4. DEZEMBER 1193

Seyfrid verließ das Haus in der Lintgasse, als die ersten zarten Strahlen den Horizont in ein milchiges Blau verwandelten. Er hatte die leise Hoffnung gehegt, dass vielleicht Rebecca unten in der Stube sein würde, aber zu seinem großen Bedauern war er nicht wieder auf die wunderschöne junge Frau getroffen. Er lenkte seine Schritte durch die Gassen der Stadt, wo das Leben gerade erwachte, und fühlte eine ungeheure Zufriedenheit in sich, hatte er doch einen Todgeweihten ins Leben zurückgeholt.

In seinem Zimmer im Wirtshaus fiel er völlig erschöpft ins Bett und schlief augenblicklich ein. Nicht einmal der Lärm aus der Gaststube konnte ihn wecken. Doch das Getöse verwandelte sich in seinem Schlaf in einen Albtraum, in das fürchterliche Schlachtgetümmel, das er im Heiligen Land in all seinem Grauen erlebt hatte. Das Klirren der Schwerter, das Wiehern der Pferde und die Schreie der Verwundeten und Sterbenden mischten sich zu einem Ritt durch die Hölle. Wohl zum tausendsten Mal suchte ihn dieser Albtraum heim, in dem sich zum schrecklichen Finale der Pfeil in die Stirn Ulrichs bohrte.

Die Sonne hatte gerade ihren Zenit erreicht, als Seyfrid hochschreckte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder wusste, wo er sich befand. Er war in Schweiß gebadet, trotz der Kälte im Zimmer. Mit wild pochendem Herzen setzte er sich auf und vergrub das Gesicht in den Händen. Wann würden diese Träume endlich aufhören? Früher hatten sie ihn jede Nacht gequält, in den letzten Monaten zum Glück nur noch selten, während seiner Reise schließlich gar nicht mehr, und er hatte schon gehofft, dass er sie endlich los sei.

Der Hunger trieb Seyfrid in die zu seiner Überraschung bereits volle Wirtsstube. Peter Cüppers hatte zwar alle Hände voll zu tun, bemerkte aber Seyfrid sogleich, als dieser die Treppe herunterkam.

Der Wirt winkte ihn zu sich herüber vor das Feuer im Kamin. »Wie ich hörte, warst du die ganze Nacht bei Matthias Quentenberg.«

»Neuigkeiten sprechen sich in Köln rasend schnell herum«, stellte Seyfrid fest.

Cüppers lachte auf. »Natürlich! Du hättest seinen Secretarius Berlicher sehen sollen, als er gestern Abend weiß wie der Tod hier hereingestolpert kam und die Tasche aus deinem Zimmer holen wollte. Der hat lauter gehechelt als ein Hund und kaum ein verständliches Wort herausbekommen. Ich habe mir dann zusammengereimt, dass es nicht gut um Matthias Quentenberg steht.«

Seyfrid nickte nur, ohne sich zu äußern.

Cüppers räusperte sich verlegen. »Dürfte ich mich nach seinem Befinden erkundigen?«

»Als ich ihn am Morgen verließ, war sein Zustand zufriedenstellend«, antwortete Seyfrid vage.

»Das freut mich zu hören! Quentenberg ist ein wichtiger Mann in Köln, musst du wissen. Er ist sehr reich, hat aber keinen männlichen Erben. Wenn er plötzlich verstürbe, gäbe es so manchen, der versuchen würde, an seine Pfründe zu kommen.«

»Wen meinst du damit?«

Der Wirt zuckte die Achseln. »Es gibt einige Familien der Richerzeche, die sich wie die Ratten auf das Aas stürzen würden, um ihren Reichtum zu vermehren. Das würde zu einigen Unruhen in der Stadt führen, vielleicht sogar zum bewaffneten Streit. Quentenbergs einzige Tochter Rebecca könnte sich dann vor lauter aufdringlichen Galanen nicht mehr retten. Es ist ein Fehler, seine Nachfolge nicht rechtzeitig zu regeln.«

Seyfrid musste daran denken, wie Rebecca ihm vor wenigen Stunden erzählt hatte, dass sie hoffe, das Geschäft ihres Vaters nach seinem Tod weiterführen zu können. Es war vermessen von ihr zu glauben, dass eine Frau als Nachfolgerin akzeptiert werden würde. »Ist sie denn niemandem versprochen?«, fragte er möglichst unverfänglich.

»Nun, es heißt, dass für Matthias Quentenberg niemand gut genug sei, seine Tochter zu heiraten. Aber sie zählt, wenn ich recht unterrichtet bin, mittlerweile zwanzig Jahre, da sollte sie langsam unter die Haube kommen.«

Der reiche Gewandschneider konnte sich also noch nicht für einen Schwiegersohn entscheiden, aber wenn er tot wäre, müsste die Witwe ihre Tochter bald mit jemandem vermählen, damit das Geschäft gesichert wäre, überlegte Seyfrid. Konnte der Grund für den versuchten Mord an Matthias Quentenberg sein, dass sich jemand das Geschäft unter den Nagel reißen wollte? »Gibt es schon Kandidaten?«, fragte er.

Cüppers wiegte sein massiges Haupt, ehe er antwortete: »Es kommen natürlich nur Söhne aus den Familien der Richerzeche in Frage, die dem Haus Quentenberg wohlgesonnen sind. Du musst wissen, dass auch innerhalb der Richerzeche so mancher Disput ausgefochten wird. Vermutlich wird Quentenberg, sobald er genesen ist, wohl doch nach einem Bräutigam für Rebecca Ausschau halten. Die Vorstellung dürfte ihn zutiefst erschreckt haben, dass er fast von dieser Welt geschieden wäre, ohne dass er sein Geschäft geregelt hätte. Ich könnte mir vorstellen, dass zum Beispiel die jungen unverheirateten Männer der Familien Overstolzen, Gyr oder Birkelin in Frage kämen.«

Seyfrids Laune hatte sich schlagartig verschlechtert. Der Gedanke an das bezaubernde Wesen, das letzte Nacht in sein Leben getreten war, erfüllte sein Herz mit Wärme. Die Aussicht, dass Rebecca vielleicht bald mit jemandem verlobt sein würde, gefiel ihm überhaupt nicht. Gegen die reichen Patrizierfamilien konnte er, der unbekannte Medicus, als Kandidat wohl kaum bestehen. »Gib mir bitte einen Happen zu Essen!«, erklärte er kurz angebunden.

Der Wirt folgte der Aufforderung, und Seyfrid schlang den Teller Erbsenbrei mit etwas Brot rasch hinunter, ehe er sich wieder auf sein Zimmer begab.

***

Ein Klopfen an seiner Tür ließ den Getreuen zusammenfahren. Unwillkürlich griff er nach dem Dolch an seinem Gürtel. »Wer ist da?«, rief er.

»Lass uns ein, du Narr!«

Den singenden Akzent erkannte der Getreue sofort. Hastig zog er den Riegel zurück. Noch bevor die Haustür ganz geöffnet war, drängten sich drei in Mäntel gehüllte Männer an ihm vorbei. Ein Schwall eisiger Luft kam mit ihnen herein. »Tür zu!«, befahl der Anführer.

Der Getreue tat, wie ihm geheißen. Die zwei anderen Besucher blieben rechts und links neben der Tür stehen, der Dritte nahm unaufgefordert an dem Tisch in der Mitte des Raumes Platz und wies den Getreuen mit einer herrischen Geste an, sich ihm gegenüberzusetzen. Erst danach zog er die Kapuze seines Mantels vom Kopf. Er hatte sorgfältig gekämmte Haare und trug einen spitz zulaufenden Bart.

Zaghaft versuchte es der Getreue mit einer höflichen Begrüßung und bot ihnen Wein an, doch alle drei schwiegen. Die stechenden Augen seines Gegenübers machten den Getreuen wie immer nervös.

»Die Zeit ist bald gekommen. Können wir uns darauf verlassen, dass du alle Vorbereitungen getroffen hast?«, begann der Besucher schließlich.

»Natürlich, es ist alles so wie vereinbart«, ereiferte sich der Getreue. »Es wird keine Schwierigkeiten geben.«

»So, wie du auch mit dem Kastellan Eckard keine Schwierigkeiten hattest?«, fragte der Mann mit schneidender Stimme.

Der Angesprochene hob beschwichtigend die Hände. »Eckard hat sich in seinen Dolch gestürzt. Wenn er tot ist, stellt er für uns auch keine Gefahr mehr dar.«

»Ich dachte, du wolltest von ihm erfahren, wo sich die Tochter des Ritters von Viskenich befindet?«

»Sie spielt keine Rolle mehr. Isolde von Viskenich könnte unser Vorhaben nicht mehr vereiteln, selbst wenn sie noch lebt.«

Der Besucher erhob sich ruckartig und stützte die Fäuste auf die Tischplatte. »Das hoffe ich für dich, es hängt sehr viel davon ab«, knurrte er. »Einschließlich dein Leben.«

Der Getreue wurde blass. »Ich sagte doch, dass du dir keine Sorgen machen musst.«

»Was ist mit Quentenberg?«

»Er hat nicht mehr lange zu leben, vermutlich ist er jetzt schon tot. Er war der Einzige, der es versucht hat, sonst wird es niemand wagen.«

»Ich hoffe, du hast dich dabei geschickter angestellt als bei dem Kastellan.«

»Sei versichert, dass der Plan einwandfrei laufen wird.«

»Das rate ich dir auch.« Daraufhin drehte der Mann sich um, gab seinen beiden Begleitern einen flüchtigen Wink und verließ ohne Gruß das Haus.

Der Getreue ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Seine Hände zitterten, als er zum Weinbecher griff.

***

Seyfrid verließ den »Wilden Eber« am frühen Nachmittag. Die Familie Quentenberg hatte bis jetzt nicht nach ihm schicken lassen, also schien sich der Zustand seines Patienten nicht verschlechtert zu haben.

Als er in der Lintgasse eintraf, verweilte er einen Moment, um sich das eindrucksvolle Haus diesmal bei Tageslicht näher anzusehen. Es erschien ihm mit seinen aufwendigen Verzierungen und Schnitzereien in den Balken noch viel prachtvoller als gestern in der Dunkelheit. Unter dem Dachgiebel befand sich der obligatorische Flaschenzug, mit dem die Waren in den Speicher gehievt wurden. Ein immenser Schatz an wertvollen Stoffen aus aller Welt und hier gefertigten Kleidungsstücken musste dort oben lagern.

Als Seyfrid klopfte, öffnete ihm der hagere Alte, den er gestern flüchtig gesehen hatte.

»Sei gegrüßt! Ich komme, um nach deinem Herrn zu sehen.«

»Natürlich!«, murmelte der Knecht und machte mit einer Verbeugung den Weg frei.

»Wie ist dein Name?«

»Albert«, antwortete er erstaunt. Normalerweise interessierte es die feinen Herren wohl nicht, wie er hieß.

»Würdest du mich bitte der Hausherrin melden, Albert?«

Albert kam der Aufforderung nach, und Maria Quentenberg eilte sogleich herbei. Sie sah übernächtigt und blass aus, versuchte aber, tapfer zu lächeln. »Mein Gatte schläft seit Stunden.«

»Das werte ich als ein gutes Zeichen. Ich würde gerne nach ihm sehen.«

Sie geleitete ihn in das Schlafgemach. Matthias Quentenberg lag mit offenem Mund und zerzausten Haaren im Bett. Seyfrid war schon gestern aufgefallen, dass die Bettlaken aus fein gewobenem Leinen bestanden.

»Wird er wieder gesund?«, fragte Maria Quentenberg mit leicht bebender Stimme.

Der junge Medicus ließ sich Zeit mit der Antwort und untersuchte den Kranken vorsichtig, ohne dass dieser aufwachte. Matthias Quentenberg atmete tief und gleichmäßig, sein Puls war normal, kein Fieber. Momentan wies alles darauf hin, dass er auf dem Weg der Besserung war. Wenn ein Patient mit Vergiftung die erste Nacht überlebt hatte, standen seine Chancen meist recht gut. »Ja, es geht ihm deutlich besser«, antwortete er schließlich zuversichtlich.

Maria Quentenberg schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Sie dankte ihm überschwänglich und kniete dann vor einem Kruzifix nieder, das auf einem kleinen Tisch neben dem Bett stand. Seyfrid wollte sie nicht beim Gebet stören und verließ höflich das Zimmer.

Eigentlich hatte er gehofft, erneut auf Rebecca zu treffen, stattdessen stand Berlicher ihm gegenüber. Seyfrid war sich sicher, dass der Secretarius gelauscht hatte, um zu erfahren, wie es um seinen Herrn stand. Geringschätzig sah er Seyfrid an. Offensichtlich neidete er ihm die Hochachtung, die ihm im Haus entgegengebracht wurde. »Ich vermute, Meister Quentenberg ist auf dem Weg der Genesung?«

»Da vermutest du richtig«, hielt Seyfrid sich kurz und ging an ihm vorbei. Er mochte den Secretarius nicht.

Kaum hatte Seyfrid das Wirtshaus betreten, winkte Peter Cüppers ihn mit hektischen Gesten zu sich. Der Medicus zwängte sich zwischen einigen angetrunkenen Männern hindurch, die lauthals sangen.

»Da wartet jemand auf dich in deinem Zimmer.«

»Wer?«

Cüppers senkte die Stimme und beugte sich vor. »Ein Gesandter des Erzbischofs Adolf von Altena.«

Überrascht zog Seyfrid die Augenbrauen hoch. Er hatte mit allem möglichen gerechnet, aber damit sicher nicht. »Was will er?«

»Das hat er mir nicht verraten. Aber deine Anwesenheit in Köln hat sich offensichtlich schon bis in höchste Kreise herumgesprochen.«

Während Seyfrid die Treppe erklomm, jagten ihm die Gedanken durch den Kopf. Einerseits wäre es ein ausgesprochener Glücksfall, wenn er Zugang zu Adolf von Altena bekäme. Der Erzbischof hielt zwar selbst regelmäßig Gericht, jedoch fielen Mordfälle unter das Blutgericht, und das war dem Schöffengericht der Stadt vorbehalten. Somit hatte Adolf von Altena nichts mit dem Gerichtsverfahren gegen Johann von Viskenich zu tun gehabt. Doch Seyfrid musste auf der Hut sein, denn er hatte in der Wirtsstube schon einiges über den Erzbischof gehört: Adolf von Altena war nicht nur machtgierig und gnadenlos, sondern auch sehr gerissen.

Als Seyfrid die Tür zu seiner Kammer aufstieß, stand eine hünenhafte Gestalt vor dem Fenster und verdunkelte den Raum. Der Mann trug den Habit der Benediktinermönche und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen, sodass sein Gesicht kaum zu erkennen war. Seine Körpergröße war beeindruckend, und trotz der weiten Kleidung waren sein mächtiger Brustkorb und die breiten Schultern zu erahnen.

»Bist du Ulrich von Schwarzenberg?«

»Höchstselbst. Wer will das wissen?«

Der Besucher schlug die Kapuze zurück. Er mochte etwas über dreißig Jahre alt sein, trug kurze dunkle Haare, und sein Gesicht blieb absolut ausdruckslos. »Ich bin Bruder Maternus. Ich komme auf Geheiß seiner Exzellenz Adolf von Altena. Er gewährt dir eine Audienz.«

Es klang nicht wie eine Bitte. Dieser Mann würde ein Nein nicht akzeptieren, begriff Seyfrid. Das Verhalten des Mönches löste in ihm etwas aus, das er seit dem Krieg im Heiligen Land nicht mehr erlebt hatte. Es war eine unterschwellige Angst, ein Gefühl der Bedrohung, was seine Überlebensinstinkte weckten.

Seyfrids Muskeln spannten sich unwillkürlich, und sein Blick suchte nach verräterischen Ausbeulungen durch Waffen unter dem Habit des Besuchers. Die Hände hatte der Mönch in den jeweils gegenüberliegenden Ärmel geschoben, wo sich ein Dolch leicht verbergen ließ. Seyfrid hatte gelernt, seinen Instinkten zu vertrauen, auch wenn sein Verstand ihm sagte, dass seine Befürchtungen in der Situation keinen Sinn ergaben, schließlich handelte es sich um einen Mönch. Bruder Maternus verharrte völlig bewegungslos und wartete auf eine Antwort.

»Weshalb wünscht der Erzbischof mich zu sehen?«

»Das entzieht sich meiner Kenntnis. Wollen wir gehen?«

»Was? Jetzt gleich?«, fragte Seyfrid verblüfft.

»Ja, seine Exzellenz wartet nicht gerne.«

Seyfrid atmete einmal tief durch. Das war es dann wohl mit seiner Hoffnung auf etwas Schlaf. »Gut, gehen wir!«, fügte er sich.

Er schritt rasch die Treppe hinunter, um außerhalb der Reichweite des Mönches zu bleiben. Er kam sich töricht vor, ausgerechnet bei einem Mann Gottes Furcht vor einem Angriff zu haben, aber er blieb auf der Hut. Erst in der gut besuchten Wirtsstube entspannte er sich etwas. In der Gegenwart anderer Menschen war die Gefahr eines Angriffs wohl sehr gering.

Maternus zog seine Hände aus den Ärmeln, und Seyfrid stellte erleichtert fest, dass er keinen Dolch umklammert hielt. Seine Angst war wohl völlig unbegründet gewesen.

Auf der Straße warf er einen längeren Blick auf den schweigend neben ihm gehenden Mann. »Wie kommt es, dass ein Mönch als Bote Adolf von Altenas fungiert?«

»Ich bin sein Beichtvater.«

»Sein Beichtvater?«, wiederholte Seyfrid ungläubig. Hätte Maternus sich als die Hebamme des Kaisers ausgegeben, wäre er wohl nicht weniger erstaunt gewesen.

»Seine Exzellenz gewährt mir die Ehre«, sagte Bruder Maternus.

Seyfrid schwieg eine Weile und versuchte sich einen Reim darauf zu machen, warum Adolf von Altena ausgerechnet einen einfachen Benediktinermönch zu seinem Beichtvater gemacht hatte. Dahinter steckte sicher nicht nur, dass Maternus ein guter Zuhörer war. Seyfrid vermutete, dass es mit der einschüchternden Erscheinung des Hünen zusammenhing.

