Torburg entstand dort, wo der Weg auf den Wall traf. Große Steinblöcke wurden mit Seilwinden hochgezogen. Seyfrid war sich sicher: Wenn die Torburg erst einmal fertiggestellt wäre, würde kein Angreifer sie einnehmen können. Am Fuße der Mauer klaffte ein großer Graben. Seyfrid schätze ihn auf gut zwanzig Schritte Breite, und selbst wenn darin zwei Mann übereinanderstünden, würden sie nicht an den Rand reichen können. Er hatte im Heiligen Land erlebt, wie hoffnungslos es war, gegen ein solches Bollwerk anzurennen, und wie viele Tote sich in den Gräben stapeln konnten.
Eine Menschenmenge hatte sich einige hundert Schritte vor dem Tor versammelt. Bauern, Knechte und Mägde standen zusammen und starrten seltsam beklommen auf eine Wiese. Einige murmelten aufgeregt, andere gestikulierten vorsichtig, aber niemand schien sich näher heranzutrauen. Seyfrid zügelte neugierig sein Pferd, stieg ab und drängte sich durch die Leute.
Im Gras unter einem Baum lag ein Mann und rührte sich nicht. Sein Hemd war von geronnenem Blut durchtränkt, und Seyfrid hegte keinen Zweifel, dass der Mann tot war, getötet mit einem Stich in die Brust. Vermutlich von Räubern, war Seyfrids erster Gedanken, und er bekreuzigte sich, wie es sich für einen Christen gehörte. Dann erstarrte er in der Bewegung. Der Mann hatte einen struppigen Bart, seine Kleidung war einfach und abgetragen, doch Seyfrid erkannte ihn wieder: Es war Eckard, der Kastellan seines Vaters.
Seyfrid fühlte, wie eine eiskalte Hand nach seinem Herz griff. Ein Bauer, der neben ihm stand, bemerkte, wie blass er geworden war. »Noch nie einen Toten gesehen?«, fragte er. »Kein schöner Anblick für einen edlen Herrn, was?«
Seyfrid drehte sich wortlos um und hastete durch die Menschenmenge zu seinem Pferd. Er klammerte sich an das Zaumzeug, und die Gedanken schossen ihm wie Pfeile durch den Kopf. Eckard wurde ermordet! Warum jetzt, kurz bevor er in Köln eingetroffen war? Was war mit Isolde? War sie auch tot, oder hatte Eckard sie in Sicherheit gebracht? Warum war Eckard in abgenutzter Kleidung und mit einem Bart unterwegs gewesen?
Seyfrid hätte nicht sagen können, wie lange er unbeweglich neben seinem Pferd verharrt hatte, aber als die Stadtwachen an ihm vorbeiliefen, kam wieder Bewegung in ihn. Angeführt wurden die Wachen von einem vollbärtigen Mann mit kräftiger Statur, der unter einem blutroten Mantel einen rot und weiß gestreiften Überrock trug. Seyfrid wusste, dass dies die traditionelle Tracht der Büttel war.
»Auseinander, Volk! Macht Platz für Wolfram Pütz, den Büttel von Köln!«, rief einer der Wachsoldaten.
Die Menge teilte sich unterwürfig, und die Wachen schritten hindurch. Der Büttel hielt drei Schritte von der Leiche entfernt an und begutachtete sie mit zusammengezogenen Augenbrauen. Schließlich drehte er sich um und rief mit tiefer Stimme: »Kennt jemand den toten Mann?«
Alle sahen verlegen zu Boden oder schüttelten den Kopf. Der Büttel ließ seinen Blick über die Menge schweifen, in der Hoffnung, dass sich doch noch jemand melden würde.
Es erschien Seyfrid geraten, sich zu entfernen. Niemand durfte ihn mit Eckard in Verbindung bringen. Er schwang sich auf sein Pferd und ritt weiter auf die Stadt zu, ohne sich umzusehen.
Allmählich konnte er wieder einen klaren Gedanken fassen. Eckard war nicht zufällig Opfer eines Überfalls geworden, dessen war er sich sicher. Jemand war hinter dem alten Kastellan her gewesen, deshalb trug er die Verkleidung. Doch sie war nicht gut genug gewesen, sein Mörder hatte ihn dennoch enttarnt. Die Frage war, ob der Mörder auch wusste, wo er Isolde finden konnte. Falls sie noch lebte.
Leise murmelte Seyfrid ein Gebet: »Möge der Herr in seiner unendlichen Güte den armen Eckard in sein Himmelreich aufnehmen und seine schützende Hand über Isolde halten!«
Die Wachen am Stadtwall hatten bereits von der Leiche gehört und starrten neugierig in die Richtung, sodass sie Seyfrid gar nicht beachteten. Hinter dem halb fertigen Tor passierte er einige Häuser und Gärten, in denen früher im Sommer die herrlichsten Früchte gehangen hatten, wie Seyfrid sich noch erinnerte. Etliche Stifte waren von reichen Kölner Bürgern, aber auch vermögenden Witwen gegründet worden, hatte ihm damals sein Vater erzählt. Viele der dort lebenden Männer oder Frauen gehörten keinem Orden an und unterwarfen sich entsprechend auch keinem Gelübde, versuchten vielmehr, ein gottgefälliges Leben in Andacht zu führen. Einige legten nicht nur Obst- und Gemüsegärten an, sondern pflegten auch Kranke. Seyfrid hatte schon auf seiner langen Reise nach Köln überlegt, ob er dort seine Dienste anbieten sollte, denn schließlich musste er sich als Medicus einen Namen machen und Geld verdienen.
Bald erreichte Seyfrid die alte Stadtmauer, die Köln schon seit Jahrhunderten vor Angriffen schützte. Ein Strom von Menschen ergoss sich durch das Tor, vor dem zwei mit Lanzen bewaffnete Wachen standen. Sie beäugten kritisch jeden Neuankömmling. Seyfrid versuchte, sie nicht zu beachten, und glaubte dennoch zu spüren, wie sich ihre Blicke in ihn bohrten. Unwillkürlich hielt er den Atem an, bis er das Tor unbehelligt passiert hatte. Erleichtert holte er tief Luft.
Vor ihm reihten sich schmale Häuser eng aneinander, und das Gewimmel in den Gassen war überwältigend. Viel Volk war an diesem kalten, aber sonnigen Dezembertag unterwegs. Teuer gekleidete Bürger mit pelzbesetzten Mützen und langen Mänteln ebenso wie Handwerker in zweckdienlichen Leinenkleidern und trist gewandetes Gesinde, auch Bauern und Tagelöhner mischten sich unter die Menge.
Gleich hinter dem alten Stadttor hingen die Bettler wie Kletten an Seyfrid, die bei einem Reiter stets viel Geld witterten. Er versuchte, sie lange genug zu ignorieren, um sie loszuwerden, die ganz Hartnäckigen vertrieb er mit einigen harschen Worten. Zwar war Seyfrid durchaus mildtätig, wie es ihm seine Ehre als Ritter gebot, aber er musste sein Geld zusammenhalten, denn er wusste nicht, wie lange es noch reichen würde.
Es kam ihm vor, als spotte ihm das Schicksal. Zwar war er ein Ritter und Medicus, aber ohne jegliche Einkünfte. Die Liegenschaften seines Vaters waren vom Erzbischof der Stadt Köln konfisziert worden, und als Arzt hatte er bis heute noch nicht gegen Entgelt gearbeitet. Letzteres musste sich bald ändern.
Seine größte Sorge galt seiner Tarnung. Würde Seyfrid von Viskenich durch die Maske Ulrich von Schwarzenbergs schimmern? Er hatte Köln das letzte Mal als Jugendlicher gesehen und war seitdem noch ein ganzes Stück gewachsen, seine Haut war von der südlichen Sonne gebräunt, die weichen Rundungen der Kindheit waren den ausgeprägten Gesichtszügen eines Erwachsenen gewichen. Seyfrid hoffte, dass dies in Verbindung mit einem anderen Namen reichen würde, um alle zu täuschen.
Er gab Giacomo bei einem Stall ab, der das Pferd versorgen würde. Allerdings kam ihm der Preis reichlich hoch vor für einen Unterstand und etwas Heu. »Futter ist teuer um diese Jahreszeit, Herr«, erklärte der Besitzer, ein von Falten zerfurchter Kerl mit wirren Haaren, und setzte ein breites Grinsen auf. Dann brüllte er einen Stallburschen an, er solle mit dem Pferd des edlen Herrn sorgfältig umgehen.
Seyfrid musste unwillkürlich lächeln. Geschäftstüchtig sind sie hier immer noch, dachte er. An die Preise in Köln musste er sich erst gewöhnen, die waren in den letzten Jahren eindeutig gestiegen.
Als Seyfrid aus dem Stall trat, sog er genüsslich die kalte Luft ein und blickte sich um. Er war angekommen an dem Ort, den er gleichzeitig liebte und fürchtete. Dafür hatte er einen weiten und gefährlichen Weg zurücklegen müssen, doch Gott hatte seine schützende Hand über ihn gehalten.
Sankt Georg lag nicht weit von hier, und Seyfrid lenkte seine Schritte in Richtung des Kirchturms, der hinter den Häusern aufragte. Er drückte die Holztür auf und betrat das stille Gotteshaus. Es war fast leer, bis auf zwei Pilger, die im Gebet versunken waren.
Andächtig durchschritt er das Längsschiff mit den teils uralten Säulen aus Bauten der Römerzeit und kniete vor dem Altar nieder, hinter dem ein großes Kreuz an der Wand hing. Minutenlang blieb er auf seinen Knien und dankte Gott für seine Gnade. Dann betete er für das Seelenheil Eckards und bat auch inbrünstig um Vergebung seiner eigenen Sünden. Schließlich erflehte er noch Kraft für die Aufgabe, die vor ihm lag. Seyfrid wusste nicht, ob Gott ihn erhört hatte, aber er fühlte sich besser, als er sich erhob und die Kirche verließ.
Ihm war kalt, und er sehnte sich nach einem heißen Bad und einer warmen Mahlzeit. Seyfrid erinnerte sich noch lebhaft an das Badehaus neben dem Rheingassentor. Es war bei den Bürgern der Stadt beliebt und stets gut besucht gewesen. Er hatte es als Junge genossen, in dem großen Zuber zu liegen, in den Bademägde ständig heißes Wasser nachkippten. Es war ein geselliges Treffen, bei dem den nebeneinander in Holzzubern badenden Männern und Frauen auch vorzügliche Speisen kredenzt wurden. Bei dem Gedanken lief Seyfrid das Wasser im Mund zusammen, denn er hatte seit gestern nichts Richtiges mehr gegessen. Er würde das Badehaus jetzt aufsuchen.
Seyfrid war sich der Gefahr bewusst. Würde der Bader mit Namen Clemens Weyeroth ihn nach all den Jahren wiedererkennen, so er denn das Badehaus noch betrieb? Auch einige alte Bekannte seines Vaters konnten sich dort aufhalten, um sich den Freuden des Badens hinzugeben. Doch Seyfrid wollte nicht allen aus dem Weg gehen, die ihn früher gekannt hatten. Schon auf seiner Reise hatte er entschieden, dass er gleich zu Beginn herausfinden musste, ob seine Tarnung als Ulrich von Schwarzenberg Bestand haben würde.
Er ging in Richtung des Rheingassentors, eines der Tore, die zum Hafen führten. Äußerlich hatte sich das Badehaus nicht verändert, und mit pochendem Herzen trat er ein. Nach der Kälte draußen empfing ihn die angenehme Wärme der dampfenden Badezuber. Eine junge Frau mit hervorstehenden Schneidezähnen bat ihn, sich zu entkleiden und seine Sachen in ihrer Obhut zu lassen.
»Wünschst du nur zu baden oder vielleicht auch ein Gebrechen zu lindern oder einen Haarschnitt?«, fragte sie höflich.
»Baden reicht mir heute«, entgegnete Seyfrid knapp, während er sich seines Mantels entledigte. Er zog den Gürtel samt dem kurzen Schwert aus, Ober- und Untergewand, die Halbstiefel und die langen Strümpfe. Als er ihr seine Kleidung und die Satteltaschen übergab, reichte er ihr zusätzlich eine Münze. »Gib gut darauf acht!«, ermahnte er sie. Schon früher hatten manche der Badergehilfen nicht die Finger aus den Taschen der Gäste lassen können. Dabei hatte das Badehaus am Rheingassentor noch als sehr anständig gegolten.
Clemens Weyeroth verstand sich wie die meisten Bader auch darauf, Gebrechen und Verletzungen zu heilen. Vor allem aber nahm er Aderlässe vor und setzte dafür Schröpfköpfe. Seyfrid erinnerte sich noch, wie Weyeroth einst seinen Vater Johann so behandelt hatte. Mit großen Augen hatte Seyfrid beobachtet, wie der Bader die erhitzten Glaskugeln auf den Rücken seines Vaters setzte. Durch die vorher leicht angeritzte Haut trat Blut aus und sammelte sich in den Kugeln. Tatsächlich war es seinem Vater am nächsten Tag schon besser gegangen. Dank seiner medizinischen Ausbildung wusste Seyfrid heute, dass es dem Körper guttat, ab und an durch den Aderlass das Blut aufzufrischen.
Weyeroth war wirklich gut darin gewesen, umso schleierhafter war es Seyfrid, warum der Beruf des Baders als »unehrenhaft« galt. Wenn ein Medicus dieselbe Behandlung empfahl, wurde er dafür bewundert.
Er warf der jungen Frau einen letzten warnenden Blick zu, dann begab er sich in die Badestube. Solange er keine feste Bleibe hatte, musste er auf seine Habseligkeiten gut aufpassen. Er besaß einige wertvolle medizinische Instrumente, die ihm Roger Frugardi zum Abschied geschenkt hatte, aber auch Medikamente, Kräuter und Salben, die er für seine Arbeit brauchte.
Es war Mittag und ordentlich zu tun. Fast sämtliche Badezuber waren besetzt: Ehepaare, die sich bei der Kälte ein aufwärmendes Bad gönnten, einige einzelne Herren, denen der Sinn vermutlich nicht nur nach einer Körperreinigung stand. Manche Zuber waren mit Vorhängen abgetrennt, und selbst wenn keine verräterischen Geräusche von dort hervordrangen, wusste Seyfrid, dass dort auch Dienste angeboten wurden, die nichts mit Waschen zu tun hatten.
Eine weitere junge Frau in einem einfachen Kleid, das um die Taille betont eng war, näherte sich Seyfrid. Ihre blonden Haare lugten unter der Haube hervor, ihr rundliches Gesicht war voller Sommersprossen. »Willkommen, edler Herr!« Sie lächelte fröhlich und geleitete ihn zu einem freien Zuber fast am Ende der Stube.
Das Wasser darin war nur lauwarm, und die junge Frau versprach, sofort für Abhilfe zu sorgen. Seyfrid ließ sich in den Zuber gleiten. Er seufzte zufrieden und schloss für einen Moment die Augen, um die Wärme zu genießen. Ein siedend heißer Schwall Wasser ließ ihn jäh hochschrecken.
»Du wolltest doch, dass dir heiß wird«, sagte die Blonde schelmisch und schwenkte den geleerten Eimer locker im Handgelenk. »Noch mehr?«
»Das ist heiß genug!«
Sie verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Bist du sicher?«
Die junge Frau kniete sich neben den Zuber und glitt mit der Hand über die Oberfläche. »Ich könnte dir noch weiter einheizen«, sagte sie leise und sah ihm dabei direkt in die Augen.
Er spürte ihre Finger an seinem Oberschenkel. Offensichtlich arbeitete sie nicht nur als Bademagd. »Nein, mehr erwarte ich nicht«, sagte Seyfrid freundlich, aber bestimmt.
Mit einem Schmollmund zog sie ihre Hand zurück.
»Aber etwas zu essen könntest du mir bringen«, sagte er.
Das zauberte gleich wieder ein Lächeln in ihr Gesicht. Der Gast würde ausreichend Geld dalassen. »Natürlich, wir haben heute Huhn anzubieten.«
»Wunderbar, und einen Krug Bier«, ergänzte Seyfrid.
»Adelheid!«, hallte in dem Moment ein mächtiger Bass durch den Raum, und die junge Frau sprang augenblicklich auf die Füße.
Im Eingang zum Baderaum war ein kräftiger Mann mit Glatze aufgetaucht, der eine einfache Leinenhose und ein Hemd trug. Seyfrid erkannte Clemens Weyeroth auch nach all den Jahren sofort wieder. Schlagartig war die Aufregung wieder da. Würde der Bader sich an ihn erinnern?
Weyeroth wechselte kurz ein paar Worte mit Adelheid, die daraufhin in Richtung Küche eilte, und kam dann auf Seyfrid zu. »Ah, ein neuer Gast! Wie kann ich dir zu Diensten sein?«
Seyfrid versuchte möglichst entspannt zu wirken, beobachtete Weyeroth aber genau. Er lauerte auf jede Gesichtsregung, die ein Wiedererkennen verriet. »Danke, im Moment fühle ich mich sehr wohl. Ich bat deine Magd nur um etwas zu essen.«
»Das sollst du rasch bekommen! Du bist zum ersten Mal in Köln? Zumindest habe ich dich noch nie gesehen.«
Beinahe hätte Seyfrid gelacht. »Ja, ich traf eben erst in dieser prächtigen Stadt ein.«
»Wenn ich fragen darf: Wie lautet dein werter Name?«
»Ulrich von Schwarzenberg.« Die Antwort kam Seyfrid so flüssig über die Lippen, als wäre er tatsächlich auf den Namen getauft worden.
»Führen dich Geschäfte nach Köln?«
»Wie man es nimmt. Ich gedenke, meine Dienste hier anzubieten. Von Beruf bin ich Medicus.«
Weyeroth zog die Augenbrauen überrascht hoch. »Ein Medicus? Das hätte ich nicht gedacht. Verzeih meine Anmaßung, aber du siehst noch so jung aus.«
»Ich war schon immer recht jung für mein Alter.«
»Wo hast du die Heilkunst gelernt?«
»Auf der Scola Medica Salernitana.«
Jetzt klappte dem Bader die Kinnlade herunter. Ganz offensichtlich kannte er die berühmte Schule. »Das ist bemerkenswert! Du musst fürwahr ein guter Medicus sein!«
Seyfrid machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, ich gebe mir Mühe, die Patienten am Leben zu halten.«
»Tatsächlich sind gute Ärzte in Köln rar. Viele Menschen kommen zu mir, damit ich Knochenbrüche richte, kleine Wunden versorge und Schröpfköpfe setze, auch Zähne ziehe ich wohl. Aber alles, was darüber hinausgeht, habe ich nie gelernt. Wo gedenkst du zu wohnen?«
»Das weiß ich noch nicht. Zunächst muss ich mich nach einer Schlafgelegenheit umsehen. Könntest du mir eine empfehlen?«
»Aber ja, der ›Wilde Eber‹ in der Pützgasse ist eine saubere und anständige Herberge. Der Wirt, Peter Cüppers, ist ein alter Freund von mir.«
Ein Ehepaar in vornehmer Kleidung betrat das Badehaus. Weyeroth entschuldigte sich bei Seyfrid und begrüßte die neuen Gäste überschwänglich.