Der Mönch bog in eine winzige Gasse zwischen zwei Häusern ab, in der ein Pferd stecken bleiben würde, und führte ihn dann durch einige kleine Straßen. Seyfrid beobachtete ihn genau. Bruder Maternus bewegte sich selbstbewusst und kraftvoll, dabei schweifte sein Blick ständig umher und registrierte jeden Menschen, der sich näherte. Dieses Verhalten kannte Seyfrid nur zu gut, und er wäre jede Wette eingegangen, dass der fromme Bruder früher einmal Soldat gewesen war.

»Du bist in Köln geboren«, stellte er nach einer Weile fest.

Zum ersten Mal sah der Mönch überrascht aus. »Woher weißt du das?«

»Das sagt mir dein Zungenschlag. Außerdem hast du einen Weg gewählt, den wohl nur jemand nehmen würde, der sich hier sehr gut auskennt.«

Maternus musterte den Medicus aufmerksam, als würde er ihn plötzlich mit anderen Augen sehen. »Du hast einen scharfen Verstand«, sagte er schließlich. »Ja, ich wurde hier geboren.«

Je näher sie dem Dom kamen, desto voller wurden die Straßen. Weil das Fest des heiligen Nikolaus bevorstand, befanden sich viele Pilger in der Stadt, die alle zu der großen Kathedrale strebten, um den Heiligen Drei Königen zu huldigen. Seyfrid fragte sich, wie viel leerer es in der Stadt aussehen würde, wenn deren Gebeine damals nicht nach Köln gebracht worden wären. Die Stadt war seither einer der wichtigsten Wallfahrtsorte der Welt, auch in anderen Kölner Kirchen wimmelte es von Reliquien, bevorzugt Knochen der elftausend Jungfrauen, die der heiligen Ursula Geleit gegeben und bei einem Angriff der Hunnen vor den Toren Kölns den Tod gefunden hatten.

Seyfrid hatte an der Zahl der Begleiterinnen gezweifelt, seit er mit dem Heer Barbarossas gezogen war. Einhunderttausend Mann war das kaiserliche Heer stark gewesen, davon zwanzigtausend Ritter, und selbst dem Kaiser war es nicht leichtgefallen, so viele Edelleute um sich zu scharen. Wo um Himmels willen sollte Ursula also damals elftausend Jungfrauen herbekommen haben?

Doch solche Fragen stellten sich die Kölner nicht, schließlich ging es ihnen blendend, weil die frommen Pilger viel Geld in den Herbergen, Gastwirtschaften und bei den Handwerkern ließen. Ganz zu schweigen von den Kirchen, wo sie kräftig spendeten, in der Hoffnung, dass Gott ihnen ihre Sünden dann schneller vergeben würde. Seyfrid musste unwillkürlich an Roger Frugardi denken, der Geldspenden an die Kirche ablehnte. »Als wenn Gott Geld etwas bedeuten würde!«, hatte Frugardi bei einer ihrer Diskussionen gewettert.

Südlich des Doms lag der Palast, den Erzbischof Rainald von Dassel vor über dreißig Jahren für sich hatte errichten lassen. Auch wenn Seyfrid das Gebäude aus Kindertagen kannte, wirkte es auf ihn schon ob seiner schieren Größe immer noch beeindruckend. Der Palast ragte über drei Stockwerke hoch und maß rund achtzig Schritte in der Länge. Die Fenster waren riesig und von Rundbogen gekrönt. Doch es war das erste Mal, dass Seyfrid ihn von innen zu sehen bekommen sollte.

An der Drachenpforte, die zum Hof des Palasts führte, standen zwei verdrießlich aussehende Wächter mit langen Lanzen, die beim Anblick von Bruder Maternus sofort den Weg freigaben. Der Mönch musste kein Wort sagen, was davon zeugte, dass seine Machtfülle beachtlich war. Erneut fühlte Seyfrid ein Kribbeln, das sich von seinem Nacken über den Rücken ausbreitete. So betraten sie den Sitz des Kölner Erzbischofs. Was wollte Adolf von Altena von ihm?

***

Rebecca blickte auf die sich gleichmäßig hebende Brust ihres schlafenden Vaters. Es schien ihm besser zu gehen, er hatte nicht mehr über Schmerzen, nur noch über Mattigkeit und Schweißausbrüche geklagt.

Sie strich seine Haare vorsichtig aus der verschwitzten Stirn. Am liebsten hätte sie ihn geweckt und gefragt, wie er sich fühle, um ihr medizinisches Wissen anbringen zu können.

Vor ihrem geistigen Auge tauchte das hübsche Gesicht Ulrich von Schwarzenbergs auf – zum wievielten Male heute? Sie musste selbst lächeln, als sie sich dabei ertappte. Er sah nicht nur gut aus, er war auch überaus klug und galant. Seine medizinischen Kenntnisse überragten die ihren bei Weitem.

Seine Bestätigung, dass ihr Vater vergiftet worden war, griff erneut wie eine kalte Hand nach ihrem Herzen. Fast hätte sie ihren geliebten Vater verloren.

Immer wieder kreisten ihre Gedanken um das Gift. Ihre Tante Anna hatte ihr zwar viel über Heilkräuter beigebracht und sie auch gewarnt, dass manche davon in größerer Menge verabreicht tödlich wirkten, aber über Arsenik hatte sie nie gesprochen. Sie wusste nur, dass Arsenik eigentlich ein Stein war, den man pulverisiert ins Essen oder Getränk mischen konnte, doch sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte, bis das Gift seine Wirkung entfaltete. Eine Stunde? Zehn Stunden? Einen ganzen Tag? Wohl kaum länger.

Die Schmerzen ihres Vaters waren nachts gekommen, und Rebecca hatte bereits versucht, sich ganz genau zu erinnern, wo er am Tag vorher gewesen war, kam jedoch immer zum selben Schluss: Er hatte erst am späten Nachmittag das Haus verlassen, um der Versammlung des Rats im Haus der Bürger beizuwohnen, nur dort hätte ihm jemand das Arsenik verabreichen können. Oder sollte jemand im eigenen Haus …?

Rebecca wagte kaum, darüber nachzudenken, und doch hätte das Gesinde natürlich die Möglichkeit gehabt, im Laufe des Tages heimlich Arsenik in ein Getränk zu geben. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Ihr Vater war zwar kein Heiliger, aber er behandelte alle im eigenen Haus gut, die Lehrlinge, Knechte und Mägde hatten keinen Grund, sich zu beschweren.

Andererseits konnte Rebecca es nicht völlig ausschließen, dass jemand von ihnen für viel Geld schwach werden würde. Hatte der Secretarius Berlicher nicht vor einiger Zeit um mehr Lohn gebeten und es war ihm verwehrt worden? Doch er war schon viele Jahre für die Familie tätig, und ihr Vater vertraute ihm.

Rebecca verscheuchte den Gedanken wieder und konzentrierte sich auf den Rat der Stadt. Dort gab es einige Männer, mit denen ihr Vater gelegentlich Meinungsverschiedenheiten hatte, mitunter auch hitzige Wortgefechte. Meistens ging es dabei um Geschäfte, manchmal um gemeinsame Entscheidungen, doch irgendwie einigte man sich schließlich immer. Ihr Vater galt als wortgewandter und geschickter Unterhändler, deshalb war er auch ausgewählt worden, um im Namen des Rats der Stadt Köln mit dem Erzbischof zu verhandeln. Nur gelegentlich war er über bestimmte Angelegenheiten des Rats so aufgewühlt, dass er sich im Kreis seiner Familie lauthals darüber beschwerte, und die Verhandlungen über die Beteiligung an der Freilassung von Richard Löwenherz gehörte dazu. Rebecca wusste, dass ihr Vater sich im Haus der Bürger sehr dafür eingesetzt hatte. Die Namen derjenigen, die warnten, es sich mit dem französischen König nicht zu verderben, hatte er jedoch nicht preisgegeben.

Rebecca erhob sich mit einem Ruck vom Krankenlager ihres Vaters. Sie musste herausfinden, wer der Giftmischer war. Denn auch wenn der Anschlag auf das Leben ihres Vaters diesmal gescheitert war, hieß es nicht, dass der Mörder es nicht wieder versuchen könnte. Doch das würde Rebecca auf keinen Fall zulassen.

***

Seyfrid durchquerte staunend den Saal des erzbischöflichen Palasts und konnte sich an der opulenten Architektur kaum sattsehen. Das Gebäude war dreiteilig in der Längsrichtung, fein gearbeitete Säulenreihen trugen das Mittelschiff. Der Saal ragte zwei Stockwerke hoch, ein gewaltiger Kamin sorgte für angenehme Wärme, trotz der riesigen Ausmaße des Raums. Seyfrid wurde zu einer Holztür mit Messingbeschlägen am Ende des Saals geführt. Bruder Maternus klopfte zweimal kurz an. Ein scharfes »Herein!« erklang, und der Mönch öffnete die Tür.

Die Wohnung des Erzbischofs war exquisit eingerichtet. Die verzierten Stühle waren mit Samt bezogen und das goldene Kruzifix auf dem einzigen Tisch mit Edelsteinen besetzt. Ein mächtiger Schrank aus Eiche mit aufwendigen Schnitzereien zog sich eine komplette Wand entlang. Von der Decke hing ein mehrarmiger Leuchter. Die beiden großen Fenster bestanden aus buntem Glas. Seyfrid fragte sich, ob der Prunk dazu diente, dem Besitzer zu schmeicheln oder Besucher zu beeindrucken.

Adolf von Altena zählte sechsunddreißig Jahre, sein Gesicht war aber von so vielen Falten durchzogen, dass er älter wirkte. Von der Statur her war er hager, seine schmale lange Nase und sein stechender Blick verliehen ihm das Antlitz eines Raubvogels.

Er stammte aus einem einflussreichen Adelsgeschlecht und war bereits im Alter von zwanzig Jahren zum Domherrn in Köln erkoren worden. Sein Aufstieg ging danach unaufhaltsam weiter, der ehrgeizige junge Adlige wurde zunächst zum Domdechant und anschließend zum Domprobst gewählt, bevor er vor wenigen Monaten zum neuen Erzbischof von Köln ernannt worden war. Nächstes Jahr stand die offizielle Bischofsweihe an, doch sein Amt füllte er jetzt schon mit einer Nachdrücklichkeit aus, wie es nur sehr ehrgeizige Menschen vermochten. Seinen Erfolg hatte er nicht nur seiner Redegewandtheit, sondern vor allem seiner Skrupellosigkeit zu verdanken.

Adolf von Aducht folgte seinem Onkel Bruno III. von Berg auf den Stuhl des Kölner Erzbischofs, da dieser angeblich aus Altersgründen vor einigen Monaten offiziell abgedankt hatte. Doch Seyfrid hatte im Wirtshaus anderes gehört. Niemand in Köln glaubte so recht an die fadenscheinige Begründung, denn Bruno III. von Berg galt als schwach und leicht beeinflussbar. Sein Neffe hingegen war ein berüchtigter Ränkeschmied, und schon seit Jahren sei es sein erklärtes Ziel gewesen, Erzbischof zu werden.

In Köln kursierten Gerüchte, dass Adolf seinen Onkel gezwungen habe, auf das Amt zu verzichten. Bruno hatte wohl zu oft hübschen Jünglingen lüsterne Blicke zugeworfen, als dass seine Vorliebe für das eigene Geschlecht verborgen geblieben wäre. In den Wirtshäusern erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, Adolf hätte dafür gesorgt, dass ein gut aussehender Novize in Brunos Nähe arbeitete. Der Erzbischof konnte seine Finger nicht von ihm lassen, und es habe nicht lange gedauert, bis Adolf seinen Onkel vor die Wahl stellte, auf sein Amt zu verzichten und sich auf seinen Altersitz nach Berg zurückzuziehen oder öffentlich der Unzucht mit Männern angeklagt zu werden. Sein Onkel habe sich rasch gefügt.

Adolf von Altena war ein geschickter Stratege, der seine Ziele stets zu erreichen wusste. Dass man ihn zum Erzbischof gewählt hatte, war eine reine Marginalie, schließlich hatte er schon im Vorfeld die betreffenden Geistlichen dazu überredet und mit großzügigen Geschenken bedacht. Wer ihn dennoch nicht unterstützte, sollte bald die hässliche Seite Adolf von Altenas kennenlernen.

Einige Leute habe er wohl durch Erpressungen und Drohungen gefügig gemacht hatte, munkelte man. Von Altena war kein Anhänger des Kaisers, dafür widersprachen Heinrichs Interessen doch zu sehr seinen eigenen, wobei es dem Erzbischof dabei nicht um geistliche, sondern um rein weltliche Angelegenheiten ging. Er war jedoch geschickt genug, Heinrich keine Handhabe gegen sich zu liefern.

Der Kaiser versuchte schon lange, in seinem Reich den Einfluss des Papstes zurückzudrängen, und die Selbstherrlichkeit der Erzbischöfe war ihm ein Dorn im Auge. Gleichzeitig war er aber auf die Unterstützung des Erzbischofs der mächtigsten Stadt im Reich angewiesen.

Auch in Köln hatte Adolf von Altena nicht viele Freunde. Traditionell war das Verhältnis zwischen dem Erzbischof und dem Kölner Bürgertum – vornehmlich der Richerzeche – gespannt bis offen feindselig. Jede Partei beanspruchte die Entscheidungsgewalt über die Stadt für sich. Geklärt war die Lage noch lange nicht.

Es ist, als ob zwei Könige über ein Land regierten, ging es Seyfrid durch den Kopf, als er nun Adolf von Altena zum ersten Mal leibhaftig gegenüberstand. »Ulrich von Schwarzenberg, zu Diensten, Eure Exzellenz!«, begrüßte er den Erzbischof geziemend, aber knapp.

Der Erzbischof saß betont aufrecht, seine rechte Hand mit drei edelsteinbesetzten Ringen tappte auf die Armlehne. Er fixierte Seyfrid mit einem durchdringenden Blick. »Ihr seid also der junge Medicus, der vorhat, in Köln zu praktizieren.«

Die Etikette gebot es, dass Seyfrid den Kirchenfürsten in höfischer Form ansprach, umso überraschter war er, dass von Altena auch ihn mit dem respektvollen »Euch« bedachte. Die Stimme des Erzbischofs klang höher als erwartet. Mit einer kurzen Handbewegung entließ er Bruder Maternus, der sich verbeugte und die Tür hinter sich schloss.

Adolf von Altena bot Seyfrid keinen Stuhl an, er ließ ihn stehen. Eine Machtdemonstration, wie sich Seyfrid bewusst war. Er hatte ein solches Verhalten schon bei Kaiser Barbarossa und später bei König Richard erlebt, wenn sie im Heerlager Abgesandte feindlicher Herrscher empfingen und klarstellen wollten, wer das Sagen hatte.

»Man sagte mir, dass Ihr an der Scola Medica Salernitana von dem berühmten Roger Frugardi gelernt habt.«

»Ich hatte die Ehre, von ihm unterrichtet zu werden.«

»Wieso wollt Ihr Euch in Köln niederlassen? Gäbe es nicht viel verlockendere Möglichkeiten in Italien?«

Mit dieser Frage hatte Seyfrid gerechnet. »Gewiss, aber nur wenn ich gebürtiger Italiener wäre. Den Deutschen misstraut man dort zutiefst, seit Kaiser Friedrich Barbarossa Italien erobert hat. Es erschien mir daher ratsamer, mich in der bedeutendsten deutschen Stadt niederzulassen, zumal mir gesagt wurde, dass hier gute Ärzte vonnöten wären.«

Zum ersten Mal gestattete sich von Altena ein Lächeln, das allerdings eher wie das einer Schlange kurz vor dem Zuschlagen wirkte. »Fürwahr, auch wenn das unsere hiesigen Quacksalber sicher nicht gerne hören werden. Aber es entspricht der Wahrheit, dass die meisten von ihnen nicht einmal das Wissen eines simplen Baders besitzen, sich aber hochtrabend als Medicus bezeichnen.«

Er beugte sich leicht vor und erschien etwas entspannter. »Dennoch solltet Ihr Euch vor ihnen in Acht nehmen, sie verteidigen ihre Pfründe mit großer Eifersucht und gönnen sich gegenseitig keinen Erfolg. Sie befleißigen sich besonders gerne der üblen Nachrede.«

»Habt Dank für Eure Warnung! Als Ihr mich habt rufen lassen, vermutete ich, dass Ihr ein Leiden habt. Allerdings macht Ihr keinen kranken Eindruck auf mich.«

»Ihr verfügt über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe«, stellte von Altena fest und erhob sich. Er ging zum Fenster und blickte scheinbar in Gedanken versunken hinaus. Menschen liefen über den Platz vor dem Palast, unterhielten sich mit Bekannten, Pilger eilten zum Dom oder ließen sich von fliegenden Händlern gefälschte Reliquien aufschwatzen.

Von Altena ließ eine ganze Weile verstreichen, ehe er weitersprach, ohne sich umzudrehen. »Diese Stadt mag auf Euch einen friedlichen Eindruck machen. Geschäftig und ruhelos, aber friedlich. Doch das ist sie nicht. In Köln herrscht Krieg.«

Er wandte sich um und blickte Seyfrid direkt in die Augen. Der junge Medicus spürte eine Kälte, die ihm Unbehagen einflößte.