Erleichtert stieß Seyfrid die Luft aus. Clemens Weyeroth hatte ihn nicht erkannt. Die erste Feuerprobe hatte er bestanden.
Als er das Badehaus verließ, fühlte Seyfrid sich wie neugeboren, selbst seine düsteren Gedanken waren wenigstens für einen Moment verflogen. Die Sonne hatte sich durch die Wolken gekämpft, und er genoss die Strahlen auf seinem Gesicht. Eine Schar kichernder junger Frauen mit vor Kälte geröteten Wangen kam ihm entgegen. Offenbar wollten sie einkaufen, denn sie trugen alle Körbe am Arm. Seyfrid bemerkte ihre neugierigen Blicke. Eine Braunhaarige mit Stupsnase flüsterte den anderen etwas zu, worauf alle in Gelächter ausbrachen. Er lachte zurück.
Zu seiner eigenen Überraschung kamen Seyfrid die meisten Straßen und Plätze in Köln noch vertraut vor. Er überquerte den Heumarkt und folgte der Obenmarspforten, erreichte die Glockengasse, bog nach einer Weile links in eine der Seitenstraßen ein und steuerte auf Sankt Aposteln zu. Dem Namen nach kannte er das Gasthaus zum »Wilden Eber« und erinnerte sich, mit seinem Vater einst dort eingekehrt zu sein. Der Wirt war ein Mann mit einem großen Bauch und dicker roter Nase gewesen.
Schließlich stand er vor einem weiß gestrichenen Haus, das etwas breiter als die restlichen Gebäude in der Gasse war und aus dem das lebhafte Stimmengewirr einer Wirtschaft erklang.
Über der Eingangstür hing ein Holzschild an einer Stange im Wind, auf dem jemand ein Wildschwein mit gewaltigen Hauern gemalt hatte. Seyfrid trat erwartungsvoll ein. Die Wirtsstube war gut gefüllt. An langen Tischen saßen die Menschen auf Bänken, und ein großes Feuer loderte im Kamin, entsprechend angenehm warm war die Luft, wenn auch etwas stickig.
Es wurde bereits kräftig gezecht, einige Gäste grölten und lachten, manche lallten leicht. Überwiegend waren Männer anwesend, Seyfrid machte nur vereinzelt Frauen an den Tischen aus. Hinter der Theke stand ein korpulenter Mann und füllte die Humpen mit Bier. Über seinem Vollbart ragte eine dicke rote Nase hervor. Dieses Körpermerkmal schloss jeden Zweifel aus: Er war der Wirt von damals.
Seyfrid marschierte direkt auf Peter Cüppers zu. »Sei gegrüßt, Herr Wirt! Ich suche ein Zimmer. Clemens Weyeroth sagte mir, dass du saubere Kammern anbietest.«
Cüppers musterte den Neuankömmling kurz. Nichts in seinem Antlitz deutete daraufhin, dass er ihn wiedererkannte. »Da bist du richtig informiert, werter Herr. Mein Haus ist das Beste, das du in Köln finden kannst. Es kostet dich fünf Pfennig pro Nacht. Essen kannst du für vier Pfennig, Bier kostet derer zwei. Für wie lange gedenkst du zu bleiben?«
Seyfrid zögerte mit der Antwort, da er sich selbst noch nicht schlüssig war. »Zunächst für etwa acht Tage. Eigentlich suche ich eine Wohnung, in der ich mich einmieten kann.«
Der stämmige Wirt hob die Augenbrauen. »Du willst dich auf Dauer in Köln niederlassen?«
Seyfrid nickte nur kurz.
»Darf ich fragen, ob du ein Händler bist, der sein Geschäft hier etablieren will?«
»Nein, ich bin Medicus.«
Überrascht ließ Cüppers den Humpen sinken, den er gerade mit Bier füllen wollte. »Medicus? Verzeih mein Erstaunen, aber du siehst so jugendlich aus.«
»Gibt es für meinen Beruf ein Mindestalter?«
»Nein, natürlich nicht. Wie ist dein Name?«
»Ulrich von Schwarzenberg.«
»Nun, dann heiße ich dich willkommen im ›Wilden Eber‹, Ulrich von Schwarzenberg!« Der Wirt deutete eine Verbeugung an und drehte sich dann zu einem flachsblonden Jungen von vielleicht dreizehn Jahren um, der gerade mit einer der Mägde herumalberte. »Severin!«
Der Junge kam umgehend angelaufen. »Ja, Vater?«
»Nimm das Gepäck dieses Herrn und zeige ihm die Kammer im zweiten Stock.«
Severin schnappte sich die Satteltaschen und eilte voraus. Er öffnete mit dem Fuß eine Tür, hinter der eine Treppe nach oben führte.
»Bist du das erste Mal in Köln?«, fragte der Junge neugierig und blickte Seyfrid über die Schulter an, während er behände die enge Treppe mit den schmalen Stufen hocheilte. Angst zu stolpern schien er nicht zu haben.
»Ja, ich bin gerade erst eingetroffen.«
»Wenn du irgendwelche besonderen Wünsche hegst, sag mir einfach Bescheid!«
Seyfrid runzelte die Stirn. »Was für Wünsche meinst du?«
»Alles, was du hier im Wirtshaus nicht bekommst«, grinste er. »Edle Weine, Hübschlerinnen, Waffen, Glücksspielrunden.«
Seyfrid hielt in der Bewegung inne und sah Severin entgeistert an. »Bist du nicht noch viel zu jung dafür?«
»Ich gebe nur Ratschläge, wo du es bekommst. Gegen einen kleinen Obolus, versteht sich.«
»Weiß dein Vater davon?«
»Er würde mich auf der Stelle erschlagen«, lachte der Junge.
Kopfschüttelnd folgte Seyfrid ihm bis zu einer Tür im zweiten Stock. Die Kammer war klein, aber sauber. Auf einem Lager aus Stroh lag ein weißes Laken aus Leinen. Für die nächste Zeit würde dies sein Zuhause sein.
Nachdem Seyfrid seine Sachen verstaut und sich vergewissert hatte, dass all seine medizinischen Instrumente die Reise heil überstanden hatten, begab er sich wieder in den Schankraum. Kaum dass er eingetreten war, winkte ihn der Wirt zu sich.
Mit einem kurzen Blick durch den Raum vergewisserte sich Cüppers, dass die Gäste versorgt waren und die beiden Mägde fleißig arbeiteten, dann wandte er sich an Seyfrid. »Möchtest du ein Bier trinken? Ich lade dich ein.«
Eigentlich trank Seyfrid selten Bier und hatte schon eines beim Bader geleert, aber da er sich mit Cüppers gutstellen wollte, willigte er ein. Außerdem waren Gasthäuser ein wichtiger Umschlagplatz für Neuigkeiten. Schneller als durch den Wirt konnte Seyfrid seine Geschichte nicht verbreiten.
»Setzen wir uns dort drüben hin, da redet es sich ungestörter!«, schlug Cüppers vor und deutete auf einen freien Tisch in einer Ecke. Er griff sich zwei Humpen mit Bier und stellte sie auf dem abgewetzten Tisch ab. »Wo kommst du her?«
»Die Burg meines Vaters liegt nahe Freiburg. Ich habe aber die letzten Jahre in Salerno in Italien zugebracht, wo ich auf der berühmten Scola Medica gelernt habe. Der große Roger Frugardi hat mich ausgebildet.«
Es war dem Wirt anzusehen, dass er weder mit dem Ort noch mit dem Namen etwas anfangen konnte, aber darum ging es Seyfrid auch gar nicht. Wichtig war nur, dass Cüppers nun überall erzählen würde, dass sich ein hervorragender Arzt von edlem Geblüt in Köln niederlassen wollte. In wenigen Tagen würde die Hälfte der Einwohner darüber Bescheid wissen. Auch wenn Köln die größte Stadt nördlich der Alpen war, so verbreiteten sich Neuigkeiten innerhalb der Mauern doch schneller als eine Feuersbrunst. Und genau das war Teil seines Plans.
Einen Medicus konnte das gemeine Volk kaum bezahlen, sie würden auch weiterhin zum Bader gehen, um ihre Leiden zu lindern. Die Reichen hingegen, so hatte Roger Frugardi oft amüsiert erzählt, lechzten geradezu danach, sich von berühmten Ärzten behandeln zu lassen, allein schon, um zu zeigen, dass sie es sich leisten konnten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das erste Mitglied der Richerzeche bei Seyfrid auftauchen würde, und dann hätte er bei jenen einen Fuß in der Tür, auf die er es abgesehen hatte. Auf die Männer, die seinen Vater zum Tode verurteilt hatten.
»Du wüsstest nicht zufällig ein Haus, wo ich wohnen und Kranke behandeln könnte?«
Cüppers rieb sich vor Aufregung die Oberschenkel. »Nein, aber ich werde mich selbstverständlich umhören! Du musst wissen, es gibt zwar zwei oder drei Ärzte in Köln, aber die sind schlecht. Ich habe seit langer Zeit ein heftiges Reißen im Rücken, und der Arzt, den ich aufgesucht habe, hat mir zwar viel Geld abgenommen, aber nicht die Schmerzen.« Er zog demonstrativ die Schultern hoch.
Seyfrid kannte diesen Effekt zur Genüge: Kaum gab er sich als Medicus zu erkennen, klagten die Leute über ihre Leiden und hofften, dass er sie davon erlösen würde. Im Falle von Cüppers versprach Seyfrid sich eine günstige Gelegenheit, einen guten Ruf zu erlangen, und stellte ihm daher mit ernster Miene einige Fragen zu den Schmerzen. Wo genau sie saßen, seit wann er sie hatte und wie sie sich auswirkten. Dann stand er auf, trat hinter den Wirt, tastete den Rücken ab und drückte dann auf einen bestimmten Punkt zwischen den Schulterblättern. Der gewichtige Mann stöhnte kurz auf.