»Dieser Krieg wird nicht mit Schwert und Lanze ausgefochten, es gibt noch nicht einmal klare Linien, wer auf welcher Seite steht. Aber mächtige Männer wollen in Köln ihre Interessen durchsetzen, koste es, was es wolle.«

Er machte ein paar Schritte auf Seyfrid zu und deutete mit dem ausgestreckten Arm nach draußen. »Keiner der Bürger ahnt davon etwas, nur wenige Eingeweihte wissen ob der Gefahr. Ich bin der Einzige, der sich ihnen in den Weg stellt.«

Seyfrid war verwirrt und gleichzeitig auf der Hut. »Verzeiht, aber ich verstehe nicht, wovon Ihr sprecht.«

Zu seiner Überraschung legte von Altena den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. »Das hatte ich auch nicht erwartet.« Er ließ sich auf den Stuhl fallen und setzte einen fast schon gütigen Gesichtsausdruck auf. Es war erstaunlich, wie schnell der Erzbischof seine Stimmungen wechselte. »Ihr könnt mir helfen, mein junger Freund.«

»Womit? Ich bin nur ein Medicus.«

»Ebendeshalb. Ihr habt Matthias Quentenberg rasch wieder genesen lassen. So etwas spricht sich in Köln schnell herum. Die Herren aus der Richerzeche werden sich um Euch reißen, den berühmten Medicus aus Italien.«

Daher weht also der Wind, dachte Seyfrid. »Nun, ich fürchte, berühmt bin ich nicht, und bislang hat mich von den wohlhabenden Familien noch niemand anderer als Matthias Quentenberg konsultiert«, wandte er ein.

»Das wird noch kommen, verlasst Euch darauf! Ihr seid wie ein appetitlicher Happen feinsten Fleisches, mit dem man vor der Nase eines Hundes fuchtelt. Wenn sie vor den anderen Familien der Richerzeche damit prahlen können, Euch als Ihren Medicus zu haben, werden sie es tun.«

Das entsprach natürlich genau Seyfrids Plan, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass ihn der Erzbischof für sich nützen würde. »Ich hoffe, Ihr erwartet nicht, dass ich Euch über die Krankheiten meiner Patienten in Kenntnis setze.«

Von Altena schlug mit der Faust auf die Armlehne. »Es interessiert mich einen Scheißdreck, ob sie die Krätze oder das Antoniusfeuer haben! Aber einem Medicus wie Euch vertrauen sie auch andere Geheimnisse an, wenn Ihr sie nur geschickt genug befragt. Ich will wissen, ob die feinen Herren der Richerzeche gerade vermehrt Kontakte mit anderen Ländern pflegen. Sind Fremde bei ihnen zu Gast oder haben sie Boten empfangen?«

Seyfrid fragte sich, was hier vorging. Welche Verschwörung war in Köln im Gange? »Wie soll ich das anstellen?«

»Haltet einfach Eure Augen und Ohren offen. Wenn sie eine Krankheit haben, fragt, ob vielleicht jemand aus der Fremde sie angeschleppt haben könnte. Benutzt Euren Verstand, denn ich sehe, dass Ihr viel davon besitzt.«

»Ich soll sie für Euch aushorchen, damit Ihr sie in der Hand habt?«, empörte sich Seyfrid.

Im nächsten Moment bereute er seine unbedachten Worte, aber da war es schon zu spät. Er hatte sehr wohl schon von dem heftigen Temperament des Erzbischofs gehört und befürchtete nun einen Wutausbruch. Doch stattdessen erschien zum ersten Mal ein echtes Lächeln auf dem Gesicht des Geistlichen.

»Wahrlich, Ihr gefallt mir immer besser! Ihr lasst Euch keine Angst einjagen. Nun, wertet es so, dass Ihr dies nicht für mich, sondern zum Wohle Kölns tut. Glaubt mir, es steht sehr viel auf dem Spiel.«

»Würdet Ihr mir wohl verraten, um was es hier geht?«

Das Lächeln des Erzbischofs wurde noch breiter. »Es ist besser, wenn Ihr darüber keine tieferen Kenntnisse besitzt. Seid versichert, das dies nur zu Eurem eigenen Besten dient, denn je weniger Ihr wisst, desto weniger seid Ihr in Gefahr. Deshalb solltet Ihr auch niemandem von unserem Treffen berichten, es würde rasch großes Misstrauen Euch gegenüber hervorrufen.«

Adolf von Altena war mit allen Wassern gewaschen und bestimmt niemand, dem man vertrauen sollte, dessen war sich Seyfrid bewusst. Dennoch war dies ein Wink des Schicksals, den er nicht ungenutzt lassen durfte. Wenn jemand Licht in das Komplott gegen seinen Vater bringen konnte, dann war es der Erzbischof. Seyfrid wusste noch nicht, wie er ihn darüber befragen konnte, ohne ihn misstrauisch zu machen, aber er hoffte, dass sich irgendwann eine Gelegenheit bieten würde.

Er verbeugte sich tief entsprechend dem höfischen Zeremoniell. »Ich werde mein Bestes tun und hoffe, Euch nicht zu enttäuschen.«

»Ihr seid ein junger Ehrenmann ganz nach meinem Geschmack. Ich bin sicher, dass Ihr es noch weit bringen werdet«, sagte der Erzbischof freundlich und sah ihn dann plötzlich scharf an. »Vorausgesetzt, Ihr folgt meinen Ratschlägen.«

Seyfrid hörte sehr wohl die versteckte Drohung, tat jedoch so, als würde er es als Kompliment aufnehmen. »Wem sollte ich meine besondere Aufmerksamkeit widmen?«

»Ich sehe, Ihr lernt schnell. Nun, haltet Euch zunächst an Matthias Quentenberg, der wird Euch das Tor zu den anderen wichtigen Männern der Richerzeche öffnen. Sucht nach denjenigen, die dort das Sagen haben, die beiden Bürgermeister ebenso wie die Oberhäupter der reichsten Familien. Ihr werdet nur und ausschließlich mir berichten! Wenn Ihr eine Nachricht für mich habt, wendet Euch an Bruder Maternus, er wird dann ein Treffen arrangieren. Ihr findet Maternus gewöhnlich in der Kirche Sankt Alban. Falls Ihr ihn dort am Quatermarkt nicht antrefft, sagt dem Küster, dass Ihr Maternus sprechen wollt, er wird Euch dann aufsuchen.«

Mit einer Handbewegung entließ er Seyfrid aus der Audienz. Der Medicus verbeugte sich höflich und verließ grübelnd den Palast. Er beabsichtigte keineswegs, jemanden zu denunzieren. Den Zwist zwischen Erzbischof und dem Kölner Rat könnte er jedoch für seine Zwecke nutzen. Er würde versuchen, das Vertrauen beider Seiten zu gewinnen, ohne dass sie voneinander wussten. Irgendwer musste mehr über die Intrige gegen seinen Vater wissen.

Es war bereits Non, und Seyfrid fand, dass es wieder an der Zeit sei, nach Quentenberg zu sehen. Die Gefahr für ihn war noch nicht überstanden, das Gift konnte immer noch sein Unheil anrichten.

Vom Palast des Erzbischofs machte er sich auf den Weg zur Lintgasse. Das Wetter war unfreundlicher geworden, es wehte ein eisiger Wind, dennoch waren die Straßen voll von Menschen. Mägde auf dem Weg zum Brunnen, Knechte, die Einkäufe schleppten, Bauern, die ihre Waren in die Stadt brachten, und dazwischen jede Menge Pilger auf Wallfahrt. Der Alter Markt war brechend voll, und Seyfrid hatte Mühe, sich zur Lintgasse durchzukämpfen.

Auf sein Klopfen öffnete Knecht Albert die Tür und gewährte ihm untertänig Einlass. Seyfrid wollte gerade die Schwelle überschreiten, als er merkte, dass jemand direkt hinter ihn trat. Abwehrbereit fuhr er herum, der Mann vor ihm schrak zurück.

»Verzeih! Bist du der neue Medicus?«, fragte der Unbekannte.

Der Mann schien Ende vierzig zu sein, hatte einen stattlichen Bauch und feiste Wangen. Die Augen mit den schweren Tränensäcken erinnerten an die eines traurigen Hundes. Seine Kleidung war exquisit, und Seyfrid zweifelte keine Sekunde, dass der Mann zur Richerzeche gehörte.

Er verbeugte sich höflich. »Ulrich von Schwarzenberg. Zu Diensten.«

»Sehr schön! Wie geht es Matthias Quentenberg?«

»Dürfte ich zunächst deinen Namen erfahren?«

Der Mann sah ihn etwas erstaunt an, als erwarte er, dass man ihn selbstverständlich kennen müsse, und hielt einen weißen Stab hoch. »Siehst du den Stab? Ich bin Friedrich von der Aducht.«

Seyfrid erinnerte sich dunkel, dass die beiden Bürgermeister von Köln den weißen Stab als Zeichen ihres Amtes trugen. »Entschuldige meine Unwissenheit, Bürgermeister, aber ich bin neu in der Stadt.«

Von der Aducht winkte ungeduldig ab. »Schon gut, aber was ist nun mit Matthias?«

»Vielleicht sollten wir das drinnen besprechen.«

»Natürlich, wo habe ich nur meinen Kopf!«

Als sie die Stube betraten, kam auch schon Maria Quentenberg die Treppe herabgeeilt. Ihr strahlendes Gesicht wertete Seyfrid als gutes Zeichen.

»Ulrich! Gerade ist mein Gatte erwacht und wünscht dich zu sehen.« Erst jetzt nahm sie auch den zweiten Besucher wahr. »Oh, Bürgermeister von der Aducht! Verzeih mir, dass ich dich nicht sogleich gegrüßt habe, aber du verstehst sicher, dass mich die Sorge sehr mitnimmt.«

»Natürlich! Ich hoffe, dass sich dein Gatte wieder besser fühlt.«

»Ja, es geht ihm wieder gut.«

Maria Quentenberg zuckte bei der Behauptung nicht einmal mit der Wimper. Seyfrid begriff, dass Matthias Quentenberg seiner Familie und dem Gesinde ganz offensichtlich verboten hatte, etwas über die Ernsthaftigkeit seiner Krankheit nach außen dringen zu lassen. Die Gerüchte konnten seinem Geschäft sonst Schaden zufügen.

»Das ist erfreulich zu hören!«, tat der Bürgermeister erleichtert kund. »Wann können wir erwarten, dass er seine Geschäfte wieder aufnimmt?«

Sie zögerte und sah fragend zu Seyfrid herüber. »Nun, er wird sicher noch ein paar Tage ruhen müssen, ehe er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist«, erklärte der Medicus.

Der Gesichtsausdruck von der Aduchts verriet, dass er auf einen früheren Zeitpunkt gehofft hatte. Offensichtlich pressierte es. Seyfrid vermutete, dass Matthias Quentenberg dringend als Unterhändler des Kölner Rats gebraucht wurde.

Der Bürgermeister räusperte sich. »Dann werde ich die frohe Kunde unter unseren geschätzten Freunden verbreiten, dass uns Matthias noch lange mit seinen schlechten Witzen beglücken wird!« Er ließ ein dröhnendes Lachen vernehmen, dann wandte er sich Seyfrid zu.

»Ich würde dich gerne zu einem Bankett in unser Haus der Bürger heute Abend einladen, nur wenige Schritte von hier direkt hinter dem Alter Markt. Es werden einige erlauchte Gäste anwesend sein. Kann ich mit deinem Erscheinen rechnen?«

Seyfrid hätte fast gelacht. Die Vorhersage des Erzbischofs, dass sich die Richerzeche um den neuen Medicus reißen würde, erfüllte sich schneller als erwartet. »Da ich heute Abend noch nichts vorhabe, werde ich mit Vergnügen kommen.«

»Du wirst Bekanntschaft mit einigen der wichtigsten Männer Kölns machen und es sicher nicht bereuen.«

Von der Aducht verbeugte sich für seine Körperfülle erstaunlich galant vor Maria Quentenberg, um sich zu verabschieden.

Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, wandte sich Seyfrid an die Hausherrin. »Geht es deinem Gatten tatsächlich besser?«

»Nun, er sagt, er habe zwar noch Schmerzen, aber fühle sich bereits viel wohler.« Sie deutete zur Treppe, und Seyfrid stieg allein hinauf, um sich in das Schlafgemach zu begeben.

Quentenberg standen die Haare wirr vom Kopf ab, und er war immer noch blass im Gesicht. »Ah, mein Medicus!«, begrüßte er ihn mit heiserer Stimme, versuchte aber, ein Lächeln zustande zu bringen.

»Wie fühlst du dich?«

»Die höllischen Schmerzen im Bauch sind gelindert, dafür dröhnt mein Kopf.«

Seyfrid hieß den Patienten, sich aufzusetzen, blickte ihm in die Pupillen, untersuchte den Bauch und fühlte den Puls. Die Stirn hatte normale Temperatur, und die Haut wies keine Flecken auf.

Er nickte zufrieden. »Du bist auf dem Weg der Besserung, aber wirst sicher noch einige Tage Schmerzen verspüren. Du solltest die nächsten drei Tage nicht aufstehen und viel trinken, aber ich bin zuversichtlich, dass du wieder gesund wirst. Ich werde dir bei einem Apotheker eine Medizin zubereiten lassen, die dir helfen wird.«

»Das sind fürwahr gute Nachrichten.«

»Kannst du mir einen Apotheker in Köln empfehlen?«

»Aber ja, Bartholomäus Brosach, er hat seine Apotheke am Hof von Sankt Maria im Kapitol. Er ist der einzige Apotheker in Köln, dem man vertrauen kann. Die anderen würden dir auch Kuhfladen als Medizin verkaufen.«

Der wohlbeleibte Gewandhändler ließ sich auf das Kissen zurückfallen. Er schloss für einen Moment die Augen, bevor er Seyfrid wieder ansah. »Du sagtest, die Schmerzen kämen von verdorbenem Essen, das ich abends auf dem Bankett des Rats zu mir genommen habe.«

Seyfrid überlegte kurz, was er antworten sollte, ehe er vorsichtig formulierte: »Nun, es scheint mir eine mögliche Erklärung zu sein.«

»Ich habe meinen Secretarius bei einigen Stadträten nachfragen lassen. Niemand klagte dort nach dem Essen über Unwohlsein oder gar Schmerzen, obwohl sie dieselben Speisen zu sich genommen haben. Ich bin der Einzige, dem es schlecht geht. Hast du dafür eine Erklärung?«

Der junge Medicus wusste, dass er seinem Patienten die Wahrheit schuldig war. »Eine weitere mögliche Ursache könnte eine Vergiftung sein«, gestand er schließlich.

»Eine Vergiftung?«, wiederholte Quentenberg, mehr empört als entsetzt. »Eine Vergiftung wodurch?«

Seyfrid beschloss, mit der Wahrheit herauszurücken. »Deinen Symptomen nach zu urteilen, könnte es sich um Arsenik handeln, auch als Hüttenrauch bekannt.«

Quentenbergs Blick schweifte gedankenverloren über die Bettdecke. »Arsenik.« Seine Stimme war ein Flüstern geworden.

»Gibt es irgendjemand unter den Brüdern der Richerzeche, der dir nach dem Leben trachtet?«, fragte Seyfrid direkt.

»Bist du von Sinnen?«, fuhr Quentenberg ihn scharf an. »In der Richerzeche halten wir zusammen. Niemand wäre so hinterhältig, mir –« Er brach abrupt ab, als wäre ihm ein Gedanke gekommen.

Seyfrid zog die Augenbrauen hoch. »Also gibt es jemanden.«

»Nein«, antwortete der Gewandhändler barsch. »Kümmere dich darum, dass ich rasch wieder gesund werde, und halte dich aus meinen Angelegenheiten heraus!«

Mit diesen Worten entließ er den jungen Medicus. Nachdenklich öffnete Seyfrid die Tür.

Vor dem Schlafgemach wartete Maria Quentenberg, die ihn sofort besorgt fragte: »Wie geht es ihm?«

»Schon viel besser. Er sollte noch ein paar Tage im Bett bleiben, aber ich bin sicher, dass er wieder ganz gesund wird.«

Sie bekreuzigte sich und blickte dankbar gen Himmel. »Dem Herrgott sei Dank! Ich habe Tag und Nacht für seine Genesung gebetet.«

»Deine Gebete sind erhört worden. Du siehst, es war kein Hexenfluch.«

Sie blickte ihn entsetzt an, schlug erneut hastig ein Kreuz und flüsterte: »Das darfst du nie laut sagen, das bringt Unglück!«

»Verzeih meine Unwissenheit!«

»Ich bin dir sehr dankbar, dass du dich so selbstlos um ihn gekümmert hast.«

»Das habe ich gerne getan. Wenn wir gerade von Kümmern reden: Ich fand es sehr freundlich vom Bürgermeister Friedrich von der Aducht, sich nach dem Befinden deines Gatten zu erkundigen.«

»Oh, er war nicht der Einzige. Die Häupter unserer vornehmsten Patrizierfamilien, Gerhard vom Hof, Dietrich von der Mühlengasse und Gottschalk Overstolz, haben durch Boten ihre besten Genesungswünsche ausrichten lassen. Auch unser anderer Bürgermeister, Theoderich Hungs, hat sich persönlich bei mir nach dem Befinden meines Gatten erkundigt. Zudem war heute schon die halbe Richerzeche hier: Dominikus Scherfgin, Richof Parfuse, Heinrich Kleingedank, Theodor Gyr, Karl Birkelin, Herimanus Grin, Jacob Hoengen und Walter Hardenrath«, zählte Maria Quentenberg sichtlich stolz auf. »Du siehst, alle wichtigen Bürger nehmen Anteil am Befinden meines Gatten.«

Seyfrid fragte sich, ob vielleicht der Giftmischer darunter war, der sich vergewissern wollte, ob sein Anschlag erfolgreich gewesen war. »Es freut mich zu hören, dass so viele Menschen um ihn besorgt sind«, erklärte er schließlich.

Maria Quentenberg fasste sich an den Kopf. »Aber da rede ich immer weiter, dabei möchtest du doch sicher deinen Lohn haben. Sag, wie viel schulden wir dir?«

Seyfrid war von der Frage überrumpelt, er hatte sich noch gar keine Gedanken über die Bezahlung gemacht und zögerte daher.

»Sind zehn Denare genug?«, fragte sie.

Ihm blieb fast die Luft weg. »Natürlich!«

Sie zog einen prall gefüllten Beutel aus ihrem Gewand und reichte ihn Seyfrid. »Hab noch einmal Dank!«

»Ich habe zu danken!« Seyfrids Stimme klang etwas heiser. So viel Geld hatte er noch nie auf einen Schlag bekommen.

Er stieg die Treppe hinab und verharrte einen Moment, in der Hoffnung, er würde vielleicht Rebecca treffen. Doch von der jungen Frau war auch diesmal nichts zu sehen.

Seine Gattin betrat das Schlafgemach, wo Matthias Quentenberg immer noch bleich und mit verschwitzten Haaren im Bett lag.

»Das sind wahrlich gute Nachrichten, Matthias! Der Medicus ist überzeugt, dass du bald genesen sein wirst. Ich vertraue ihm, auch wenn er noch sehr jung ist. Er macht einen sehr überlegten und ehrlichen Eindruck auf mich.« Die Erleichterung war ihr anzusehen.

Sie bekreuzigte sich. »Die Jungfrau Maria hat ihre schützende Hand über dich gehalten. Ich habe in St. Brigiden eine Kerze angezündet und für dich gebetet.«

Matthias Quentenberg brummte etwas Unverständliches, sie wertete es wohl als Zustimmung. »Das war die Strafe für deine Hoffart. Ich hoffe, du verzichtest jetzt auf den Kauf dieser blöden Burg.«

»Weib, was redest du da? Meine Erkrankung hat nichts damit zu tun! Ich beabsichtige auch weiterhin, die Burg Viskenich zu kaufen. So eine Gelegenheit kommt nie wieder. Ich kann es kaum abwarten, die dummen Gesichter meiner lieben Brüder der Richerzeche zu sehen.«

Maria Quentenberg reagierte enttäuscht. »Matthias, ich bitte dich, versündige dich nicht gegen Gott! Es war eine Warnung, auf der Burg lastet ein Fluch!«

»Sei nicht albern!«

»Aber hast du denn nicht gehört, dass der Geist des Ritters von Viskenich auf der Burg umgeht?«

»Wer hat mit diesem Unsinn eigentlich angefangen? Irgendein Klatschweib, das sich wichtigmachen wollte. Ich kenne niemanden, der einen Geist auf der Burg gesehen hat.«

»Matthias, ich fürchte um dein Seelenheil.«

»Mach du dir mal keine Sorgen um mein Seelenheil! Ich werde die Burg kaufen, sobald das Gericht bestätigt hat, dass keiner mehr einen Anspruch auf sie erhebt. Es kann nicht mehr lange dauern.«

»Aber ganz offensichtlich will der Geist des Ritters nicht, dass jemand anders auf der Burg lebt.«

Matthias Quentenberg fuhr aus dem Bett hoch und brüllte: »Schluss jetzt! Ich will das Wort Geist in diesem Haus nie wieder hören! Hast du verstanden, Maria?«

Mit Tränen in den Augen lief sie aus dem Schlafgemach. Matthias Quentenberg sank wieder in das Kissen zurück.

Schon bald bekam er ein schlechtes Gewissen. Nicht weil er die Burg kaufen wollte, denn das war die Erfüllung eines lang gehegten Traums, sondern weil er Maria damit in Angst versetzte. Auch wenn er es ihr nicht offen sagen konnte, so liebte er sein stets um ihn besorgtes Eheweib doch sehr.

Aber auf die Burg würde er nicht verzichten, er war so nah dran. Wenn ihm nicht die vermaledeite Krankheit dazwischengekommen wäre, hätte er schon längst Druck beim Gericht gemacht, um die Sache zu beschleunigen. Sobald das Urteil gefällt und schriftlich bestätigt worden war, dass die Burg nicht mehr von der Familie von Viskenich als Lehen in Anspruch genommen werden könne, da es keine Nachkommen gab, würde er sie kaufen.

Er hatte bereits dem Erzbischof, zu dessen Besitz die Ländereien derer von Viskenich gehörten, ein Angebot unterbreitet, und Adolf von Altena schien geneigt, ihn als neuen Lehensnehmer zu akzeptieren.

Mit diesem friedlichen Gedanken glitt Matthias Quentenberg wieder in den Schlaf.

***

Einerseits glücklich, nun über genügend Geld zu verfügen, um die nächsten Wochen über die Runden zu kommen, andererseits enttäuscht, Rebecca nicht gesehen zu haben, hatte Seyfrid das Haus verlassen. In der Lintgasse herrschte reges Treiben. Seyfrid begab sich gedankenverloren auf den Weg zum Alter Markt. An der nächsten Ecke zupfte ihn plötzlich jemand am Ärmel. Als er sich umsah, durchfuhr ihn ein freudiger Schreck: Rebecca!

Sie hatte einen dunkelblauen Umhang über den Schultern und eine Haube über ihre dunklen Haare gezogen. Natürlich ziemte es sich nicht für eine junge Frau, einen Mann auf offener Straße anzusprechen, schon gar nicht allein. Doch sie tat es. Das gefiel Seyfrid an ihr: Sie scherte sich wenig um Regeln.

»Verzeih, Ulrich von Schwarzenberg, dass ich dich so überrumpele, aber ich wollte mich bei dir für die Rettung meines Vaters bedanken.«

»Das hättest du zu Hause einfacher haben können.«

Sie legte den Kopf leicht zur Seite und sah ihn mit einem Lächeln an. »Dort könnten wir wohl kaum so ungezwungen reden wie hier.«

»Du hast mir also aufgelauert?«

»Das klingt so, als hätte ich dich überfallen wollen. Sagen wir: Ich habe es nicht ausgeschlossen, dich hier zu treffen.«

»Wollen wir ein Stück zusammen gehen?«, schlug Seyfrid vor, da man sie vom Haus ihrer Eltern immer noch sehen konnte.

»Gerne.«

Sie schlenderten wie selbstverständlich die Straße entlang, als wären sie alte Bekannte. Seyfrid überkam ein Glücksgefühl, wie er es seit Langem nicht mehr empfunden hatte.

»Ich muss mich für mein Benehmen letzte Nacht entschuldigen. Ich habe dir mit meinem Misstrauen unrecht getan«, sagte Rebecca.

»Nein, ich kann dich nur allzu gut verstehen. Deinem Vater ging es wirklich schlecht.«

»Ja, aber du hast das Richtige getan. Sonst wäre er nun vermutlich schon tot.«

»Es freut mich, wenn ich Menschen helfen kann.«

»Erzähl mir von dir. Wie bist du Medicus geworden?«

Seyfrid hatte sich, schon lange bevor er in Köln eingetroffen war, eine glaubhafte Geschichte zurechtgelegt. Aber als er nun neben Rebecca herlief, kam es ihm auf einmal falsch vor, sie anzulügen. Am liebsten hätte er ihr sein Herz ausgeschüttet. Dass er nicht Ulrich von Schwarzenberg, sondern Seyfrid von Viskenich sei, der unweit von hier geboren war. Der Schreckliches und Wunderbares im Heiligen Land erlebt hatte. Der nach Salerno gegangen war, weil er das Leid des Krieges nicht mehr ertragen konnte. Dass er Menschen heilen und nicht töten wollte. Der nun nach Köln gekommen war, um den Namen seines zu Unrecht verurteilten Vaters reinzuwaschen. Und um seine kleine Schwester zu finden. Aber nichts von alldem kam über seine Lippen. Zu wichtig war es, sein Geheimnis zu wahren. Rebecca blickte ihn erwartungsvoll an.

»Es war schon immer mein Wunsch, ein Medicus zu werden, und ich habe schließlich meinem Vater die Erlaubnis abgerungen, an die Scola Medica Salernitana gehen zu dürfen«, erklärte er knapp.

»Du siehst auf einmal so ernst aus.«

Seyfrid riss sich zusammen. »Es ist nur … Ich hatte gerade über die Einladung von Bürgermeister von der Aducht für heute Abend ins Haus der Bürger nachgedacht.«

Sie zog die Augenbrauen hoch und machte eine spöttische Miene. »Oh, so schnell hat er dich der Richerzeche einverleibt?«

»Einverleibt? Es ist doch nur eine Einladung zu einem Bankett.«

Rebecca ließ wieder ihr ansteckendes Lachen erklingen, dem Seyfrid den ganzen Tag hätte lauschen können. »Du hast keine Ahnung!«, sagte sie kopfschüttelnd. »Von der Aducht würde nie jemanden einladen, wenn es ihm nicht zum Vorteil gereichen würde. Das gilt für alle Brüder der Richerzeche. Ein angesehener Medicus käme den reichen Pfeffersäcken gerade recht!«

Verblüfft blickte er sie an. »Du scheinst dich gut mit dem Gebaren der Richerzeche auszukennen.«

»Natürlich, ich bin die Tochter von Matthias Quentenberg und somit mitten in der Richerzeche aufgewachsen.«

»Welchen Vorteil hätte die Richerzeche von mir zu erwarten?«

»Das ist doch offensichtlich: Als ausgezeichneter Medicus der Scola Medica Salernitana würdest du sie im Falle einer Krankheit rasch wieder genesen lassen. Fast noch wichtiger wird aber sein, dass du keinen ihrer Gegner behandelst.«

»Ich behandele jeden, der meiner Hilfe bedarf! Ich lehne niemanden ab und bevorzuge auch niemanden!«

Sie waren gerade vor der erzbischöflichen Münzprägeanstalt am Alter Markt angekommen, als Rebecca abrupt stehen blieb und ihm direkt in die Augen sah. »Du bist ein aufrichtiger Mensch. Aber glaube mir, sie werden versuchen, dich für sich einzunehmen. Sie werden dir Geld und Vergünstigungen bieten.«

»Welchen Gegnern, befürchten sie, könnte ich helfen?«

»Da gibt es viele, allen voran natürlich dem Erzbischof.«

Seyfrid fühlte bei der Erwähnung Adolf von Altenas ein leichtes Unbehagen und hoffte, dass Rebecca seine plötzliche Anspannung nicht bemerkte.

»Adolf von Altena versucht genauso wie seine Vorgänger, die Geschicke in Köln zu bestimmen, und lässt keine Gelegenheit aus, dem Rat der Stadt seine Macht zu demonstrieren«, erklärte sie. »Außerdem sind da natürlich diverse Adlige im Umkreis der Stadt, die den Kölner Bürgern ihre Privilegien missgönnen, wie zum Beispiel der Graf von Jülich. Sie alle würden von dir profitieren, denn was könnte es Wichtigeres geben als die Gesundheit?«

»Ich bin erstaunt, wie wichtig ich bin«, versuchte Seyfrid zu scherzen.

»Und ich bin erstaunt, dass du es nicht wusstest.«

Seyfrid hob in einer theatralischen Geste die Arme. »Ich versichere dir, dass mein einziges Trachten darin besteht, Kranke zu heilen. Macht und Reichtum interessieren mich nicht.«

»Ich glaube dir, und vor allem hoffe ich, dass du diese hehren Vorsätze beibehalten wirst.«

Sie hatten den Alter Markt überquert, und das Gedränge ließ langsam nach.

»Hier muss ich dich nun wieder verlassen. Ich danke dir, dass du mir deine kostbare Zeit gewidmet hast«, sagte Rebecca.

Seyfrid fiel es schwer einzuschätzen, ob sie scherzte – wie er überhaupt von dieser jungen Frau verwirrt war. »Es war mir ein Vergnügen.«

Sie wollte schon gehen, doch dann zögerte sie und wandte sich ihm noch einmal zu. »Sei auf dem Bankett im Haus der Bürger vorsichtig! Du triffst dort auf die mächtigen Patrizierfamilien. Wähle deine Worte klug und stoße niemandem vor den Kopf!«

»Warum warnst du mich? Dein Vater gehört auch zur Richerzeche.«

Sie legte den Kopf leicht schief, während sie Seyfrid betrachtete. »Vielleicht möchte ich einfach nicht, dass du zu einem anderen wirst, als der du bist«, antwortete sie schließlich, drehte sich mit einem Lächeln um und verschwand in der Menge.

Sie ließ einen jungen Mann zurück, dessen Herz bis zum Hals pochte und der sich in dem Moment nichts sehnlicher wünschte, als dass Rebecca bei ihm geblieben wäre. Seyfrid atmete tief durch und ermahnte sich, sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.

Er nahm den Geldbeutel in die Hand. Das Geld kam ihm gerade recht, half es ihm doch aus der Verlegenheit, keine standesgemäße Kleidung für das Bankett der Richerzeche zu besitzen. In einer Seitengasse des Heumarkts fand er einen Tuchschneider, der ihm eine nicht allzu teure, aber passende Tunika samt breitem Gürtel und einen Umhang verkaufte. Es war zwar keine fürstliche Garderobe, doch sie würde ihren Zweck erfüllen.

***

Zur selben Zeit schritt Maternus zielstrebig über den Heumarkt. Von der Gewohnheit, ständig seine Umgebung genau zu beobachten, konnte und wollte er nicht lassen. Es hatte ihm mehr als einmal das Leben gerettet.

Trotz der Kälte war viel Volk unterwegs, und je näher es auf das Weihnachtsfest zuging, desto voller wurde es in Köln. Die Gebeine der Heiligen Drei Könige im Dom übten zur Feier von Christi Geburt eine geradezu magische Anziehungskraft auf viele Pilger aus.

Maternus entging nicht der halbwüchsige Junge in den zerlumpten Kleidern, der sich scheinbar gelangweilt zwei Frauen näherte, die sich gestenreich unterhielten und völlig in ihr Gespräch vertieft waren. Beide trugen gute Kleider aus bunten Stoffen und stammten mit Sicherheit aus vermögenden Bürgerfamilien. Als der Junge hinter der Frau mit dem pelzbesetzten Mantel vorbeischlenderte, griff er ihr geschickt in die Tasche und zog einen Geldbeutel hervor. Er war so schnell und fingerfertig, dass die Frau es nicht bemerkte. Der kleine Dieb ging ruhig weiter, als wäre nichts geschehen.

Maternus änderte seine Richtung und packte den Jungen blitzschnell am Arm, als er an ihm vorübergehen wollte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er den riesigen Mönch an. Der Versuch, sich loszureißen, wäre zwecklos gewesen, denn der Griff war hart wie ein Eisenring.

Maternus beugte sich zu ihm hinunter und sagte leise: »Du gibst mir sofort den Beutel, dann werde dich vielleicht nicht dem Büttel übergeben.«

Der Junge war stumm vor Schreck und hielt ihm angsterfüllt den Beutel hin. Maternus nahm ihn und ließ den Jungen los. Der kleine Dieb rannte davon, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her. Maternus konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Auch wenn er sich sicher war, dass der Kerl morgen wieder geschickt fremde Taschen leeren würde, brachte Maternus es nicht über das Herz, ein Kind auszuliefern, dem wegen des Diebstahls die Finger abgeschnitten würden.

Der Mönch ging ohne Hast zu den beiden Frauen und tat so, als wäre er ganz in Gedanken versunken. Unmittelbar hinter der Bestohlenen ließ er mit einer fließenden Bewegung den Beutel wieder in deren Tasche gleiten. Erneut bemerkte die Frau nichts.

Maternus überkam ein sentimentales Gefühl. Er sah sich selbst, als er etwa im Alter des Jungens gewesen war und genau hier unauffällig die Taschen der reichen Bürger geleert hatte. Natürlich hatte er schon damals gewusst, dass Stehlen gegen Gottes Gebote verstieß, aber wenn der Hunger im leeren Magen wütete, war einem das egal. Außerdem musste er irgendwie seine alleinstehende Mutter unterstützen, die verzweifelt versuchte, ihn und seine drei kleineren Geschwister über die Runden zu bringen.

Maternus wandte sich um und ging durch das Seidenmacherinnengässchen, um über den Quatermarkt zu Sankt Alban zu gelangen. Doch er betrat nicht die Kirche, sondern öffnete eine kleine Tür im schmalen Nebengebäude, dem Haus des Küsters. Ein hagerer Mann blickte in dem dämmrigen Raum auf, als Maternus eintrat.

»Sei gegrüßt, Adalbert! Ich hoffe, du hast gute Neuigkeiten für mich«, sagte Maternus.

»Ich enttäusche dich nur ungern, aber leider scheinen die drei Männer sich in Luft aufgelöst zu haben.« Der Küster kratzte sich mit dürren Fingern am Kopf, wobei ein paar strähnige Haare unter seiner Haube erschienen. »Vielleicht haben sie Flügel bekommen und sind wie die Vögel einfach davongeflogen.«

Maternus bedachte ihn mit einem strengen Blick, und Adalbert wurde klar, dass Maternus überhaupt nicht zu Scherzen aufgelegt war.

»Hast du eine Ahnung, wie viele Pilger sich jetzt, kurz vor dem Weihnachtsfest, in Köln aufhalten?«, verteidigte er sich. »Ich habe mit meinen Brüdern und Vettern jede Wirtsstube und jede Herberge abgeklappert. Pilger aus aller Herren Länder gibt es dort zuhauf, aber keine Mönche, die zu dritt aufgetaucht wären oder gar Schwerter unter ihren Mänteln getragen hätten.«

»Hast du noch einmal mit dem Wirt vom ›Huus am Bootermaate‹ gesprochen?«

»Ja, aber Laurentius hat nur das wiederholt, was er mir schon beim ersten Mal erzählte: Drei Mönche hätten an dem betreffenden Tag mittags bei ihm Braten gegessen. Sie sind ihm auch nur deshalb aufgefallen, weil sie ihn fragten, wie sie in den Domhof des Erzbischofs gelangen würden. Normalerweise wollen alle Pilger in den Dom, und Laurentius dachte, sie hätten da etwas verwechselt, aber der Mönch, der als Einziger von den dreien geredet hat, beharrte auf dem Domhof. Der Mann sprach recht gut Deutsch, aber Laurentius glaubt, dass er Brabanter oder Franzose, vielleicht auch Engländer oder Ire war.«

Maternus ließ ein unwilliges Brummen vernehmen.