Um den Effekt noch zu steigern, murmelte Seyfrid ein paar lateinische Fachbegriffe und wiegte bedächtig sein Haupt, so wie er es oft bei Roger Frugardi gesehen hatte.
Cüppers machte große Augen. »Ist es etwas Schlimmes?«
Auf so eine Frage würde er als Arzt natürlich nie direkt antworten. Es war lediglich eine starke Verspannung der Muskulatur aufgrund des ständigen Hebens von schweren Krügen und Tellern. Einen Schaden der Wirbelsäule konnte er nach dem Abtasten ausschließen.
»Ich werde dir eine Medizin anrühren und empfehle außerdem täglich heiße Bäder. Vor allem solltest du die nächsten Tage nichts Schweres heben.«
Einige der Kräuter und Salben, die Seyfrid in seinen Satteltaschen aus Salerno mitgebracht hatte, betäubten Schmerzen. Damit bekämpfte er zwar nur die Symptome, aber es würde ausreichen, um Cüppers von seinen Fähigkeiten als Medicus vollends zu überzeugen.
»Das macht dann zehn Pfennig für die Untersuchung und noch mal fünf für die Medizin. Wir können es aber auch verrechnen, dann wäre das Geld für die ersten drei Nächte in deiner Kammer schon bezahlt.«
Cüppers sah ihn mit schlagartig versteinerter Miene an. Erst befürchtete Seyfrid, dass der Wirt ihn rausschmeißen würde, aber dann entspannte sich sein Gesicht, und er fing an zu lachen. »Bei Gott, du bist ein rechter Schelm! Und sehr geschäftstüchtig!« Er schlug Seyfrid vor Vergnügen auf die Schulter. »Also abgemacht: Die ersten drei Nächte sind für dich frei!«
Zufrieden dachte Seyfrid, dass er auf diese Art auch weiterhin viel Geld sparen konnte.
Am Nachmittag verließ Seyfrid das Gasthaus und streifte durch die Stadt. Er besah sich einige Kirchen, bewunderte prachtvolle und aufwendig verzierte Häuser reicher Familien und gelangte schließlich auf den Alter Markt. An vieles konnte er sich noch erinnern, in manchen Häusern waren aber nun andere Handwerker oder Händler ansässig. Von hier war es nicht weit bis zum Dom. Die weiße Kathedrale war lang gezogen, hatte zwei Seitenschiffe und vier schlanke Türme, das Hauptdach krönten zwei weitere imposante Türme. Wahrlich eine würdige Behausung für die Gebeine der Heiligen Drei Könige, dachte Seyfrid.
Er betrat die große Kirche, ließ sich vom Pilgerstrom mittragen bis vor den Schrein, der die Gebeine enthielt. Seyfrid wich in das etwas weniger überlaufende südliche Querhaus aus, kniete vor einem der Kreuze nieder und erflehte im stillen Gebet erneut Kraft und Erfolg für sein Vorhaben.
Als er den Dom wieder verließ, wandte er sich nach links, wo der Palast des Erzbischofs hinter dicken Mauern lag. Vor der Drachenpforte blieb Seyfrid stehen und konnte einen Blick in den Hof erhaschen. Dort befand sich auch der Eingang zur Hacht, dem Verlies, in dem der Erzbischof seine Gefangenen einkerkerte. Die Wachsoldaten des Erzbischofs musterten ihn misstrauisch, und es schien Seyfrid geraten weiterzugehen.
Gegenüber residierte Gerhard vom Hof, der reichste Mann Kölns. Kein anderes Haus der Stadt konnte es an Prunk und Größe mit diesem aufnehmen. Ursprünglich waren es zwei Häuser gewesen, doch Gerhard hatte sie zu einem riesigen Anwesen vereinigt.
Seyfrid überquerte erneut den Alter Markt, schob sich durch das Gedränge zwischen den Ständen, sog die Gerüche in sich auf und lauschte dem Zungenschlag seiner Kölner Heimat.
Zu seiner Rechten erhob sich das prachtvolle Haus der Bürger. Die Einwohner Kölns hatten bereits 1114 dem Erzbischof das Recht abgetrotzt, ein Stadtsiegel zu besitzen, um fürderhin selbst Urkunden auszustellen und Verträge abzuschließen, was sonst den Fürsten vorbehalten war. Um diesen Machtanspruch zu unterstreichen, hatten sie das Haus der Bürger errichtet, wo nicht nur regelmäßig Versammlungen des Stadtrats abgehalten, sondern auch das Stadtsiegel und die Urkunden aufbewahrt wurden.
Seyfrid lenkte seine Schritte immer weiter geradeaus, überquerte den Heumarkt, erblickte in der Rheingasse das eindrucksvolle fünfstöckige Haus der Familie Overstolzen und passierte dahinter die alte Stadtmauer. Schließlich lief er die lebhafte Severinstraße hinunter. Viele Handwerker und einfache Händler hatten sich an der langen Straße niedergelassen. Man merkte, dass hier weniger betuchte Menschen lebten, doch es herrschte eine rege Betriebsamkeit. Seyfrid hörte aus vielen Häusern Lachen und freute sich an der ausgelassenen Stimmung.
Doch kurz hinter der Kirche Sankt Severin verharrte er lange und starrte in die Ferne. Dort hinten lag der Judenbüchel. Sein Vater war an diesem Ort geköpft worden. Er fühlte sein Herz bis zum Hals schlagen, seine Knie drohten nachzugeben. Er atmete tief durch und zwang sich, langsam, Schritt für Schritt weiterzugehen.
Als er den Judenbüchel erreicht hatte, liefen ihm die Tränen über die Wangen. Alle Last der Welt fühlte er auf seinen Schultern liegen. Plötzlich kam es ihm unmöglich vor, allein gegen die mächtige Richerzeche anzutreten und sie zur Rechenschaft zu ziehen. Es dauerte lange, ehe er sich von dem Ort lösen konnte.
Er hatte am Grab seiner Mutter geschworen, den wahren Mörder und seine Schwester zu finden. Nichts durfte ihn davon abhalten.
***
Der Getreue hasste es, den Hintereingang zu benutzen, doch der Hausherr bestand darauf. Er sah zwar ein, dass niemand etwas von seinem Besuch mitbekommen sollte, dennoch kam er sich erniedrigt vor.
Er hatte sich ein Tuch vor das Gesicht gebunden und die Kapuze seines Mantels tief in die Stirn gezogen, sodass nur seine Augen sichtbar waren. Eine korpulente Magd und ein älterer Knecht bemerkten ihn, doch blickten sie hastig weg, als er die Küche durchquerte. Sie würden kein Sterbenswort verlieren, denn sie wussten nur zu genau, was ihnen blühte, wenn sie über den Besucher tratschen würden. Der Getreue ging zielstrebig auf eine bestimmte Tür zu und klopfte. Die gewohnt ruhige Stimme antwortete.
Er trat ein und verneigte sich ehrerbietig. »Sei gegrüßt! Du hast nach mir geschickt.«
Der Hausherr saß an einem riesigen Tisch, hinter dem er ein wenig verloren wirkte. Etliche Pergamente lagen ausgerollt vor ihm. Er las noch einige Augenblicke weiter, ehe er aufsah.
»Ich habe die Nachricht bekommen, dass der Tross wie geplant am Tag des heiligen Nikolaus aufbrechen und etwa eine Woche später in Köln eintreffen wird. Hast du alle Vorbereitungen getroffen?«
Der Getreue nickte ergeben und bestätigte: »Es ist alles so, wie wir es besprochen haben.«
»Es wird also alles reibungslos ablaufen, ohne unliebsame Überraschungen?«
Der Getreue ahnte, dass irgendetwas Unangenehmes in der Luft lag, sonst würde sein Gegenüber nicht nachhaken. »Aber ja! Wenn die Männer Vorsicht walten lassen, wird niemand Verdacht schöpfen«, versicherte der Getreue.
Der Hausherr griff zu einem Glas mit Wein und nahm einen Schluck. »Was macht deine Suche nach der Tochter des Ritters von Viskenich?«, fragte er ruhig.
Der Getreue fühlte, wie ihm schlagartig heiß wurde, und es lag nicht am lodernden Kaminfeuer neben ihm. »Ich glaube, dass sie nicht mehr am Leben ist.«
»Aber du hattest den einzigen Mann gefunden, der es dir hätte sagen können.«
Woher wusste er davon? Sollte Hermann etwa auch auf der Lohnliste des alten Teufels stehen? »Nun, ich hatte den Kastellan Eckard fast zum Sprechen gebracht, als er sich in seinen eigenen Dolch stürzte.«
Der Hausherr sagte kein Wort, sondern fixierte den Getreuen mit seinem Blick.
»Ich schwöre, es war nicht meine Schuld!«, rechtfertigte er sich lauter als beabsichtigt.
»Du behauptest, Eckard hätte sich das Leben genommen, damit du nichts vom Versteck von Isolde von Viskenich erfährst.«
»Genauso war es«, versicherte er eifrig.
»Du weißt, was passiert, wenn Isolde plötzlich wieder auftauchen und ihr Erbe einfordern sollte?«
»Sie wird nicht auftauchen. Sie ist geächtet und muss um ihr Leben fürchten.«
»Eine Ächtung, die der Kaiser nur zu gerne aufheben würde, wenn die Tochter seines getreuen Gefolgsmanns Johann von Viskenich ihn darum bittet.«
»Der entscheidende Tag rückt doch immer näher, und danach spielt Isolde von Viskenich keine Rolle mehr.«
»Ich schätze solche Unsicherheiten nicht.«
»Ich versichere dir, dass alles glattlaufen wird.«
Der Blick des Hausherrn ruhte sehr lange auf ihm, ehe er sagte: »Das will ich für dich hoffen.«
Noch ehe der Getreue etwas erwidern konnte, griff der Hausherr zu einer Schriftrolle vor ihm und begann zu lesen. Mit einer Handbewegung bedeutete er seinem Gast, dass er sich entfernen durfte.