Adalbert beugte sich vor und hob beschwörend die Hände. »Maternus, gib es auf, die drei sind längst über alle Berge!«

Doch Maternus schüttelte entschieden den Kopf. »Ich habe sofort nach dem Vorfall die bischöflichen Wachen im Laufschritt zu sämtlichen Stadttoren geschickt, um nach den drei Mönchen Ausschau zu halten. Sie waren umgehend an den Toren und haben die dortigen Wachen gefragt, ob drei Mönche die Stadt verlassen hätten, aber alle haben verneint. Die Torwachen haben den Befehl erhalten, alle Mönche genau zu überprüfen. Aber die drei sind wie vom Erdboden verschluckt.«

»Vielleicht haben sie sich getrennt und sind einzeln aus Köln raus?«

»Dann hätten wir doch mindestens einen von ihnen erwischen müssen. Die Wachen haben jeden einzelnen Mönch festgehalten, bis ich gekommen bin und ihn mir angesehen habe. Aber keiner von ihnen kam in Frage.«

»Sie könnten sich noch in der Stadt ihrer Gewänder entledigt haben. Du hast doch nur nach Mönchen suchen lassen.«

»Bei der eisigen Kälte sollen sie nur in Hemd und Hose aus der Stadt spaziert sein? Dann wären sie erst recht aufgefallen und außerdem bald erfroren.« Maternus erhob sich und stieß mal wieder mit dem Kopf an die Decke.

Unter normalen Umständen hätte Adalbert ihn deswegen geneckt, doch er tat gut daran, ihn heute nicht noch zusätzlich zu reizen. »Die drei Männer sind noch in Köln, und irgendjemand gewährt ihnen Unterschlupf«, sagte Maternus bestimmt und rieb sich den Schädel.

»Wer könnte das sein?«, fragte Adalbert ratlos.

»Ich weiß es nicht«, knurrte Maternus, »doch langsam läuft uns die Zeit davon. Der Erzbischof wird allmählich ungeduldig.«

Diesmal konnte Adalbert nicht an sich halten und ließ ein Lachen ertönen, dass ein wenig an das Gackern eines Huhns erinnerte. »Wo er doch sonst ein so geduldiger Mensch ist«, rief er spöttisch.

»Hör mit dem blöden Lachen auf und spute dich stattdessen, die drei Männer zu finden! Geh mit deinen Brüdern und Vettern noch mal in alle Wirtshäuser und unterhalte dich mit den Gästen, ob ihnen drei Mönche oder zumindest drei Fremde aufgefallen seien, die Schwerter trugen! Wenn ihr in der Stadt alle durchhabt, sucht ihr die Wirtshäuser und Herbergen vor den Toren Kölns ab!«

»Und wer soll sich in der Zeit um die Kirche kümmern?«, fragte der Küster empört.

Maternus zog sich seine Kapuze über den Kopf. »Glaub mir, Adalbert, wenn wir die drei Männer nicht bald finden, wird deine Arbeit hier in der Kirche dein geringstes Problem sein!«

Mit diesen unheilvollen Worten verließ er das Haus und ließ einen blass gewordenen Adalbert zurück.

***

Seyfrid befand sich auf dem Weg zu der Kirche Sankt Maria im Kapitol. Er wollte sogleich bei dem Apotheker Bartholomäus Brosach, der im Hof vor der Kirche wohnte, eine Medizin für Matthias Quentenberg zubereiten lassen.

Quentenberg hatte Brosach als den besten der drei Kölner Apotheker empfohlen. Das bedeutete sicher, dass Brosach auch teurer war als die anderen beiden, sodass sich wohl nur die Richerzeche seine Medizin leisten konnte, ahnte Seyfrid.

Die Kirche Sankt Maria im Kapitol erhob sich südlich des Heumarkts. Seyfrid wusste, dass dort ein Frauenstift seinen Sitz hatte. Im Hof davor befanden sich etliche kleine Häuser, eines davon beherbergte die Apotheke von Bartholomäus Brosach.

Seyfrid klopfte an die alte Holztür und hörte umgehend ein gekrächztes »Herein!«

Zwei Öllampen kämpften gegen die Düsternis in dem Raum an. Es herrschte ein fürchterliches Durcheinander, alle Tische und Regale waren vollgestopft mit Glasflaschen, Amphoren, Holzkästchen, Kräutern, Steinen und Teilen toter Tiere. Ein Geruch aus Staub, verbranntem Holz und allerlei Pflanzen lag in der stickigen Luft. Hinter einem Tisch hockte ein Mann mit Pausbacken und einer Knollennase, der etwa fünfzig Jahre alt sein mochte. Seine Kappe saß schief, graue Haare standen darunter in alle Richtungen hervor. Er kniff die Augen zusammen, als er hochblickte, vermutlich sah er nicht mehr gut.

»Sei gegrüßt, Meister Brosach! Ich bin Ulrich von Schwarzenberg, meines Zeichens Medicus, und brauche deine Hilfe.«

Brosach erhob sich ächzend von seinem Hocker und kam schlurfend um den Tisch herum. Er blieb zwei Schritte vor Seyfrid stehen und konnte ihn wohl erst jetzt deutlich erkennen. »Sieh an, ein neuer Medicus ist in der Stadt. Du bist noch so jung«, sagte er mit heiserer Stimme.

Anscheinend war der einzige Bewohner von Köln, der noch nicht von ihm gehört hatte, ausgerechnet der Apotheker. »Das ist richtig, aber dennoch habe ich an der Scola Medica Solernitana studiert.«

Brosach riss die Augen auf. »An der berühmten Schule in Italien? Dort, wo Roger Frugardi lehrt?«

»Ja, er war mein Lehrmeister.«

»Dann musst du fürwahr ein guter Medicus sein. Womit kann ich dir helfen?«

»Ich brauche eine Medizin für einen meiner Patienten. Könntest du sie mir herstellen?« Seyfrid zählte einige Ingredienzien auf und wie sie zubereitet werden sollten.

Der alte Apotheker nickte wissend und bemerkte: »So leidet dein Patient an einer Vergiftung.«

Seyfrid wusste, dass Brosach an den Apothekereid gebunden war und vor anderen kein Wort darüber verlieren durfte. Aber er wäre auch nicht der erste Apotheker, der sich nach ein paar Bechern Wein im Wirtshaus nicht mehr daran halten würde. »Darüber kann ich dir leider nichts sagen.«

»Brauchst du auch nicht«, brummelte Brosach in seinen Bart und schlurfte zurück zu seinem Tisch.

»Bis wann hast du die Medizin fertig?«

»Komm heute Abend wieder.«

***

Rebecca lief vergnügt über den Alter Markt in Richtung Lintgasse. Ihre trübselige Stimmung über die Vergiftung ihres Vaters hatte sie verdrängt, nicht einmal die Kälte des Dezembers spürte sie. Ihre Gedanken waren ganz bei Ulrich von Schwarzenberg. Was für ein hübscher Kerl, dachte sie und spürte, wie ihr Herz schneller schlug.

Dabei war Rebecca nicht leicht zu beeindrucken. Ihre Eltern konnten ein Lied davon singen, wie trotzig sie schon als Kind gewesen war und welch wachen Verstand sie besaß. Ihre Mutter hatte sich immer beklagt, dass es ein Ding der Unmöglichkeit wäre, aus ihr eine brave, sittsame Tochter zu machen. An Verehrern hatte es Rebecca nie gemangelt, doch die meisten der eitlen Gecken langweilten sie nur. Bei Ulrich von Schwarzenberg war das anders. Er war nicht nur gebildet, sondern auch bescheiden, und dennoch wusste er genau, was er wollte. Außerdem sah er gut aus. Sie musste sich eingestehen, dass er ihr sehr gefiel.

In dem Moment hörte sie direkt hinter sich eine Stimme und zuckte zusammen. »Fräulein Rebecca! Wie geht es dir?«

Ein junger Mann mit dunklen, fast schwarzen Haaren über der hohen Stirn schaute sie mit leicht gesenktem Kopf schüchtern an. Seine braunen Augen lagen ein wenig tief im Gesicht. Er war gut gekleidet und trug einen dicken Mantel.

»Kaspar Hoengen! Du hast mich erschreckt.«

»Bitte verzeih mir, das wollte ich nicht!« Er bekam einen roten Kopf.

»Schon gut. Was machst du hier?«

»Oh, ich … ich muss für meinen Vater einen Botengang erledigen.« Er räusperte sich und fügte etwas lauter hinzu: »Wichtige Geschäfte.«

Rebecca musste unwillkürlich lächeln. Der Sohn von Jacob Hoengen benahm sich immer etwas linkisch und versuchte dennoch, sie zu beeindrucken. Es entstand eine peinliche Pause, während der Kaspar offensichtlich krampfhaft nach einem passenden Satz suchte, um das Gespräch nicht versiegen zu lassen.

Er tat Rebecca immer ein wenig leid, weil er ohne seine Mutter aufgewachsen war. Gundula Hoengen hatte sich im Rhein ertränkt, als Kaspar noch sehr klein gewesen war. Rebeccas Mutter hatte ihr einmal erzählt, dass der Pfarrer von Sankt Alban sich geweigert hatte, eine Messe für Gundula Hoengen zu lesen, weil Selbstmord eine schlimme Sünde war. Auch ihre sterblichen Überreste, die nördlich von Köln am Flussufer gefunden worden waren, durften nicht in geweihter Erde auf dem Friedhof beerdigt werden. Stattdessen wurde sie vom Totengräber irgendwo im Wald verscharrt. So war ihr der Weg in die ewige Verdammnis sicher.

Rebecca wusste, dass Kaspar von seinem Vater sehr streng behandelt wurde. Jacob Hoengen ließ kaum eine Gelegenheit aus, ihn zu maßregeln, vor allem wenn Zuschauer dabei waren. Er war fest davon überzeugt, dass nur so ein anständiger und tüchtiger Bürger aus seinem Sohn werden würde, der eines Tages das Glasgeschäft führen könnte. Kaspar gab sich gewiss alle Mühe, jedoch hatte sein Vater nie ein Wort des Lobes für ihn übrig, dafür umso öfter Schläge. Kaspar wagte nie aufzubegehren, er ertrug stumm sein Schicksal. So war der junge Mann selbst unter Gleichaltrigen zum Außenseiter geworden.

Rebecca hatte längst bemerkt, dass Kaspar, wie viele andere junge Männer auch, ein Auge auf sie geworfen hatte, nur dass er sich nicht traute, ihr den Hof zu machen. »Nun, dann möchte ich dich nicht von deinen wichtigen Geschäften abhalten«, sagte sie schließlich.

»Aber nein, du … Ich meine, ja, ich muss dann weiter. Ich, äh, ich wünsche dir einen schönen Tag.«

Den habe ich bereits, schmunzelte Rebecca, als sie an Ulrich von Schwarzenberg dachte. Im nächsten Augenblick fragte sie sich, ob Kaspar sie eben zusammen mit dem Medicus gesehen haben könnte. Doch dann zuckte sie die Achseln. Selbst wenn, würde Kaspar kaum zu ihrem Vater laufen und es berichten.

Als sie kurz darauf zu Hause eintraf, begab sie sich zu ihrem Vater, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

»Besser, mein Kind, deutlich besser«, antwortete er. Er war immer noch blass und atmete schwer, aber seine Gesichtszüge waren entspannt.

»Das freut mich sehr. Du wirst nicht erraten, wen ich gerade getroffen habe.«

Ihr Vater zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Kaspar Hoengen. Er hat sich vor Verlegenheit fast in die Hose gemacht. Er ist schon ein seltsamer Kauz.«

Rebecca bemerkte, dass ihr Vater schlagartig ernster guckte, als hätte sie einen wunden Punkt berührt. »Geht es dir wieder schlechter? Hast du Schmerzen?«

»Nein, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur etwas müde.«

Rebecca verstand den Wink und zog sich aus dem Schlafgemach ihrer Eltern zurück. Irgendetwas war ihrem Vater plötzlich in den Sinn gekommen, doch sie konnte nicht sagen, was.

Matthias Quentenberg starrte gedankenverloren an die Decke. Er fühlte sich inzwischen tatsächlich wieder besser. Der junge Medicus hatte ihm wohl wirklich das Leben gerettet. Auch wenn er es gegenüber seiner Frau nie zugeben würde, aber er hatte inbrünstig gebetet, dass Gott ihn noch nicht zu sich nehmen möge. Sein Flehen war vom Allmächtigen erhört worden.

Ihm war zwischen seinen Fieberschüben bewusst geworden, dass er seinen Nachlass nicht geregelt hatte. Zum einen, weil er sich noch nicht alt genug gefühlt und bisher stets einer robusten Gesundheit erfreut hatte. Zum anderen, weil er sich bislang vor der Entscheidung gedrückt hatte, seine Tochter zu verheiraten. Da seine beiden Söhne im Kindesalter verstorben waren, verblieb einzig Rebecca als Erbin. Er liebte sie über alles und hatte ihr deshalb immer wieder Wünsche erfüllt, die andere Väter ihren Töchtern sicher nicht gestattet hätten, wie Lesen und Schreiben zu lernen. Selbst den Unterricht in Heilkunde und Latein durch seine Schwester Anna hatte er gestattet. Oft genug hatte er den Spott anderer Familienpatriarchen in der Richerzeche dafür geerntet, doch Matthias Quentenberg war viel zu stur, als dass er deshalb seine Meinung geändert hätte.

Er war stolz auf dieses wunderbare Kind, das nicht nur einen sehr hellen Verstand, sondern auch einen starken Willen besaß. Genau wie er selbst. Insgeheim hatte er zwar davon geträumt, dass Rebecca eines Tages sein Geschäft übernehmen würde, aber er war sich im Klaren darüber, dass wohl kaum einer seiner Kunden und Lieferanten mit einer Frau verhandeln würde.

Seufzend drückte er sich mit den Ellenbogen hoch, um eine bequemere Sitzposition zu finden. Natürlich war er im Geiste schon ein paar Heiratskandidaten für Rebecca durchgegangen. Doch auch wenn er es nie offen zugegeben hätte, wollte er nicht den Zorn seiner Tochter auf sich ziehen. Sie würde keinen Ehemann akzeptieren, den sie nicht selbst ausgesucht hätte. Rebecca ahnte nicht einmal, dass einige seiner Mitbrüder der Richerzeche im Laufe der letzten Jahre vorsichtige Gespräche über eine Heirat geführt hatten, die er aber alle abgewiesen hatte.

Doch Rebecca zählte nun zwanzig Lenze, und es war höchste Zeit, sie unter die Haube zu bringen. Deshalb hatte ihn vor einigen Wochen ein Mitbruder der Richerzeche angesprochen, um über eine Verbindung beider Familien nachzudenken. In Anbetracht des fortgeschrittenen Alters seiner Tochter hatte Matthias Quentenberg zum ersten Mal nicht umgehend abgelehnt. Er hatte sich Bedenkzeit erbeten und war immer noch eine Antwort schuldig.

Doch jetzt, wo er dem Tod ins Auge geblickt hatte, musste er endlich eine Entscheidung treffen. Nicht auszudenken, was mit seinem Geschäft passiert wäre, wenn er nicht überlebt hätte. Wie die Geier hätten sich die Konkurrenten auf seine Kunden gestürzt, und bald wäre nichts mehr von seinem Gewandhandel übrig geblieben. Wenn seiner Ehefrau schließlich das Geld ausgegangen und sie in Schulden geraten wäre, hätte jeder dahergelaufene Gläubiger Rebecca zum Weib nehmen können. Matthias Quentenberg schauderte bei dem entsetzlichen Gedanken.

Er musste umgehend seinen Nachlass ordnen, und dazu gehörte ein Ehemann für Rebecca, der einmal den Gewandhandel übernehmen konnte. Der neueste Kandidat stammte zwar nicht aus einer der allerreichsten Familien, aber sie führte ein Geschäft, das er mit dem seinigen verbinden konnte. Allerdings war sich Matthias sicher, dass Rebecca den Bräutigam ablehnen würde. Genau das hatte sie ihm gerade bestätigt. Es ging um niemand anderen als Kaspar Hoengen.

Dessen Vater Jacob war zwar niemand, dem sich Matthias freundschaftlich verbunden fühlte, aber hier ging es nicht um Sympathie, sondern um das Geschäft. Außerdem hatte Hoengen ihn bei vielen seiner Anliegen im Rat der Stadt unterstützt und war ihm auch nie feindlich gesonnen gewesen. Jacob Hoengen war ehrgeizig und tüchtig. Er hatte sich den Respekt der Richerzeche erarbeitet, sodass sie ihn schließlich vor acht Jahren endlich in ihre Bruderschaft aufgenommen hatten.

Hoengens Glashandel florierte, aber um ihn zu einem richtig einträglichen Geschäft zu machen, brauchte er mehr Geld für den Einkauf wirklich edler Ware wie etwa Gläser aus Venedig. Das Geld hoffte er aus der Verbindung mit der Familie Quentenberg zu bekommen, wie sich Matthias bewusst war. Hoengens Sprössling war zwar etwas schüchtern und nicht gerade redegewandt, aber Jacob hatte erzählt, dass Kaspar Verkaufsgeschick besaß und sich auf Geschäftsreisen in weit entfernte Städte bewährt hatte. Das klang vielversprechend.

Sein Entschluss stand fest. Nur musste er einen Weg finden, seiner Tochter die Heirat mit Kaspar Hoengen schmackhaft zu machen. Er rief nach seiner Ehefrau.

»Maria, wir werden Jacob Hoengen zum Essen einladen«, erklärte er bestimmt. »Mit seinem Sohn Kaspar.«

Sie sah ihn an und begriff sofort, warum es ging. Sie zögerte und wollte schon einen Einwand vorbringen, doch dann nickte sie. »Wann?«

»In zwei Tagen.«

Sie hob zweifelnd die Augenbrauen. »Wirst du bis dahin schon wieder genesen sein?«

»Natürlich! Du hast doch den Medicus gehört, es geht mir schon viel besser.«

***

Seyfrid verließ am Abend zeitig den »Wilden Eber«, er wollte auf keinen Fall zu spät zu der Versammlung kommen. Seine Aufregung wuchs auf dem Weg zum Haus der Bürger. Das neue Gewand saß zwar gut, dennoch zupfte er dauernd daran herum.

Er musste geschickt vorgehen, denn bei zu neugierigen Fragen über das Blutgericht gegen seinen Vater würden die Leute misstrauisch werden. Er nahm sich vor, nur einen Becher Wein zu trinken, um bei klarem Verstand zu bleiben. Auch würde er nur essen, was er sich selbst von den Platten genommen hatte, denn dass Matthias Quentenberg im Haus der Bürger vergiftet worden war, stand für ihn fest. Heute Abend waren alle Brüder der Richerzeche erneut dort versammelt, und Seyfrid war sich sicher, dass auch der Giftmischer darunter sein würde.

Eigentlich hätte ihm der Anschlag auf Matthias Quentenberg egal sein können, aber er war sein Patient, und schon deshalb fühlte er sich persönlich angegriffen. Außerdem war da noch dessen wunderschöne Tochter. Wenn er den Täter finden würde, wäre ihm Rebecca sicher unendlich dankbar.

Seyfrid atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Das Wichtigste war nun, dass er das Vertrauen der Brüder der Richerzeche erwarb. Wenn er seinen Vater von der Schande reinwaschen wollte, würde er nur von ihnen mehr erfahren.

Das Haus der Bürger hinter dem Alter Markt kannte Seyfrid noch aus seiner Kindheit. Es war vor über sechzig Jahren gebaut worden, und allein durch seine Ausmaße sollte das Gebäude die Macht der Bürger Kölns zum Ausdruck bringen. Drei Stockwerke hoch und so breit wie vier normale Häuser, diente es als Versammlungsort der wohlhabenden und einflussreichen Familien der Stadt, um hier Einigkeit zu demonstrieren und Beschlüsse in ihrem Interesse zu fassen. Es war das erste Haus dieser Art im Reich, und viele andere Städte schauten mit Neid auf die Kölner Bürgerschaft.

Seyfrid hatte das Haus der Bürger zwar noch nie betreten, wusste aber aus Erzählungen, dass es innen aus mehreren prächtig ausgestatteten Räumen bestand und der große Saal im Erdgeschoss für Versammlungen und Feste genutzt wurde. Auch besaß das Haus der Bürger einen Keller, in dem zur Erbauung der privilegierten Bürger während ihrer Versammlungen die besten Weine lagerten.

Fackeln brannten an der Außenwand des Hauses, und zwei Diener standen vor der Tür, als Seyfrid eintraf. Nachdem er seinen Namen genannt hatte, verbeugten sie sich untertänig, und einer der beiden geleitete ihn in den Versammlungssaal. An langen Tischen, die im Rechteck aufgestellt waren, saßen rund dreißig Männer, deren teure Gewänder keinen Zweifel über ihren Reichtum aufkommen ließen. In einem großen Kamin prasselte ein Feuer und erfüllte den gesamten Raum mit behaglicher Wärme. Der Duft gebratener Speisen lag in der Luft, die Richerzeche ließ sich nicht lumpen, wenn es um die Bewirtung ging. Seyfrid glaubte, Schweinebraten und Huhn zu riechen, doch auch einige Gerüche, die er nicht einordnen konnte, durchzogen den Saal.

Einige der Anwesenden wandten sich ihm neugierig zu. Seyfrid bemühte sich trotz seiner Anspannung, möglichst freundlich zu blicken. Je gewinnender sein Wesen erschien, desto eher würde er die Bekanntschaft der reichen Männer machen.

Im nächsten Moment kam auch schon Bürgermeister von der Aducht auf ihn zu. Seyfrid fiel seine bunt gefärbte Kleidung auf, die in Rot, Grün, Gelb und Weiß leuchtete. Es schien so etwas wie ein Wettstreit innerhalb der Richerzeche zu herrschen, wer sich die farbenfrohesten Gewänder leisten konnte.

»Ulrich von Schwarzenberg! Ich bin sehr erfreut, dass du kommen konntest!«

Seyfrid machte eine tiefe Verbeugung, wie er es einst in seiner höfischen Ausbildung gelernt hatte. »Es ist mir eine Ehre.«

Der Bürgermeister nahm ihn freundschaftlich am Arm und zog ihn ein wenig beiseite. »Wie du sehen wirst, sind die vornehmsten Familien Kölns anwesend. Es geht heute Abend um einige eher unwichtige Anliegen, aber umso besser ist die Gelegenheit für dich, einige Leute kennenzulernen.« Er zwinkerte mit einem Auge und raunte ihm zu: »Wenn du es geschickt anstellst, kannst du dir einige Patienten aus der Richerzeche sichern. Glaub mir, ab einem gewissen Alter plagen uns alle lästige Gebrechen!«

Von der Aducht geleitete Seyfrid zu einem der Tische. »Setz dich doch bitte hierhin!«, ereiferte sich der Bürgermeister und deutete mit einer ausladenden Geste auf einen freien Stuhl.

Er wandte sich an den beleibten weißhaarigen Mann, dessen Augen lebhaft funkelten. »Werter Heinrich, dies ist Ulrich von Schwarzenberg. Ein Medicus, der sich in Köln niederlassen möchte!« Dann wandte er sich Seyfrid zu. »Darf ich dir Heinrich Kleingedank vorstellen? Oberhaupt einer der vornehmsten Familien unserer Stadt.«

»Ah, der neue Medicus!« Kleingedank fuchtelte mit einem dicken Zeigefinger in Seyfrids Richtung. »Von dir habe ich schon gehört. Meine Frau hat mir wahre Wunderdinge über dich berichtet. Nimm es mir nicht übel, aber wenn ich alles, was das Frauenzimmer mir an Klatsch erzählt, für bare Münze nehmen würde, wäre ich heute reicher als der Kaiser!« Er ließ ein dröhnendes Lachen vernehmen.

Seyfrid kam nicht dazu zu antworten, denn Friedrich von der Aducht hatte sich bereits einem anderen Mann mit eng zusammenstehenden Augen zugewandt. Auch hier wahrte der Bürgermeister die Höflichkeit und stellte die beiden Männer einander vor.

»Darf ich dir Jacob Hoengen vorstellen? Er bietet die edelsten Gläser in Köln, ach, was sage ich, im ganzen Land feil.«

»Es ist mir eine Ehre«, sagte Seyfrid.

»Jacob, dies ist der Medicus Ulrich von Schwarzenberg, du hast vielleicht schon von ihm gehört.«

Hoengen mochte etwa Mitte vierzig sein, und es war ihm anzusehen, dass er nicht begeistert über die Anwesenheit des Medicus war.

»Bürgermeister von der Aducht schmeichelt mir nur zu gerne, um billiger an meine Gläser zu kommen. Willkommen«, sagte er, doch seine Stimme klang dabei kalt wie Eis. »Ich muss dich enttäuschen, an mir wirst du nichts verdienen, denn ich erfreue mich bester Gesundheit, sodass ich dein Können nicht in Anspruch zu nehmen brauche.«

»Du bist gesund? Wirklich ein Jammer!«, scherzte Seyfrid.

Doch Hoengen schien keinen Sinn für Humor zu besitzen und wandte seinen Blick gelangweilt ab. Seyfrid wollte das Gespräch trotzdem fortsetzen, wurde jedoch von einem Diener gehindert, der lauthals die Ankunft von Dietrich von der Mühlengasse verkündete.

Die meisten Köpfe drehten sich Richtung Tür. Von der Aducht machte geradezu einen Luftsprung, soweit ihm das bei seiner Körperfülle möglich war, und eilte dem Neuankömmling entgegen. Dietrich von der Mühlengasse war sicher über fünfzig und von kleiner, gedrungener Statur. In seinem rundlichen Gesichte thronte eine knubbelige Nase, die von einem Geflecht roter Adern durchzogen war. Er trug zwar ein aufwendig besticktes Gewand, aber auf seinem Kopf saß eine schlichte Haube. Seyfrid fiel die leicht gekrümmte Haltung auf und vermutete ein Leiden des Rückens.

Von der Mühlengasse blickte lächelnd in die Runde und nickte dabei dezent, als wolle er sie alle seines Wohlwollens versichern. Einige Anwesende erhoben sich sogar, um ihre Ehrerbietung zu demonstrieren.

Schon während Seyfrids Kindheit waren die von der Mühlengasse eine der mächtigsten Familie in Köln gewesen, und daran hatte sich seitdem offensichtlich nichts geändert. Keine andere Sippe hatte bisher so viele Schöffen und Bürgermeister gestellt wie sie. Wie reich sie waren, wussten sie vermutlich selbst nicht genau. Der Familie gehörten gleich zwei der schwimmenden Mühlen im Rhein sowie etliche Häuser, Backstuben und Geschäfte, außerdem verfügte sie über Handelsverbindungen in das ganze Reich. Einzig Gerhard vom Hof übertraf Dietrich von der Mühlengasse an Reichtum und Machtfülle. Ein Umstand, der in der Vergangenheit schon zu gewissen Spannungen in der Richerzeche geführt hatte, wie Seyfrid wusste.

Langsam ging Dietrich von der Mühlengasse in Richtung des Tisches an der Kopfseite vor dem Kamin, wo er in der Mitte Platz nahm.

Seyfrid versuchte erneut, ein Gespräch mit Hoengen zu beginnen. Der Glashändler hatte zwei tiefe Falten, die von den Mundwinkeln abwärts führten und ihm ein mürrisches Äußeres verliehen. »Ich gedenke, mich in dieser wunderschönen Stadt niederzulassen«, erklärte Seyfrid. »Solltest du meine Hilfe doch einmal benötigen, dann wende dich vertrauensvoll an mich!«

»Dafür müsstest du schon ein sehr tüchtiger Medicus sein. Ich hoffe, du enttäuschst uns nicht.«

»Bist du der einzige Glashändler in Köln?«, wechselte Seyfrid das Thema.

»Zwar nicht der Einzige, aber niemand bietet so edle Gläser an wie ich.«

»Woher bekommst du deine Gläser?«

Hoengen musterte ihn, als würde er überlegen, ob Seyfrid überhaupt einer solchen Auskunft würdig sei.

»Die meisten von der Glasmanufaktur einer Abtei bei Koblenz. Ich beziehe aber auch feinste Gläser aus Italien. Ganz nach dem Belieben meiner Kunden. Ich könnte dir ein paar sehr schön geschliffene Gläser anbieten, die ich just erhalten habe. Falls sich ein Medicus das leisten kann.«

»Das klingt verlockend. Sobald ich ein Haus gefunden habe, könnte ich mir vorstellen, mir auch Gläser zuzulegen. Vorausgesetzt, meine Patienten zahlen bereitwillig.«

»Über die Zahlungswilligkeit deiner Patienten mach dir mal keine Sorgen. Wir haben einen sehr tüchtigen Büttel in Köln, der sich auf das Eintreiben von Schulden versteht.«

Den hatte er bereits kennengelernt, als er auf die Leiche des armen Eckards gestoßen war, erinnerte sich Seyfrid voller Unbehagen.

»Wenn es dir beliebt, dann komm in mein Haus in der Glockengasse. Dort kannst du unter den schönsten Gläsern auswählen.«

In dem Moment verkündete ein Diener mit feierlicher Stimme: »Höret, höret! Der edle Gerhard vom Hof gibt uns die Ehre!«

Unmittelbar darauf betrat ein groß gewachsener, schlanker Mann mit wallenden schulterlangen Haaren den Saal. Seyfrid hatte ihn als Kind nie leibhaftig zu Gesicht bekommen, doch Legenden und Gerüchte rankten sich um Gerhard vom Hof und seinen märchenhaften Reichtum. Er hatte Geschäftsbeziehungen in die halbe Welt, und selbst Könige und Fürsten baten ihn um Kredite.

Seyfrid schätzte ihn auf etwa fünfzig Jahre. Seine Gewänder waren von erlauchter Qualität, seinen Mantel zierte ein Saum aus Biberpelz. Früher hatten die Menschen ihn wegen seines unvorstellbaren Reichtums Gerhard Unmaze, den Unermesslichen, genannt, wie Seyfrid wusste, aber das hatte Gerhard nie gefallen.

Heinrich Kleingedank beugte sich mit einem Becher Wein in der Hand zu Seyfrid und flüsterte: »Gerhard vom Hof ist unser einflussreichster Mitbruder. Er ist der Untervogt des Erzbischofs und Schöffenmeister. Vor ein paar Jahren war er auch noch Bürgermeister, und wir waren sehr froh, dass er wenigstens dieses Amt nach drei Jahren wieder abgab und es jemand anderem gegönnt hatte.« Er kicherte in seinen Becher über die eigene Bemerkung.

Friedrich von der Aducht näherte sich Gerhard vom Hof in derart gebückter Haltung, dass Seyfrid befürchtete, der korpulente Bürgermeister würde gleich vornüberkippen. Gerhards Blick schweifte über die anwesenden Gäste und blieb kurz an Dietrich von der Mühlengasse hängen, wobei sich seine Augen nur minimal verengten. Dietrich tat demonstrativ so, als hätte er den Neuankömmling nicht bemerkt, doch Seyfrid entging nicht die Abneigung, die diese beiden Männer füreinander hegten.

Gerhard vom Hof begab sich ebenfalls wie selbstverständlich an die lange Tafel vor dem Kamin und ließ sich dort auf einem Stuhl mit hoher Lehne nieder, drei Plätze neben Dietrich von der Mühlengasse.

Seyfrid bemerkte in gedämpftem Ton: »Er scheint mir in der Tat sehr machtvoll zu sein.«

»Machtvoll?« Kleingedank zeigte sich über die Bemerkung sehr erheitert. »Er hat vor gut zwanzig Jahren dem damaligen Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg sechshundertfünfzig Mark geliehen, damit er am Italienfeldzug Kaiser Friedrich Barbarossas teilnehmen konnte, und als Sicherheit hat ihm der Erzbischof sein Haus am Hof direkt gegenüber dem Dom gestellt. Er konnte die Summe jedoch nie zurückzahlen, und so nahm Gerhard, der im Haus nebenan wohnte, 1182 auch das Domizil des Erzbischofs in seinen Besitz und verband beide Häuser am Hof. Kannst du dir das vorstellen? Er verlor sechshundertfünfzig Mark, und es tat ihm nicht einmal weh!«

Kleingedank nahm einen tiefen Schluck Wein und rülpste, bevor er fortfuhr. »Gerhard kauft schon seit Jahren Grundstücke und Häuser in und um Köln und vermietet sie an Adlige, reiche Büger, Händler und Handwerker. Teile seiner Einnahmen verleiht er oder beteiligt sich damit an Geschäften von Händlern, die Geld brauchen. Manche behaupteten spöttisch, dass Gerhard eines Tages auch den Dom kaufen würde. Es gibt keinen Bürger in Köln, ja im ganzen Reich, der es an Macht und Einfluss mit Gerhard vom Hof aufnehmen könnte. Selbst Fürsten buhlen um seine Gunst. Sehr zum Leidwesen unseres Erzbischofs.«

»Dann mögen sich Gerhard und der Erzbischof wohl nicht sonderlich.«

Kleingedank machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sie müssen sich auch nicht mögen, aber sie wissen, dass sie aufeinander angewiesen sind. Gerhard hilft dem Erzbischof manchmal mit Geld aus, damit der seine teuren Vorhaben umsetzen kann. Im Gegenzug hat der Erzbischof zugestimmt, dass Gerhard Untervogt bleibt.«

Die Mundschenke füllten auf ein Zeichen des Bürgermeisters alle Becher nach. Dann erhob sich Friedrich von der Aducht. »Liebe Freunde«, begann er, »es erfüllt mich mit Freude, euch im Haus der Bürger willkommen zu heißen. Auf euer Wohl!«

Ein vielstimmiger Trinkspruch schallte ihm als Antwort entgegen.

»Wir wollen heute über die Tuchweber aus Lüttich beraten, die gerne mehr Waren in Köln anbieten würden. Aber das würde unseren einheimischen Webern die Preise verderben. Doch bevor wir darüber reden: Lasst es euch munden!«, rief er.

Mehrere Diener eilten mit Wasserschüsseln herbei, in denen die Patrizier ihre Hände wuschen, wie es die Tischsitten verlangten. Dann griffen sie kräftig zu. Die Speisen waren auserlesen, es gab Rebhuhn und Wildschwein ebenso wie große Stücke vom Rind und Schweinshaxen, aber auch Hering und Scholle aus der Nordsee. Seyfrid wartete höflich ab, bis sich seine Sitznachbarn an den Platten mit Speisen bedient hatten, und nahm sich dann nur wenig auf den Teller. Seinen Becher mit Wein rührte er kaum an.

Er wollte mehr über die Richerzeche erfahren und wandte sich erneut an Kleingedank. »Es erfüllt mich mit Stolz, zu dem Bankett eingeladen worden zu sein. Zumal es sich um die Versammlung der edelsten Bürger handelt.«

»In der Tat gehören wir alle hier der Bruderschaft der Richerzeche an. Friedrich von der Aducht hält es für wichtig, ab und an die führenden Köpfe der Stadt mit Leckereien vollzustopfen und mit Wein abzufüllen, um sich ihre Gunst zu bewahren. Nichts ist schlimmer für einen Schöffenbürgermeister, als wenn sich sein Gefolge dem anderen Bürgermeister zuwendet.«

Es war schon seit der Stadtgründung Kölns durch die Römer Sitte gewesen, zwei Bürgermeistern die Verwaltung der Stadt anzuvertrauen. Es sollte den Machtmissbrauch durch eine einzelne Person verhindern. Aber die Amtsbezeichnung von der Aduchts war Seyfrid neu. »Schöffenbürgermeister?«, fragte er neugierig.

»Einer der beiden Bürgermeister gehört den Schöffen an und verwahrt das Stadtsiegel, während der andere Bürgermeister zwar meist auch der Richerzeche zugehört, aber eben kein Schöffe ist.«

»Wer ist zurzeit der zweite Bürgermeister?«

Kleingedank riss sich eine Keule aus dem geschmorten Hühnchen auf seinem Teller und deutete damit auf einen blassen Mann mit struppigen Augenbrauen, der an der Tafel neben Friedrich von der Aducht saß und stumm vor sich hin kaute.