Als der Getreue wieder auf die Straße trat, merkte er, dass er nass geschwitzt war. Nun fröstelte es ihn in der Kälte.
***
Am Abend war das Gasthaus »Wilder Eber« voll besetzt. Das Bier und der Wein flossen reichlich, das Fleisch von Schwein, Rind und Huhn, das Cüppers über dem Feuer des riesigen Kamins gebraten hatte, war fast aufgegessen, nur ein Huhn steckte noch auf dem Spieß. Laut und fröhlich ging es im Wirtsraum zu. Seyfrid verspürte Hunger und ergatterte den letzten freien Platz auf einer Bank in der Ecke.
Er kaute auf dem köstlichen Hühnerfleisch herum und beobachtete dabei das Treiben im Schankraum. Handwerker, Tagelöhner und einige Bauern, die wohl auf dem Markt gewesen waren, ließen sich das Bier aus großen Humpen schmecken. Genüsslich lauschte Seyfrid der gedehnten Sprechweise der Kölner, die er so lange vermisst hatte.
Am Tisch zu seiner Rechten hockten ein halbes Dutzend Gäste in eleganter, farbenfroher Kleidung. Ihre befiederten Hüte lagen vor ihnen auf den Tischen. Seyfrid vermutete, dass es Händler waren, die sich geschäftlich in Köln aufhielten. Natürlich waren auch einige Hübschlerinnen anwesend. Sie waren leicht an ihren gelben Gewändern und um die Arme gewickelten Bändern zu erkennen. Heute dürften sie eine gute Strecke machen, dachte Seyfrid, denn die Stimmung war ausgelassen.
Trotz der drangvollen Enge fiel ihm der teuer gekleidete Mann auf, der nun eintrat. Der Umhang war reich verziert, eine silberne Kette hielt ihn vorn zusammen. Ein großer Hut saß auf einem schmalen Gesicht mit langer Nase und eng stehenden Augen. Er blickte sich suchend um, bis er den Wirt am Feuer erspähte und auf ihn zuging. Einige der einfachen Leute, die im Weg standen, machten respektvoll Platz. Seyfrid war sich nicht sicher, ob sie den Mann kannten oder aus leidvoller Erfahrung vor gut gekleideten Bürgern zurückwichen.
Der Neuankömmling baute sich vor dem Wirt auf, der sich höflich verneigte. Seyfrid konnte die Frage aus der Entfernung zwar nicht verstehen, hatte aber instinktiv das Gefühl, dass es um ihn ging. Prompt deutete Cüppers in seine Richtung, und der Mann setzte sich erneut in Bewegung, durchquerte den Raum, bis er vor Seyfrid stehen blieb und ihn mit einem herablassenden Blick bedachte.
Der junge Medicus ließ sich davon nicht einschüchtern. Er wusste, dass er als Arzt selbstsicher auftreten musste, sonst würde man ihn nicht respektieren.
»Du bist der Medicus mit Namen Ulrich von Schwarzenberg?« Die Stimme war schneidend.
»Ganz recht! Mit wem habe ich die Ehre?«
»Mein Name ist Otto Berlicher, Secretarius von Matthias Quentenberg.« Er musterte den Medicus abschätzig.
Der Name Quentenberg war Seyfrid bekannt. Es war eine alteingesessene Familie, die es durch den Handel mit Tuchen und das Schneidern von Gewändern zu Reichtum gebracht hatte, außerdem besaß sie einige Häuser in Köln. Seyfrid versuchte ruhig zu bleiben, innerlich war er jedoch bis zum Bersten angespannt. Er witterte seine Chance.
»Mein Herr wünscht dich zu sprechen.«
»Dann sollte er herkommen«, antwortete Seyfrid.
Für den Secretarius war dies der Gipfel der Unverfrorenheit. »Matthias Quentenberg kommt nicht zu einem Unbekannten in ein gewöhnliches Gasthaus, man kommt zu ihm!«
»Ich bin aber kein Unbekannter, sonst würdest du meinen Namen nicht kennen.«
Der Hagere schnaufte vernehmlich und lief rot an. »Du hast die Ehre, von einem der angesehensten Bürger Kölns konsultiert zu werden. Es wäre sehr dumm von dir, das Angebot auszuschlagen.«
Gleichgültig griff Seyfrid zu seinem Becher und nahm einen Schluck, was den Secretarius veranlasste, sich vorzubeugen und ihm zuzuflüstern: »Außerdem kann mein Herr nicht kommen, da er große Schmerzen hat und nicht in der Lage ist aufzustehen. Aber das darf niemand erfahren, es wäre schlecht für das Geschäft. Zu viel Tratsch und Gerüchte.«
Seyfrid schaute ihm ruhig in die Augen. »Mag sein, aber du musst dich schon noch gedulden, bis ich aufgegessen habe.«
Mit diesen Worten widmete er sich wieder seinem Huhn und würdigte Berlicher keines weiteren Blickes. Genüsslich knabberte er auch noch den letzten Knochen ab, ehe er sich erhob. Er stieß einen zufriedenen Rülpser aus und nickte dem Secretarius freundlich zu. »So, nun führe mich zu deinem Herrn!«
Berlicher war so wütend, dass er auf dem Weg quer durch die Stadt kein Wort sprach. Seyfrid amüsierte sich königlich über den überheblichen Kerl. Das prächtige Haus lag in der Lintgasse, die vom Alter Markt zum Rhein hinab verlief. Das Haus reichte über vier Stockwerke und war das größte in der schmalen Straße. Der junge Medicus musste sich zusammenreißen, um weiterhin unbeeindruckt zu wirken.
Berlicher öffnete die schwere Holztür, ohne anzuklopfen. Vier Köpfe fuhren wie auf Kommando zu ihnen herum, als sie eintraten. Zwei Mägde, ein Knecht und – wie Seyfrid vermutete – die Hausherrin erwarteten ihn schon. Der Raum war mollig warm dank eines prasselnden Feuers im offenen Kamin, die Möbel waren aus Eiche und Esche gefertigt, und aufwendig verzierte Teppiche schmückten die Wände. Der Reichtum der Bewohner sprang Seyfrid förmlich an.
»Wo ist der gnädige Herr?«, fragte Berlicher in einem unterwürfigen Ton.
»Dumme Frage, natürlich immer noch oben im Bett!«, antwortete die Herrin ungehalten und trat einige Schritte auf die beiden Männer zu. Sie kniff die Augen leicht zusammen, um Seyfrid näher zu mustern. »Ich nehme an, du bist der neue Medicus, von dem alle reden?«
Seyfrid verbeugte sich höflich. »Ulrich von Schwarzenberg, zu Diensten, werte Dame! Darf ich deinen Namen erfahren?«
Sie warf Berlicher einen strafenden Blick zu, der sie hastig vorstellte. Ihr Name war Maria Quentenberg, und sie war in der Tat die Gattin des Hausherrn. Sie mochte etwa vierzig Jahre alt sein, ihr ebenmäßiges Gesicht war umrahmt von dunkelbraunen Haaren, die der Farbe ihrer Augen entsprachen. Sie strahlte eine natürliche Anmut aus.
Ihr Kleid war in dunklem Grün und Rot gehalten und um die Hüfte von einem Gürtel zusammengerafft. Hauchdünne Goldfäden waren in den Stoff aus venezianischer Seide eingewebt. Gewiss, sie war die Frau eines Tuchhändlers und Gewandschneiders, aber das Kleid musste ein Vermögen gekostet haben, staunte Seyfrid und begriff langsam, wie wohlhabend die Quentenbergs wirklich sein mussten.
»Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen! Ich hörte, deinem Gatten geht es schlecht.«
»Er hat heftige Schmerzen im Bauch«, erklärte sie mit besorgter Miene. »Er sagte, es wäre nur eine Magenverstimmung, aber ich mache mir ernsthaft Sorgen.«
Maria Quentenberg trat einen Schritt vor und senkte die Stimme. »Es könnte ein Dämon sein, der von ihm Besitz ergriffen hat.« Dabei umklammerte sie das silberne Kreuz, das an ihrer Halskette hing, mit einer Hand und bekreuzigte sich mit der anderen. »Ich habe heute während der Messe in Sankt Brigiden eine Kerze zu Ehren der Heiligen Jungfrau angezündet und für meinen Ehegatten gebetet, aber noch ist keine Linderung eingetreten.«
Seyfrid wusste, dass die Menschen schnell teuflische Mächte für Krankheiten verantwortlich machten. Vor seinem Studium der Medizin hatte er das auch oft getan. Genau deshalb tadelte er Maria Quentenberg nicht dafür, sondern nickte mit ernster Miene. »Wenn du die Freundlichkeit hättest, mich zu ihm zu geleiten?«
Die Hausherrin nickte huldvoll und stieg mit Seyfrid und Berlicher im Gefolge eine Treppe aus poliertem Eichenholz hinauf in den ersten Stock. Sie hielt vor einer mit Ornamenten verzierten Holztür und klopfte. Ein heiseres Murmeln forderte zum Eintreten auf.
Matthias Quentenberg lag in einem hohen Bett, über das sich ein ausladender Baldachin spannte. Der Gewandschneider war massig, hatte einen kräftigen Unterkiefer und einen gestutzten Bart. Seine sonst sicher imposante Erscheinung lag nun wie ein Häufchen Elend in den Kissen. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn, Schmerzen verzerrten sein Antlitz. Seine Haut wies eine merkwürdig gelbliche Farbe auf.
»Der Medicus ist eingetroffen, Matthias!«
Quentenberg musterte Seyfrid aus zusammengekniffenen Augen. »Du bist ein Medicus? In deinem Alter? Hast du überhaupt je eine Schule von innen gesehen?«
»Matthias!«, ermahnte seine Frau ihn empört.
Seyfrid trat lächelnd näher. »Ja, und ich habe auch schon Patienten so lange geschröpft, bis sie endlich Ruhe gaben!«
Für einen Moment war der Gewandschneider sprachlos, dann lachte er leise auf. »Zumindest bist du kein Kriecher wie der letzte Quacksalber, der heute Morgen hier war. Den habe ich trotz meines schlechten Zustands persönlich rausgeschmissen. Er war völlig unfähig, da hätte ich mich genauso gut in das Armenhospital St. Brigida legen und auf den Tod warten können.«
Im nächsten Augenblick wurde Quentenberg wieder von Schmerzen übermannt und stöhnte auf.
»Was für Beschwerden hast du?«, fragte Seyfrid unbeeindruckt.
»Mein Bauch schmerzt, und ich habe Krämpfe in den Waden.«
Seyfrid nickte wortlos, griff nach einer kleinen Öllampe, die auf einem Tisch stand, hielt sie nahe an das Gesicht des Patienten und besah sich genau dessen Pupillen.
»Was starrst du mir in die Augen?«, gab sich Quentenberg barsch.
Statt einer Antwort stellte Seyfrid die Lampe ab, nahm das Handgelenk des Mannes und fühlte den Puls. »Wann hast du das letzte Mal gegessen, bevor die Schmerzen begannen?«
»Gestern zur Vesper. Ich war abends bei einer Versammlung des Rats der Stadt.«
»Ist dir übel, hast du dich erbrochen und Durchfall?«
Der Gewandschneider nickte und atmete schwer.
»Was hast du gegessen?«
»Gebratenes Schwein.«
»Was noch?«
Er überlegte kurz. »Es gab Brot dazu und Kohl.«
»Hast du auch Wein getrunken?«
»Ja, natürlich. Wieso …«
Seyfrid hob die Hand, um die Frage abzuwehren. »Ich vermute, du verspürst großen Durst?«
»Ich könnte den ganzen Rhein leer saufen.«
Der Medicus sah wieder zur Ehefrau hinüber, die noch bleicher geworden war. »Hol eine große Kanne Wasser! Hast du Knoblauch im Haus?«
»Knoblauch?«, fragte sie erschrocken. »Bei der Heiligen Jungfrau, ist es etwa doch ein Dämon, der –«
»Bitte, frag jetzt nicht, bring es einfach!«, unterbrach er sie. »Und schick jemanden ins Gasthaus ›Wilder Eber‹, um meine Tasche aus dem Zimmer holen!«
»Was stehst du noch herum?«, fuhr sie Berlicher an. »Lauf und hole sie!«
Der Secretarius hastete erschrocken hinaus, seine Schritte polterten auf der Treppe.
Seyfrid bat Quentenberg, sich aufrecht hinzusetzen. Der schwere Mann kam der Aufforderung stöhnend nach. In einer Ecke stand ein leerer Holzeimer, der dazu diente, nachts die Notdurft zu verrichten. Seyfrid nahm ihn und drückte ihn dem verdutzten Patienten in die Hände.
»Was soll das?«, fragte er ungehalten.
»Ich tue das nicht gerne, aber es muss leider sein«, entgegnete Seyfrid freundlich.
Noch bevor Quentenberg antworten konnte, hatte Seyfrid ihm den Kopf nach vorn über den Eimer gedrückt und fuhr mit einem Finger kurz tief in dessen Rachen. Augenblicklich übergab sich Quentenberg.
Als das Würgen endlich nachließ, stammelte er: »Bist du des Wahnsinns? Willst du mich umbringen?«
»Nein, im Gegenteil, ich trachte danach, dich am Leben zu erhalten.«
»Was für eine Krankheit ist es?«, wollte der Patient wissen.
Seyfrid zögerte mit der Antwort. Es sah danach aus, als ob Quentenberg mit Arsenik vergiftet worden wäre, und das wiederum bedeutete, dass es ein Mordanschlag war. Der junge Medicus aber scheute sich, so eine weitreichende Behauptung offen auszusprechen. Er entschied sich, erst später seinen Verdacht zu äußern und erst einmal eine andere, nicht minder gefährliche Krankheit zu nennen, die auch oft genug tödlich verlief. »Es könnte das Antoniusfeuer sein. Je mehr du wieder von dir gibst, desto besser.«
In dem Moment kam eine Magd mit einer Karaffe Wasser und einer Knoblauchknolle in das Schlafgemach gehastet. Mit einem Tuch wischte sich Quentenberg den Mund ab, dann nahm er einen Becher Wasser von Seyfrid entgegen.
»Du musst viel Wasser trinken! Selbst wenn du keinen Durst mehr verspürst, trink weiter. Bis morgen früh sollte es mindestens ein Maß sein.«
Seyfrid griff die Knoblauchknolle, brach eine einzelne Zehe heraus und gab sie dem Patienten. »Kauen und schlucken!«, befahl er.
Quentenberg tat, wie ihm geheißen, dann sank er ermattet auf sein Bett zurück. »Wie schlimm steht es um mich?«
Seyfrid blickte ihn ernst an und überlegte, wie viel er ihm verraten sollte. »Wenn du meine Anweisungen befolgst, hast du vielleicht eine Chance, den morgigen Tag zu erleben, aber versprechen kann ich es dir nicht.«
Maria Quentenberg schrie auf und hielt sich die Hand vor den Mund. »Oh großer Gott, warum sagst du das? Das kann nicht sein!«
Quentenberg starrte ihn an und atmete schwer. Endlich sagte er: »Du bist aufrichtig, und das schätze ich sehr an einem Mann! Ich habe es mein Leben lang mit zu vielen Lügnern und Dummschwätzern zu tun gehabt.«
»Jemand hat dich mit einem Fluch belegt. Ein Dämon ist in dich gefahren«, sagte Maria Quentenberg mit zitternder Stimme.
»Was redest du für einen Unsinn, Weib?«, wies ihr Ehemann sie schroff zurecht. »Warum sollte jemand so etwas tun?«
»Weil du dich mit gefährlichen und mächtigen Menschen einlässt.«
»Schweig still! Du weißt nicht, wovon du redest.«
Erneut wurde er von Schmerzen übermannt und war unfähig weiterzusprechen.
In dem Moment öffnete sich die Tür, und eine junge Frau trat ein. Seyfrid glaubte, dass sein Herz für einige Schläge aussetzte. Er hatte selten zuvor eine solche Schönheit gesehen. Ihr Gesicht war ebenmäßig und fein geschnitten und wurde eingerahmt von langem dunklem Haar, das ihr zu einem Zopf geflochten bis fast zu den Hüften reichte. Ihre schlanke Figur wurde von dem strahlend blauen Kleid noch betont. Doch es waren ihre großen braunen Augen, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Seyfrid konnte nicht anders, als sie mit offenem Mund anzustarren.
Sie blickte fragend zurück, dann öffnete sie ihre vollen Lippen, hinter denen makellose Zähne erschienen. »Was ist mit meinem Vater?«
Weil der Medicus nicht reagierte, sondern sie einfach nur anstarrte, trat sie näher, zog die Stirn kraus und fragte: »Verstehst du meine Sprache nicht?«
»Doch, doch, ich, ich …«, stotterte er hilflos und konnte keinen klaren Gedanken fassen.
»Rebecca, du solltest doch in deinem Zimmer warten!«, stieß Maria Quentenberg hervor, die mühsam ihr Schluchzen unterdrückte.
»Verzeih mir, Mutter!« Sie wandte sich dem Bett zu. »Aber ich habe es vor Sorge dort nicht mehr ausgehalten. Was ist mit Vater?«
Die Frage galt erneut Seyfrid, dessen Verstand langsam wieder zu arbeiten anfing. »Nun, er … Dein Vater hat etwas … Es scheint das Antoniusfeuer zu sein. Es steht nicht gut um ihn.«
Das wunderschöne Wesen riss die Augen auf, sodass sie noch größer erschienen, als sie ohnehin schon waren.
»Es ist ein Hexenfluch«, murmelte Maria Quentenberg erneut und bekreuzigte sich. »Wir brauchen dringend einen Gegenfluch.«
»Maria, es reicht!«, mahnte ihr Gatte.
Rebecca trat zu ihrem Vater, nahm seine Hand und führte sie zu ihrer Wange. »Nein, Vater, du darfst nicht sterben, du musst dagegen ankämpfen!«
»Wenn es der Wille des Allmächtigen ist, dass er mich zu sich nimmt, dann soll es so sein! Ich liebe dich, Rebecca, du warst immer mein Sonnenschein. Aber noch bin ich nicht tot, und ich verspreche dir, nicht kampflos aufzugeben.«
Die junge Frau konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie kniete vor dem Bett nieder und hielt die Hand ihres Vaters umklammert.
Schließlich trat Maria Quentenberg zu ihrer Tochter, zog sie behutsam hoch und nahm sie in den Arm. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, führte sie Rebecca hinaus.
»Ich werde heute Nacht bei dir wachen«, erklärte Seyfrid, an Matthias Quentenberg gewandt. Er konnte sich noch gut erinnern, wie Roger Frugardi in Salerno einen Patienten mit einer Arsenikvergiftung behandelt hatte. Sein Lehrmeister hatte damals alles versucht, konnte den Mann aber nicht retten.