»Theoderich Hungs. Wie du zweifellos erkennen kannst, amüsiert er sich prächtig mit von der Aducht.«

»Verstehen sich die beiden Bürgermeister nicht gut?«

Kleingedank wiegte seinen massigen Kopf abschätzend. »In Angelegenheiten, die gegen den Erzbischof gehen, ziehen die beiden schon an einem Strang. Das müssen sie auch, sonst hätten sie die längste Zeit das Vertrauen der Kölner Bürger genossen. Aber untereinander nutzen die Bürgermeister jede Gelegenheit, um gegen den anderen hinter seinem Rücken zu sticheln.«

»Das klingt nicht gerade sehr ehrenvoll.«

»Ehrenvoll?« Kleingedank ließ wieder sein dröhnendes Lachen erschallen. »Mein lieber von Schwarzenberg, hier geht es darum, wer mehr Einfluss besitzt, da ist jedes Mittel recht.«

Er senkte die Stimme und beugte sich in Seyfrids Richtung. »Aber das ist noch gar nichts gegen den Händel, den Gerhard vom Hof und Dietrich von der Mühlengasse austragen. Du musst wissen, dass sie beide die Vormachtstellung in Köln gern für sich alleine beanspruchen würden. Eigentlich ein Wunder, dass sie sich noch nicht gegenseitig an die Gurgel gegangen sind.«

»Wie meinst du das?«

Kleingedank rückte noch ein Stück näher, damit auch ja niemand das Gespräch belauschen konnte. Eine Wolke aus Wein und Zwiebeln nahm Seyfrid für einen Moment den Atem. »Natürlich ist Gerhard vom Hof der mächtigste Mitbruder unserer Richerzeche. Aber es gibt immer Männer, die dem Mächtigsten seine Position streitig machen wollen. Auch wenn Dietrich über ein beachtliches Vermögen verfügt, wird er wohl nie an den Reichtum Gerhards heranreichen. Also versucht Dietrich, andere wichtige Männer zu seinen Verbündeten zu machen. Umgekehrt hat Gerhard vom Hof natürlich auch seine treuen Gefolgsleute in Köln und Verbindungen zu den höchsten Stellen im Reich, die er hegt und pflegt.«

Kleingedank war jetzt in Plauderlaune, und Seyfrid ergriff die Gelegenheit beim Schopf. »Wärest du so freundlich, mir etwas über die übrigen anwesenden Gäste zu erzählen, zumindest die wichtigsten? Wie du weißt, bin ich neu in Köln.«

»Du bist sehr wissbegierig! Nun, ich werde deinem Wunsch gerne entsprechen.« Kleingedank sah sich blinzelnd um und machte eine Kopfbewegung in Richtung eines schlanken Mannes mit kantigem Kinn, der ebenfalls in der Nähe von Gerhard saß.

»Nun, da hätten wir zum Beispiel Gottschalk Overstolz. Er ist ein sehr tüchtiger Gewandschneider und hat es im Laufe seines Lebens zu einem ansehnlichen Vermögen gebracht. Mittlerweile besitzt er mehrere Häuser in der Stadt und liefert seine Waren bis nach Italien, Frankreich und England. Einen großen Batzen Geld hat auch seine Frau Siglinde de San Laurentio mit in die Ehe gebracht. Er kann Dietrich von der Mühlengasse nicht leiden, und die beiden Familien versuchen schon seit geraumer Zeit, sich gegenseitig die Pfründe streitig zu machen. Er stimmt daher bei Beschlüssen stets gegen die Interessen von Dietrich von der Mühlengasse, aber auch nicht unbedingt immer für Anträge, die Gerhard vom Hof einbringt. Du siehst, die Lage in Köln ist kompliziert.«

»Ich verstehe. Man muss wissen, wer mit wem paktiert, richtig?«

»Ganz genau!«, nickte Kleingedank eifrig. »Oh, siehst du dort drüben Dominikus Scherfgin?« Er deutete auf einen hageren Mann um die vierzig, dessen Hut absurd groß auf dem kleinen Kopf wirkte. »Seine Familie gehört zu den ältesten Kölns. Er ist eindeutig ein Anhänger Gerhards, hat aber auch gute Beziehungen zu Gottschalk Overstolz. Der Rothaarige neben ihm ist Karl Birkelin, er besitzt mehrere Häuser in Köln und lebt prächtig von dem Mietzins. Er selbst hat seinen Wohnsitz auf der Hohe Straße und unterstützt stets den, der ihm gerade den meisten Gewinn verspricht.«

»Das heißt, er wechselt ständig die Seiten?«

»Du lernst schnell«, lachte Kleingedank.

Seyfrid nickte bedächtig, die Familiennamen waren ihm seit seiner Kindheit vertraut, doch die Verbindungen untereinander waren interessant, und er prägte sie sich gut ein.

Kleingedank drehte sich zur anderen Seite und machte eine galante Handbewegung zu dem neben ihm sitzenden Mann. »Dies ist mein guter Freund Walter Hardenrath.«

Der Angesprochene unterbrach sein Gespräch mit einem anderen Sitznachbarn, um seine Aufmerksamkeit Kleingedank zu widmen.

Seyfrid erhob und verbeugte sich, wie es die Etikette verlangte. »Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen.«

»Die Ehre ist ganz meinerseits«, erwiderte Hardenrath. Er trug einen dunklen Bart und behielt Seyfrid fest im Blick. Hardenrath gehörte zu den Menschen, die durch ihre ruhige Art eine gewisse Souveränität ausstrahlten.

»Wenn du je ein vortreffliches Schwert oder einen Dolch benötigst, wirst du bei Walter die besten Waffen aus aller Welt finden«, sagte Kleingedank.

»Du schmeichelst mir, alter Freund!« Dann wandte Hardenrath sich augenzwinkernd an Seyfrid. »Das sagt er aber nur, weil er mir noch Geld schuldet.«

Wieder wollte sich Kleingedank vor Lachen fast ausschütten.

»Nun, von Schwarzenberg, ich denke, in deinem Metier bist du weniger an Schwertern als vielmehr an scharfen Messern interessiert, die präzise die Haut ritzen können«, sagte Hardenrath.

»Das ist wohl wahr, für den Aderlass ist eine gute Klinge unerlässlich.«

»Oder für die rasche Amputation einer Gliedmaße, damit der Patient nicht elendig verblutet«, fügte Hardenrath hinzu.

»Walter, bitte! Du willst mir wohl den Appetit verderben?«, empörte sich Kleingedank, der gerade die nächste Hähnchenkeule zum Mund führte.

»Du bist mit den Praktiken der Medizin vertraut?«, fragte Seyfrid Hardenrath erstaunt.

»Nein, aber ich hatte schon den einen oder anderen Medicus und Bader als Kunden.«

»Ich nehme an, zurzeit herrscht Flaute im Waffengeschäft?«

Hardenrath zog seine Augenbrauen hoch. »Wie kommst du darauf?«

»Nun, weil Köln sich mit niemandem im Krieg befindet.«

Hardenrath wechselte einen raschen Blick mit Kleingedank. »Sagen wir, ich kann mich über mangelnde Aufträge nicht beklagen.«

»Es muss nicht unbedingt ein Krieg ausgebrochen sein, damit die Leute Waffen kaufen«, erklärte Kleingedank. »Manche Menschen sind eben einfach nur vorsichtig.«

Seyfrid sah ihn verwirrt an. »Rechnet ihr denn mit einem baldigen Krieg?«

Kleingedank beruhigte ihn. »Mach dir keine Sorgen! In Köln bist du in Sicherheit.«

Hardenrath schien das Gespräch zu weit gegangen zu sein und sagte barsch: »Niemand hat etwas von einem Krieg gesagt, und es wird auch keinen geben!«

Seyfrid merkte, dass der Ton der Unterhaltung zu kippen drohte und versuchte die Stimmung aufzuheitern. »Das beruhigt mich, ich persönlich führe schon Krieg genug gegen Patienten, die nicht auf meinen Rat hören wollen.«

Wieder erscholl das tiefe Lachen Kleingedanks. »Bei Gott, du bist ein lustiger Vogel!«, japste er und schlug sich auf den feisten Oberschenkel.

Inzwischen hatten sich einige der Anwesenden nach dem opulenten Mahl erhoben und standen plaudernd beieinander, die meisten mit einem Becher Wein in der Hand. Auch Jacob Hoengen hatte sich entfernt, um sich mit von der Aducht zu unterhalten.

Seyfrid beschloss, dass es an der Zeit war, mehr über das Gerichtsverfahren gegen seinen Vater zu erfahren. Er wandte sich erneut an Kleingedank. »Verzeih mir meine Neugier, aber man erzählte mir, dass die Mitglieder der Richerzeche außer dem Bürgermeisteramt auch andere wichtige Ämter ausüben. Ist ein Schöffe unter den anwesenden Herren?«

»Aber ja, es sind viele unverdiente Mitglieder heute hier.«

»Unverdient?«, fragte Seyfrid.

»Wir bezeichnen die Mitglieder, die bereits das Amt des Bürgermeisters bekleidet haben, als ›verdient‹. Die anderen sind die unverdienten Mitglieder der Schöffenbruderschaft, bei einigen ist es aber meist nur eine Frage der Zeit, bis auch sie zum Bürgermeister gewählt werden. Die zwölf Schöffen werden ebenso wie die beiden Bürgermeister immer am neunten August für ein Jahr gewählt.«

Er ließ den Blick über die Tische schweifen und deutete nacheinander auf drei Männer. »Von den hier Anwesenden sind Richof Parfuse, Daniel Raiz und Dominikus Scherfgin zurzeit Schöffen. Jacob Hoengen war es bis zur Neuwahl im August, und meine Zeit als Schöffe liegt schon zehn Jahre zurück.«

Seyfrid blickte unwillkürlich zu Hoengen, der immer noch in das Gespräch mit von der Aducht vertieft war. Ihm lief es kalt den Rücken hinunter. Hoengen war zu der Zeit Schöffe gewesen, als sein Vater zum Tode verurteilt worden war. War er auch als Schöffe am Blutgericht beteiligt gewesen? »Kommen nur Angehörige der Richerzeche als Schöffen in Frage?«

»Nein. Es werden zwölf Schöffen gewählt, als Beisitzer am Hochgericht, die den Richter in der Urteilsfindung unterstützen. Sechs Schöffen stammen aus der Richerzeche, die anderen sechs sind Bürger der Stadt, die älter als dreiundzwanzig Jahre sein müssen, einen einwandfreien Leumund haben und sich das Amt leisten können.«

Kleingedank schnaufte verächtlich. »Aber sag mir, wer sollte dieses Amt besser bekleiden als wir, die Richerzeche? Schließlich haben unsere Familien Köln zu einer reichen Stadt gemacht, und nur wenn wir für Ordnung sorgen, bleibt sie das auch. Verbrecher dulden wir nicht und bestrafen sie hart. Außerdem müssen wir ein Auge auf die Handwerksbruderschaften haben.«

»Was ist mit denen?«

»Wir haben ihnen ihre Bruderschaften gestattet, damit sie sich gegenüber Handwerkern anderer Städte durchsetzen können und um in Köln für feste Preise und eine gute Ausbildung der Lehrlinge zu sorgen. Doch manchmal gibt es Handwerker, die sich lauthals beschweren und glauben, sie könnten die Preise nach Gutdünken selber festsetzen. Denen machen wir dann schnell klar, wer hier das Sagen hat. Solche törichten Burschen bringen Köln in Verruf und verderben die Geschäfte.«

»Das heißt, ihr bringt sie vor Gericht?«

»Das ist selten nötig, meist reicht es, wenn wir den betreffenden Meister einbestellen und ihn in seine Schranken weisen. Außerdem würde es der Graf von Arenberg kaum gutheißen, mit solchen Nichtigkeiten belästigt zu werden. Du musst wissen, dass es in Köln zwei oberste Richter gibt: den vom Erzbischof eingesetzten Edelvogt Theoderich von Greuyen und den vom Kaiser mit dem Bannrecht beliehenen Grafen von Arenberg. Aber beide überlassen das Richteramt meist ihren Vertretern. Für den Edelvogt, und damit für den Erzbischof, übernimmt das, wie ich dir eben erklärte, der Untervogt Gerhard vom Hof und für den Grafen von Arenberg der Secundus comes Bernhard Hillerich.«

»Gibt es denn viele Verbrecher in Köln, die von den Richtern und Schöffen abgeurteilt werden?«

Kleingedank stülpte die dicken Lippen vor, was Seyfrid an das Gesicht eines Karpfens erinnerte. »Köln ist eine sehr sichere Stadt, dafür sorgen wir schon. Die meisten, die vor Gericht kommen, sind Diebe, Betrüger, Zechpreller und säumige Steuerzahler.«

Seyfrid wagte einen direkten Vorstoß. »Hast du es denn auch schon mal erlebt, dass bedeutende Männer vor dem Blutgericht verurteilt wurden? Ich habe neulich im Wirtshaus zufällig vernommen, dass im letzten Sommer ein Blutgericht gegen einen Ritter stattgefunden hat, der wegen Mordes an einem angesehenen Bürger angeklagt war.«

Die Miene Kleingedanks verdüsterte sich schlagartig. »Du meinst den Ritter von Viskenich. Ja, das war wirklich eine schlimme Sache. Ein verarmter Adliger, der einen unserer Brüder der Richerzeche, Gottfried Hackenbroich, heimtückisch getötet hat. Gott sei seiner Seele gnädig! Es war am neunten Juli, ich erinnere mich noch genau, weil es der Geburtstag meiner Frau ist. Johann von Viskenich wurde vor das Blutgericht gestellt. Wenn es um die Todesstrafe geht, hält nicht der Erzbischof Gericht, weil die Kirche es verbietet. Für das Blutgericht gegen Johann von Viskenich hat sich Graf von Arenberg als Richter sogar persönlich in die Stadt begeben, was er sonst äußerst selten tut.«

»Ein Ritter hat einen Mord begangen? Wie kam es dazu?«

»Von Viskenich hatte Schulden bei Hackenbroich und konnte sie wohl nicht zurückzahlen. Außerdem waren die beiden kurz vor dem Mord auf einem Bankett in einen Streit geraten. Ich war selber dabei anwesend. Sie bezeichneten sich gegenseitig als Betrüger, und von Viskenich hat Hackenbroich schließlich zu Boden geschlagen. Doch das genügte ihm wohl nicht als Genugtuung. Hackenbroich wurde nachts in seinem Haus erstochen. Von Viskenichs Schwert steckte noch in der Leiche.«

Bei der Erinnerung an die äußerst kostbare, einst von dem Meisterschmied Ulfberht gefertigte Waffe durchfuhr es Seyfrid siedend hieß. Er hatte das Schwert schon als Kind bewundert und seinen Vater immer wieder angebettelt, es halten zu dürfen. Nur selten hatte sein Vater es ihm erlaubt, denn das Schwert war sein ganzer Stolz. Es war ungeheuer scharf, hart und dennoch leicht. Seyfrid fragte sich, wo sich das Schwert nun befinden mochte.

»Wurde der Ritter bei der Tat gefangen genommen?«

»Nein, erst am nächsten Tag fand der Büttel Wolfram Pütz ihn auf seiner Burg. Dabei tischte Johann von Viskenich ihm eine seltsame Geschichte auf: Er hätte unmittelbar nach dem Bankett Köln verlassen und sei auf dem Rückweg im Wald von vermummten Männern überfallen und gefesselt worden. Zuerst hätte er gedacht, es wären dreiste Wegelagerer, doch sie hätten ihm zwar sein Schwert, nicht jedoch sein Geld abgenommen. Er lag die ganze Nacht im Wald, aber am nächsten Morgen wäre einer der Männer zurückgekehrt und habe ihm die Handfesseln durchgeschnitten. Bevor er sich von den restlichen Fesseln hätte befreien können, wäre der Mann schon wieder verschwunden gewesen. Er sei dann zu Fuß zu seiner Burg gegangen, wo ihn wenig später der Büttel festgenommen habe, um ihn nach Köln in den Frankenturm zu bringen.«

»Das Blutgericht hat dem Ritter nicht geglaubt?«

Kleingedank sah ihn erstaunt an. »Hältst du seine Geschichte für glaubwürdig? Mit Verlaub, aber für mich klingt sie nach einem Lügenmärchen. Dabei hatte ich Johann von Viskenich immer für einen ehrenwerten Mann gehalten. Er hatte nur das Pech, zu viele Schulden angehäuft zu haben, und sein hitziges Temperament hat ihn schließlich zu der gräulichen Tat getrieben.«

Seyfrid konnte seine Wut nur mühsam unterdrücken. Sein Vater war kein Lügner gewesen, er hatte Unehrlichkeit gehasst. »Aber was, wenn er doch die Wahrheit gesagt hat?«, wandte er ein. »Auch wenn es vielleicht unwahrscheinlich klang, aber es könnte doch immerhin möglich gewesen sein.«

Kleingedank schüttelte bestimmt den Kopf. »Es fand sich ein Zeuge, der den Mord beobachtet hatte. Er kam gleich am nächsten Tag zum Stadtbüttel.«

»Wieso hat der Zeuge denn nicht eingegriffen, als der Mord geschah?«

»Er sagte, er hätte zu große Angst gehabt, dass der rasende Mörder auch ihn töten würde, also blieb er in der Dunkelheit der Straße verborgen und floh dann voller Furcht nach Hause. Erst als die Sonne aufging, traute er sich wieder vor die Tür.«

»Das muss ja ein wahrer Held gewesen sein! Wer war denn der Zeuge?«

»Ein Hafenknecht. Der Name war … Grundel, nein …« Kleingedank zog die Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. »Grimmel. Heribert Grimmel.«

»Das Wort eines einfachen Hafenknechts gegen das Wort eines Ritters? Und das Gericht glaubte diesem Grimmel?«

»Bedenke, dass alles gegen von Viskenich sprach: die Schulden bei Hackenbroich, der Streit während des Banketts und schließlich sein Schwert als Mordwaffe. Es war eine klare Sache.«

Seyfrid hätte Kleingedank am liebsten am Kragen gepackt und geschüttelt, beherrschte sich aber. »Der Ritter hat vor dem Blutgericht sein Ehrenwort gegeben, er sei unschuldig, und wird dennoch zum Tode verurteilt?«

Kleingedank zuckte die Achseln. »Das Blutgericht hatte keinen Grund, die Aussage von Grimmel anzuzweifeln. Warum sollte der Mann lügen?«

Seyfrid merkte, dass er sich selbst in Rage geredet hatte, und riss sich zusammen. Er durfte sich nicht zu auffällig verhalten. »Was passiert mit der Burg Viskenich und den Ländereien?«, fragte er stattdessen.