Kurz darauf kam Berlicher völlig außer Atem mit Seyfrids Tasche herein. Seyfrid entnahm ihr einen kleinen Beutel mit Mädesüß, einem Rosengewächs, das Schmerzen linderte. Berlicher sah ihm neugierig zu, als wolle er ihn kontrollieren, bis Seyfrid die Anwesenheit des unfreundlichen Secretarius nicht mehr ertragen konnte und ihn aus der Kammer schickte. Berlicher bedachte ihn mit einem finsteren Blick, kam der Aufforderung dann aber nach.
Seyfrid legte die Kräuter in eine kleine Schale, goss Wasser hinzu und zerstampfte alles so lange, bis ein zäher Brei entstanden war. Den flößte er dem Patienten ein.
Der verzog widerwillig das Gesicht. »Schmeckt ekelhaft.«
»Hilft aber«, sagte Seyfrid lapidar.
Nachdem eine Magd zwei weitere Krüge Wasser gebracht hatte, bat er Maria Quentenberg, sich in der Kammer ihrer Tochter schlafen zu legen. Sie hatte ebenfalls am Bett ihres Mannes wachen wollen, und erst nachdem Seyfrid versprochen hatte, sie zu wecken, wenn es ihrem Ehegatten schlechter gehen sollte, erklärte sie sich schließlich bereit, bei ihrer Tochter zu nächtigen.
Seyfrid gab Quentenberg regelmäßig zu trinken und eine weitere Knoblauchzehe. Die Krämpfe ließen langsam nach, und der Patient fiel in einen unruhigen Schlaf, aus dem ihn Seyfrid nur hin und wieder weckte, um ihm Wasser einzuflößen. Er musste das Gift aus dem Körper spülen.
Nach einiger Zeit drohten ihm selbst die Augen zuzufallen. Aus seiner Tasche fingerte er ein paar geröstete braune Bohnen, die aus dem Orient stammten. Er steckte eine davon in den Mund und kaute darauf. Sie schmeckte bitter, verfügte aber über den bemerkenswerten Effekt, die Müdigkeit zu verscheuchen.
Vor seinem geistigen Auge tauchte das Gesicht von Abdul Al-Aziz auf, als er ihm zum ersten Mal von einem heißen dunkelbraunen Getränk zu kosten gegeben hatte. Es werde aus gerösteten Bohnen gebraut, hatte sein Lehrmeister gesagt und über Seyfrids erstauntes Gesicht geschmunzelt. Die Bohnen stammten von den Quellen des Nils im Hochland Abessiniens und hatten einen belebenden Effekt auf den menschlichen Körper. Zur Not reichte es, die gerösteten Bohnen zu kauen, aber sie waren als Getränk, das nach der arabischen Hafenstadt »Mokka« benannt worden war, wesentlich genießbarer. Seit Seyfrid Palästina verlassen hatte, war ihm nur einmal das Glück vergönnt gewesen, sie bei einem fahrenden Händler zu finden. Der Mann hatte einen überzogenen Preis dafür verlangt, dennoch hatte Seyfrid ihm den gesamten Vorrat abgekauft.
Quentenberg stöhnte manchmal auf, ohne wach zu werden. Seyfrid fühlte ihm regelmäßig den Puls und gab ihm zu trinken. Als die Glocke des Doms zu Mitternacht schlug, klopfte es leise an der Tür. Seyfrid öffnete, und vor ihm stand Rebecca. Sie hielt eine Kerze in der Hand und wirkte in dem sanften Schein auf ihn wie ein Engel direkt vom Himmel. Sie trug ein bodenlanges Nachthemd, hatte keine Haube auf, und ihre langen dunklen Haare fielen ihr bis zur Hüfte. Sekundenlang standen sie sich wortlos gegenüber.
»Dürfte ich eintreten, bevor mich jemand sieht?«, fragte Rebecca schließlich ungeduldig.
Er trat rasch zur Seite und schloss die Tür hinter ihr. Sie warf einen Blick auf ihren Vater und vergewisserte sich, dass er tief und fest schlief, was bei seinem geräuschvollen Schnarchen kein Kunststück war.
»Ich musste warten, bis meine Mutter eingeschlafen war, und ich weiß, es ziemt sich nicht, dass ich hier bin. Aber ich will von dir die Wahrheit wissen: Wie steht es wirklich um meinen Vater?«
»Er … Ich denke … es könnte …«
»Für einen Medicus bist du nicht gerade redegewandt.«
Seyfrid räusperte sich. »Es sieht gut aus. Er schläft, atmet regelmäßig, und die Krämpfe lassen nach.«
»Das alleine reicht dir aus, um sicher zu sein, dass er überlebt?«
»Nun, mit jeder Stunde wächst meine Zuversicht. Und einen Dämon können wir wohl ausschließen.«
Rebecca verdrehte die Augen. »Meine Mutter sieht überall Dämonen, Hexen, Flüche und böse Mächte. Du würdest nicht glauben, wie viel Geld sie schon für Gegenflüche und geweihte Amulette ausgegeben hat.«
»Es freut mich, dass du nicht die Meinung deiner Mutter teilst.«
»Halte mich nicht für anmaßend, aber ich verfüge auch über einige Kenntnisse in der Heilkunde. Meine selige Tante Anna, die Schwester meines Vaters, war Nonne im Kloster Rupertsberg, das von der berühmten Heilkundigen Hildegard von Bingen gegründet wurde. Anna hat von ihr gelernt, und nachdem meine Tante nach Köln in das Augustinerinnenkloster zu Ehren der Heiligen Jungfrau Maria am Weiher zurückgekehrt war, hat sie sich als Kräuterfrau betätigt, bis sie letztes Jahr verstarb. Sie hat mich im Lesen und Schreiben und in der Heilkunde unterrichtet. Ich besuche das Kloster heute noch gerne, die Äbtissin Kathryn ist auch eine gelehrte Frau, die den Kranken in Köln viel Gutes tut. Mein Vater hielt meine Neugier zwar immer für unangemessen, aber jetzt hilft es mir, seinen Zustand zu beurteilen.«
Sie drückte ihren Rücken durch und blickte ihm herausfordernd in die Augen. »Ich glaube nicht, dass es das Antoniusfeuer ist, denn dann müsste er eiskalte Hände haben. Um das zu prüfen, habe ich seine Hand an meine Wange geführt, als ich neben seinem Bett kniete. Die Hand war aber heiß. Ich denke, dass mein Vater vergiftet wurde.«
Verblüfft sah Seyfrid sie an. Dieses anmutige Wesen besaß einen scharfen Verstand. »Du hast recht!«, gab er schließlich zu. »Er weist alle Anzeichen einer Vergiftung durch Arsenik auf. Aber das würde bedeuten, dass jemand versucht hat …«
»… ihn zu töten!«, vollendete Rebecca den Satz.
Seyfrid nickte stumm.
»Aber mit dieser Behandlung könntest du ihn erst recht umbringen!«, warf sie ihm vor.
Ihre Augen funkelten, und Seyfrid wich mit dem Oberkörper unwillkürlich ein Stück zurück. »Was wäre denn deiner Meinung nach das Richtige gewesen?«, fragte er etwas ungehalten.
»Er hätte einen Sud aus Kamille trinken sollen. Er hilft nicht nur gegen die Bauchkrämpfe, sondern reinigt auch den Darm. So wären die vier Säfte wieder ins Gleichgewicht gekommen.«
Die junge Frau verfügte tatsächlich über heilkundiges Wissen, musste Seyfrid anerkennen. Der berühmte griechische Arzt Galen hatte schon in der Antike die Lehre aufgestellt, dass die vier Säfte Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle stets im Gleichgewicht sein müssten. Überwog auch nur ein Saft, dann wurde der Mensch krank. Das hatte Seyfrid selbstverständlich auch gelernt, allerdings war Abdul Al-Aziz der Meinung gewesen, dass auch andere Faktoren eine Rolle spielten.
»In der Tat lindert Kamille Schmerzen im Bauch, ist aber bei Vergiftungen durch Arsenik nicht das richtige Mittel, weil es auch austrocknend wirkt, und genau das darf deinem Vater auf keinen Fall passieren«, erklärte er.
»Woher willst du das wissen, wenn du es nicht versucht hast?«
»Weil es mein Lehrmeister Roger Frugardi in der Scola Medica Salernitana mich so gelehrt hat und ich sein Wissen nie anzweifeln würde. Außerdem hat der Arzt Abdul Al-Aziz mir im Heiligen Land gesagt, dass Arsenikvergiftungen mit Knoblauch zu behandeln seien. Er besitzt viele heilende Wirkungen, kann aber den Vergifteten nur retten, wenn die Menge an Arsenik nicht zu groß war. Dein Vater hat anscheinend Glück gehabt, sonst müsste es ihm inzwischen erheblich schlechter gehen.«
Die Erklärung schien Rebeccas Wut zu dämpfen. »Von Roger Frugardi habe ich gehört, meine Tante sprach von ihm mit größter Hochachtung. Es hieß, er wäre der beste Chirurg der Welt.«
»Das kann ich bestätigen. Aber es überrascht mich, dass du von ihm gehört hast.«
»Warum? Weil ich eine Frau bin?«, brauste sie erneut auf. »Weil Frauen zu dumm für die Heilkunde sind? Denkst du auch so?«
Seyfrid wehrte den Vorwurf energisch ab. »Nein, das denke ich nicht. In der Scola Medica Salernitana studieren auch Frauen. Einige von ihnen haben außerordentliche Kenntnisse in der Heilkunde erreicht.«
»Dort werden Frauen in der Medizin unterrichtet?«, fragte Rebecca erstaunt.
»Nicht nur das, einige lehren dort auch. Trota von Salerno hat bedeutende Schriften über Frauenleiden, Fruchtbarkeit und Geburtshilfe verfasst. Roger Frugardi erzählte überaus bewundernd von ihr.«
Rebeccas Verblüffung wich der Begeisterung. »So verwehrt niemand einer Frau die Aufnahme in die Scola Medica?«
»Nein, solange sie sich als klug und fleißig erweist. Du wärst sicherlich gerne dort gesehen.«
Ein Leuchten glitt über das Gesicht der jungen Frau. »Es freut mich, dass du das sagst.«
Ein kurzes Aufstöhnen ihres Vaters ließ sie wieder in die Realität zurückkehren. »Wer könnte meinen Vater nur vergiftet haben? Ich zerbreche mir schon die ganze Zeit den Kopf.«
»Das kann ich dir leider auch nicht sagen, nur dass es jemand absichtlich getan haben muss. Man nimmt nicht versehentlich Arsenik zu sich.«
»Mein Vater muss auf der Versammlung des Rats der Stadt vergiftet worden sein.«
Das hatte Seyfrid auch bereits vermutet. Schon zu Zeiten der römischen Kaiser war Arsenik gern zur Beseitigung unliebsamer Personen genutzt worden, wie er in der Scola Medica gelernt hatte. Arsenik konnte leicht ins Essen oder in ein Getränk gemischt werden, es war geschmacklos und fiel dem Opfer daher nicht auf.
»Du bist sicher, dass es keinem der Stadträte ähnlich schlecht geht wie deinem Vater?«
»Glaub mir, wir hätten es längst vernommen, wenn es noch jemanden getroffen hätte.« Rebecca schüttelte vehement den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass sie so weit gehen würden.«
»Du weißt, wer versucht hat, deinen Vater umzubringen?«, fragte Seyfrid überrascht.
»Nicht, wer der feige Giftmischer war, aber vielleicht den Grund.« Sie blickte ihn mit ihren tiefbraunen Augen an, und Seyfrid spürte erneut, wie sein Herz schneller schlug.
»Du musst wissen, dass der Erzbischof Adolf von Altena mit dem Rat der Stadt über eine Unterstützung für die Freilassung von Richard Löwenherz verhandelt. Der Erzbischof setzt sich sehr für König Richard ein und ist einer der Vermittler zwischen Kaiser Heinrich und der Königsmutter Eleonore von Aquitanien. Mein Vater ist auch dafür, dass Richard freikommt, und hat die beiden Bürgermeister Theoderich Hungs und Friedrich von der Aducht überzeugt, dass sich der Kölner Rat für Richards Sache einsetzen sollte. Deshalb wurde er vom Rat auserwählt, die Verhandlungen mit dem Erzbischof zu führen.«
»Waren die restlichen Räte der Stadt auch dafür?«
»Ich weiß nicht, was hinter den verschlossenen Türen besprochen wurde, aber mein Vater hatte nach der Versammlung sichtlich schlechte Laune, sodass ich sicher bin, dass nicht alle für eine Unterstützung des Erzbischofs waren.«
»Weißt du, wer die betreffenden Männer waren?«
Sie hob bedauernd die Augenbrauen. »Nein, mein Vater ist in solchen Sachen sehr verschwiegen.«
»Und warum waren manche dagegen?«
»Die Kölner Gildenhalle in London steht seit einem halben Jahrhundert unter dem Schutz des englischen Königs, aber seit Richards Gefangennahme laufen die Geschäfte mit England nicht mehr gut. Vielen Händlern in Köln hat das große Verluste beschert, auch meinem Vater, der früher Schafswolle aus England bezog und Gewänder dorthin verkaufte. Sobald Richard wieder auf dem Thron sitzt, würde er allein schon aus Dankbarkeit wieder verstärkte Handelsbeziehungen mit Köln aufnehmen. Aber es gibt einige Händler in Köln, die vermehrt Geschäftsbeziehungen mit Frankreich pflegen, und König Philipp ist ein erklärter Feind Englands. In Frankreich würde daher eine Unterstützung König Richards durch den Kölner Rat nicht mit Wohlwollen aufgenommen.«
»Geht es der Richerzeche immer nur ums Geschäft?«
Rebecca lachte auf. Es war das erste Mal, dass er sie lachen hörte. Der Klang gefiel ihm.
»Sagen wir: fast immer. Die meisten Mitglieder sind nicht so reich geworden, weil sie mildtätig sind, sondern weil sie berechnend sind.«
»Du bist außerordentlich gut bewandert, was das Geschäft deines Vaters angeht.«
»Ich höre genau zu, wenn er hier im Haus mit anderen Händlern oder Kunden redet. Ich weiß, wo die Stoffe herkommen, wie sie geschnitten und genäht werden müssen und für welchen Preis sie verkauft werden. Ich kenne mich mit der Güte von Stoffen aus und weiß, wie viel sie beim Einkauf wert sind. Auch die Richerzeche ist mir von klein auf vertraut. Ich bin das einzige Kind meines Vaters, nachdem meine zwei Brüder schon in früher Kindheit am Fieber verstorben sind. Es freut ihn, wenn ich mich nach den Geschäften erkundige, denn eines Tages werde ich seine Gewandschneiderei übernehmen.«
»Versteh mich bitte nicht schon wieder falsch, aber ist es nicht üblich, dass ein Mann das Geschäft führt?«
»Mein Vater liebt mich und vertraut mir. Er weiß, dass ich es kann.«
»Eines begreife ich nicht: Wenn sowohl die Mehrheit im Stadtrat als auch der Erzbischof für die Freilassung Richards sind, worüber hat dann dein Vater noch verhandeln sollen?«
»Nun, Kaiser Heinrich verlangt als Lösegeld insgesamt hundertfünfzigtausend Silbermark. Hunderttausend Silbermark sollen jetzt gezahlt werden, damit Richard umgehend freikommt, und der Rest in naher Zukunft. Bis der volle Betrag beim Kaiser eingegangen ist, werden Söhne angesehener englischer Familien als Geiseln gestellt. Doch der Erzbischof befürchtet, dass der Kaiser es sich noch einmal anders überlegt und Richard doch so lange festhält, bis er die hundertfünfzigtausend Silbermark erhalten hat. Deshalb will Adolf von Altena gewisse mächtige Edelmänner bei Hofe auf seine Seite ziehen, damit sie wohlwollend auf den Kaiser einwirken, sein Versprechen zu halten. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass Heinrich seine Meinung ändert. Weil aber das Vermögen des Kölner Erzbischofs schon sehr gelitten hat, bat er ganz gegen seine Gewohnheiten den Rat der Stadt um Hilfe. Die Kölner sollen sich an der Summe beteiligen.«
»Es sollen Edelmänner bestochen werden?«
»Sie würden es sicher niemals zugeben, aber genau darum geht es. Einmal war Bürgermeister von der Aducht bei uns, und Vater wurde so laut, dass ich durch die geschlossene Tür hören konnte, wie er sich über die gierigen Kriecher bei Hofe aufregte.«
»Gierige Kriecher?«
Sie setzte ein schelmisches Lächeln auf. »So nannte er sie, aber leider keine Namen. Ich hätte sie nur zu gerne gewusst.«
Ihr Vater stöhnte erneut laut im Schlaf und wälzte sich auf die Seite. Rebecca blickte erschrocken zu ihm. »Ich sollte jetzt gehen, es gehört sich nicht, dass ich nachts hier bei einem Mann bin, selbst wenn mein Vater anwesend ist.«
Seyfrid sah ihr fest in die Augen. »Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit es deinem Vater bald besser geht.«
Sie bedachte ihn mit einem langen Blick, bei dem Seyfrid nicht hätte sagen können, ob er Misstrauen oder Zuneigung ausdrücken sollte. Dann verließ sie beinah geräuschlos das Zimmer und ließ einen nachdenklichen Medicus zurück.
Als endlich der Morgen über den Dächern Kölns dämmerte, war Seyfrid zuversichtlich, dass Quentenberg es schaffen würde. Das Herz seines Patienten schlug regelmäßig, und die Nacht war ohne weitere Vorkommnisse verlaufen. Seyfrid fühlte sich müde und doch gleichzeitig euphorisch.
Kurz vor Sonnenaufgang betrat Maria Quentenberg sichtlich erregt das Zimmer. Ihre Haare hatte sie hastig unter eine Haube aus feinem Leinen gesteckt. »Wie geht es meinem Gatten?«
»Er hat durchgeschlafen, das ist ein gutes Zeichen. Er atmet ruhig. Besser könnte es nicht sein.«
Sie stieß einen erleichterten Seufzer aus. »Also, wird er wieder gesund?«
»Es spricht alles dafür.«
»Ulrich von Schwarzenberg, wir stehen tief in deiner Schuld. Wie können wir dir je dafür danken?«
»Wartet erst ab, ob ihr mir noch dankbar seid, wenn ich meine Rechnung präsentiere«, versuchte er zu scherzen.
»Egal, wie hoch sie ausfällt, mein Ehegatte hat dir sein Leben zu verdanken, und er ist ein Mann von Ehre, der seine Schulden stets begleicht.«
Seyfrid musste ein Gähnen unterdrücken. »Verzeih mir, aber ich bin sehr müde! Ich werde mich jetzt in mein Zimmer im ›Wilden Eber‹ begeben. Sorge dafür, dass dein Gatte weiterhin jede Stunde einen Becher Wasser trinkt. Ich werde mittags wieder nach ihm sehen. Sollte es ihm aber in den nächsten Stunden schlechter gehen, ruf bitte sofort nach mir!«
Als Seyfrid durch die Stube ging, bemerkte er einen Mistelzweig, der über dem Türsturz hing. Er sollte vor bösen Flüchen schützen. Seyfrid fragte sich, wen Matthias Quentenberg sich zum Feind gemacht hatte.