»Das ist noch nicht so ganz klar. Der Urgroßvater des Ritters von Viskenich hat das Land einst vom Kölner Erzbischof als Lehen erhalten. Eigentlich würden nun der Witwe Hackenbroich alle Habseligkeiten auf der Burg Viskenich zustehen, aber dort ist nichts mehr zu holen. Außerdem will dort keiner …« Er brach ab und rieb sich fahrig die Schläfe.

Seyfrid runzelte die Stirn. »Außerdem was?«

Kleingedank beugte sich vor und senkte die Stimme. »Es heißt, der Geist Johann von Viskenichs würde keine Ruhe finden. Er soll nachts auf der Burg umgehen und alle töten, die es wagen würden, sich dort aufzuhalten.«

Seyfrid hätte ihm am liebsten erzählt, dass er dort übernachtet hatte, ohne auf einen Geist zu treffen. Sein Vater war kein Wiederkehrer. »Ist denn schon jemand auf der Burg umgebracht worden?«

»Nein, Gott behüte!« Kleingedank bekreuzigte sich. »Keiner traut sich dorthin.«

Noch bevor Seyfrid etwas sagen konnte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Es war Friedrich von der Aducht. »Mein lieber von Schwarzenberg, du hast Glück! Dietrich von der Mühlengasse möchte dich kennenlernen.«

Seyfrid erhob sich überrascht.

»Ich sagte dir ja, der Abend würde sich für dich sicher lohnen«, flüsterte der Bürgermeister ihm zu.

Die Dinge entwickelten sich schneller, als Seyfrid erwartet hatte. Er lief hinter dem Bürgermeister her und spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er verbeugte sich tief vor Dietrich von der Mühlengasse.

»Ah, du bist der Medicus! Meiner treu, du bist ja tatsächlich so jung, wie man mir beschrieben hat.« Von der Mühlengasse hatte eine etwas heisere Stimme, die aber ruhig und bestimmt klang.

»Es ist mir eine Ehre, dich kennenzulernen!«, antwortete Seyfrid.

»Ich hörte, dass du Matthias Quentenberg in kürzester Zeit wieder gesunden ließest. Fürwahr, du musst ein guter Medicus sein.«

Seyfrid war überrascht über die offene Art Dietrichs. Anscheinend war er ein Mann, der nur ungern Zeit mit Floskeln verschwendete. »Nun, ich ich freue mich, wenn ich Menschen heilen kann.«

»Gut zu wissen, dass Köln endlich einen tüchtigen Medicus hat. Was sich hier bislang Medicus geschimpft hat, war eher lebensgefährlich als hilfreich.« Er sah den Bürgermeister erheitert an und fragte: »Weißt du noch, Friedrich, wie wir letztes Jahr diesen Quacksalber an den Pranger gestellt und ihn dann aus der Stadt gejagt haben?«

Von der Aducht begann herzhaft zu lachen. »Der Kerl hatte mit seinen selbst gebrauten Säften einige Menschen noch kränker gemacht, anstatt sie zu heilen.«

Seyfrid war sich bewusst, dass es viele schwarze Schafe gab, die nie eine Ausbildung genossen hatten, sich aber als Medicus ausgaben und viel Unheil anrichteten. »Wunder vermag ich nicht zu vollbringen, wohl aber mannigfaltige Krankheiten zu behandeln«, sagte er.

Dietrich von der Mühlengasse betrachtete ihn mit Wohlwollen. »Du bist von adliger Herkunft, hast an der berühmten Scola Medica Salernitana studiert und wohnst dennoch in so einem Loch wie dem ›Wilden Eber‹.«

Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Von der Mühlengasse hatte sich genau über ihn erkundigt, wurde Seyfrid klar. »Ich bin erst vor Kurzem in Köln eingetroffen, und der ›Wilde Eber‹ macht auf mich eigentlich einen anständigen Eindruck.«

Von der Mühlengasse schüttelte ungeduldig den Kopf. »Ich bin der Meinung, dass du eine eigene Wohnung brauchst. Zufällig steht gerade ein Haus in der Severinstraße, das mir gehört, leer. Die bisherigen Bewohner sind gerade in ihre Heimat nach Brügge zurückgezogen. Ich würde es begrüßen, wenn du in das Haus einziehen würdest.«

Vor Verblüffung bekam Seyfrid zunächst kein Wort heraus. Er hatte eigentlich damit gerechnet, sich irgendwo eine kleine Unterkunft in einer der billigsten Gegenden Kölns suchen zu müssen. »Das ist sehr großzügig von dir, aber ich fürchte, ich kann mir das nicht leisten.«

Von der Mühlengasse winkte ab. »Über die Miete mach dir mal keine Sorgen, du zahlst mir einfach das, was du monatlich abzugeben in der Lage bist. Natürlich wird es am Anfang noch nicht viel sein, später sehen wir dann weiter.«

Seyfrid ahnte, dass Dietrich von der Mühlengasse ihn mit seinem scheinbar großzügigen Angebot an sich binden wollte. Er musste an die Warnung Rebeccas denken. Doch die Offerte abzulehnen wäre dumm für sein Vorhaben gewesen. »Ich bin dir sehr dankbar und nehme gerne an.«

»Sehr schön! Du kannst gleich morgen einziehen. Komm zu mir nach Hause in die Mühlengasse, mein Secretarius wird dir das Haus zeigen.«

Dietrich von der Mühlengasse wandte sich wieder seinem Essen zu, das auf dem Zinnteller vor ihm lag. Seyfrid entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung.

Welche glückliche Fügung, dachte er. Doch als er wieder seinem Platz zustrebte, bemerkte er den Blick Gerhard vom Hofs auf sich. Womöglich hatte er sich durch das Gespräch mit von der Mühlengasse die Abneigung des anderen mächtigen Mannes der Richerzeche eingehandelt, aber damit musste er leben.

Kaum hatte sich Seyfrid gesetzt, rief von der Aducht alle Anwesenden zur Ruhe. Um die Frage, ob der Rat der Stadt den Tuchwebern aus Lüttich gestatten sollte, vermehrt ihre Waren in Köln anzubieten, brach eine hitzige Debatte aus. Seyfrid bekam jedoch kaum ein Wort mit, ihm gingen tausend Sachen im Kopf herum, die er an dem Abend erfahren hatte. Vor allem aber kannte er jetzt den Namen des Mannes, der behauptete, den Mord gesehen zu haben: Heribert Grimmel.

***

Seyfrid hielt es nicht mehr auf der Versammlung im Haus der Bürger aus und verabschiedete sich unter dem Vorwand, müde zu sein. Er zog sich seinen Mantel an und trat auf die Straße hinaus. Der Mond war hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden, und die Luft roch nach Schnee. Seyfrid hatte sich fest vorgenommen, noch etwas zu erledigen. Sein Ziel war das Haus der Hackenbroichs.

Er hatte diesen Gang seit seiner Ankunft in Köln vor sich hergeschoben. Er wollte es sich selbst kaum eingestehen, doch er fürchtete, dort die Erkenntnis zu erlangen, dass sein Vater vielleicht doch zum Mörder geworden war. Auch wenn sein Gefühl ihm versicherte, dass dies unmöglich sein könne, sagte ihm sein Verstand, dass es doch nicht völlig ausgeschlossen war. Schließlich hatte Hackenbroich versucht, Johann von Viskenich in den Ruin zu treiben.

Seyfrid überquerte den Heumarkt und bog in die Bolzengasse ein. Das Haus der Hackenbroichs erschien ihm merkwürdig düster. Hier war der Hausherr in einer dunklen Nacht wie der heutigen erstochen worden. Grauenhafte Bilder erstanden in Seyfrids Kopf. Sein Vater war des Mordes schuldig gesprochen und hingerichtet worden. Alles in dem jungen Medicus wehrte sich gegen die quälende Vorstellung.

Kurz vor Hackenbroichs Haus blieb er abrupt stehen. Etwas passte nicht zu dem, was er sich vorgestellt hatte. Seyfrid zog die Stirn in Falten und schüttelte schließlich unwillkürlich den Kopf. Es war halt nachts völlig dunkel in der Gasse, sodass er kaum die Hand vor Augen sehen konnte.

Dann klopfte er an die Tür. Es dauerte eine Weile, ehe ein älterer Mann mit grauer Gesichtsfarbe und einer langen schiefen Nase ihm öffnete. »Was willst du zu dieser späten Stunde?«, raunzte er unfreundlich.

»Sei gegrüßt! Verzeih die Störung. Ich bin Ulrich von Schwarzenberg. Man sagte mir, dass ich hier Salz erwerben könnte.«

Der Diener starrte den Fremden eine Weile an, als hätte er nicht verstanden. Schließlich antwortet er: »Ja, das kannst du wohl. Aber dafür muss ich die Witwe Hackenbroich holen.«

Er schloss die Tür nicht, sodass Seyfrid von draußen einen Blick in die Stube werfen konnte. Er sah eine große Truhe aus Eiche und einen Teppich mit Jagdmotiven, der an der Wand hing. Der restliche Raum entzog sich seines Blickes, er vermutete aber, dass der Esstisch darin stand. Außerdem hörte er das Knistern eines Feuers in einem Kamin.

Schließlich erschien eine wohlgenährte Frau mittleren Alters. Ihr Gewand war weit geschnitten, und dennoch konnte es nicht ihren massigen Körper verhehlen. Ihr breiter Kopf ging direkt in ein ausgeprägtes Doppelkinn über.

»Du wünschst Salz zu kaufen?«, schnarrte sie mit einer tiefen Stimme, die auch einem Mann hätte gehören können.

»Ulrich von Schwarzenberg, Medicus von Beruf. Ich entbiete dir meinen Gruß und meine Dienste, solltest du sie benötigen. In der Tat ist es mein Anliegen, eine Unze Salz zu kaufen.«

Er hatte gehofft, dass die Witwe bereits von ihm gehört hatte, und tatsächlich verfehlten seine Worte ihre Wirkung nicht. »Oh, du bist der Medicus! Ich bin Mechthild Hackenbroich. Bitte tritt doch ein!«

Seyfrid folgte der Aufforderung. Er hatte richtig geraten, rechts stand ein langer Tisch, um den acht Stühle aufgestellt waren. In der Ecke prasselte ein Feuer im Kamin und strahlte etwas Licht und vor allem wohlige Wärme aus.

»Simon, hole eine Unze Salz aus dem Fass vom Dachboden!« Sie wandte sich Seyfrid zu. »Setz dich doch bitte! Ich habe schon von dir gehört. Meine Freundin, Brunhilde von der Aducht, berichtete mir, dass du Matthias Quentenberg von einem bösen Leiden in nur einem Tag geheilt hast!«

»Nun, ganz so schnell ging es zwar nicht, aber er fühlt sich schon viel besser.«

»Vielleicht kannst du mir auch helfen. Mein Mann starb vor einigen Monaten auf tragische Weise. Er wurde in dieser Stube umgebracht. Seitdem leide ich unter Schwermut.«

»Ich möchte dir mein tiefes Mitgefühl aussprechen. Ein großer Verlust.«

Sie hob in einer Geste, die Seyfrid bisher nur bei Gauklern auf dem Jahrmarkt gesehen hatte, die Hand an die Stirn. »Du ahnst nicht, wie sehr ich darunter leide.« Sie deutete mit ihrem dicken Zeigefinger auf eine Stelle am Boden. »Dort hat er gelegen.«

Seyfrid stand auf und trat zu der besagten Stelle, dann drehte er sich um, sah zur Tür und wandte sich wieder der Witwe zu. »Er hat genau hier gelegen?«

»Ich kann diesen schrecklichen Anblick mit dem Schwert in seiner Brust einfach nicht vergessen.«

Etwas stimmt nicht, dachte Seyfrid. Von außerhalb des Hauses hätte Grimmel selbst bei geöffneter Tür den Mord nicht beobachten können, der Türpfosten versperrte den Blick nach rechts in die Stube, wo die Leiche gelegen hatte. Dafür hätte Grimmel schon im Raum stehen müssen.

Noch etwas fiel Seyfrid auf, als er sich umsah: Er gab keine Halter für Kienspäne an den Wänden, die in manchen Häusern nachts glommen, um etwas Licht zu verbreiten. »Sag, hast du nachts Kerzen im Haus brennen?«

Sie sah ihn erstaunt an. »Nein, natürlich nicht. Weißt du, was Kerzen kosten?«

Das bedeutete, dass der Raum fast völlig dunkel gewesen war, selbst wenn im Kamin noch Holz geglommen hätte. Es war unmöglich, von draußen Gesichter im Haus zu erkennen. »Sehr vernünftig!«, erklärte er. »Ich schätze es, wenn Leute sparsam sind.«

Die Witwe schien sich geschmeichelt zu fühlen. In dem Moment kehrte der Diener wieder und übergab ihr einen kleinen Beutel mit Salz.

»Was schulde ich dir für das Salz?«, fragte Seyfrid.

Ein verschlagener Ausdruck erschien auf dem feisten Antlitz der Witwe. »Nun, ich würde dir einen Handel vorschlagen.«

Bevor sie weitersprach, scheuchte sie mit barschen Worten den Knecht aus der Stube. Seyfrid zog misstrauisch die Augenbrauen zusammen.

Die Witwe stand auf und näherte sich ihm. »Ich fühle einen Schmerz in der Brust.« Sie deutete auf ihren üppigen Busen. »Wenn du mich gründlich untersuchst, würde ich dir dafür den Beutel Salz überlassen.«

Mechthild Hackenbroich stand nun unmittelbar vor ihm. Sie roch nach Schweiß, und er konnte einige schwarz verfärbte Zähne erkennen. Unwillkürlich machte er einen Schritt rückwärts, doch sie griff seine Hand und legte sie auf ihre Brust. »Genau hier. Fühlst du etwas?« Sie blickte ihn lüstern an.

Seyfrid entwand ihr seine Hand. »Für eine solche Untersuchung brauche ich mehr Zeit. Außerdem müssten bei dir zunächst die vier Säfte Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Dafür müsstest du Brechwurz zu dir nehmen, um dich von der schwarzen Galle zu reinigen, die die Schwermut ausgelöst haben könnte.«

Das war natürlich völliger Unsinn, aber die Witwe wich augenblicklich zurück.

»Solange würde ich gerne das Salz gegen Geld erwerben. Wie viel verlangst du dafür?«, fragte Seyfrid.

»Zwei Denare«, antwortete sie und klang beleidigt.

Seyfrid trat mit dem Beutel Salz in der Hand in die Nacht hinaus und atmete erleichtert aus, froh, der Witwe entkommen zu sein. Dann blickte er sich um. Weder an der Vorderseite des Hauses noch an irgendeiner anderen Hauswand im Umkreis befanden sich Kienspanhalterungen. In der Bolzengasse war es nachts finster wie in einer Höhle.

Heribert Grimmel hatte gelogen, so viel stand für Seyfrid fest. Der Hafenknecht hätte den Mord nur beobachten können, wenn er sich im Haus aufgehalten hätte – und dort war er nach eigener Aussage nicht gewesen. Auch hätte er den Mörder auf der Flucht in der völligen Dunkelheit der Gasse nicht erkennen können. Dennoch hatte dieser Grimmel vor Gericht Johann von Viskenich des Mordes beschuldigt. Die Schöffen hatten ihm nur zu gern geglaubt, schließlich hatte der Ritter gerade erst mit Hackenbroich einen handfesten Streit gehabt. Woher aber hatte der Hafenknecht davon Kenntnis haben können?

Seyfrid musste mit Grimmel sprechen. Er würde sich den Kerl morgen früh gleich als Erstes vorknöpfen.

***

Adolf von Altena war gar nicht zufrieden. Bruder Maternus kannte die plötzlichen Wutausbrüche des Erzbischofs nur zu gut, gehörte aber zu den wenigen Menschen, die sich davon nicht beeindrucken ließen.

»Was führen die Kerle nur im Schilde?«, brüllte von Altena und warf einen Becher Wein an die Wand, der scheppernd zu Boden fiel und dort eine rote Lache hinterließ. »Da tauchen diese drei Hundsfotte in Köln auf, blicken sich ungehindert in meinem Palast um, verprügeln meine Wache und sind danach wie vom Erdboden verschluckt! Aber ich verwette meinen Arsch darauf, dass sie von ihm geschickt wurden!« Er drehte sich abrupt um. »Und wieso kannst du sie nicht finden?«

Maternus blieb gelassen. »Wir habe jede Herberge in der Stadt und vor den Toren abgesucht, Exzellenz, doch leider bislang vergeblich. Ich habe deshalb einige vertrauenswürdige Leute beauftragt, die Augen und Ohren in der Umgebung offen zu halten.«

An der Schläfe des Erzbischofs pochte deutlich sichtbar eine Ader. »Es kann nicht sein, dass sie mir auf der Nase herumtanzen. Finde sie!« Er atmete tief durch und beruhigte sich wieder.

Seine Wut ist wie eine Sturmböe, dachte Maternus, sie kommt heftig und unerwartet, flaut aber auch genauso rasch wieder ab.

»Weißt du, was das Wichtigste im Krieg ist, Maternus?«

Der Mönch hob fragend die Augenbrauen.

»Die Pläne des Gegners zu kennen«, erklärte der Erzbischof. »Wenn man darauf vorbereitet ist, hat man schon so gut wie gewonnen. Deshalb hasse ich Überraschungen.«

Von Altena schritt wieder im Raum auf und ab und blieb schließlich vor dem Fenster stehen. Gedankenverloren schaute er hinaus in die Dunkelheit. »Was ist mit dem jungen Medicus? Hat er schon etwas herausgefunden?«, fragte er plötzlich.

»Er hat sich noch nicht gemeldet, Exzellenz.«

»Dann geh morgen zu ihm und frag ihn! Noch einer, der erst lernen muss, was Gehorsam bedeutet.«