8. DEZEMBER 1193
Seyfrid war in aller Frühe erwacht und eine Weile grübelnd liegen geblieben, ehe er sich schließlich erhob. Es war wieder an der Zeit, nach seinem Patienten zu sehen. Als er wenig später die Stube des Hauses betrat, erblickte er Matthias Quentenberg zu seiner Überraschung an einem Tisch neben den Nähern, wo er einige Tücher begutachtete, die vor ihm ausgebreitet waren. Ihm gegenüber stand sein Secretarius Berlicher und sah Seyfrid missmutig entgegen.
»Du solltest im Bett sein!«, schalt Seyfrid den Hausherrn.
Doch der machte eine ungeduldige Handbewegung. »Dein Trunk hat geholfen, und die Geschäfte warten auf mich.«
Seyfrid sah ihn prüfend an. Quentenberg war immer noch bleich im Gesicht und seine Bewegungen nicht gerade kraftvoll. »Ich kann dein Verhalten nicht gutheißen.«
»Weißt du, was mich jeder Tag, den ich im Bett verbrachte, gekostet hat? Die Konkurrenz schläft nicht, und wenn meine Kunden denken, dass ich nicht in der Lage bin, ihre Gewänder zu nähen, werden sie sich ganz schnell nach einem anderen Gewandschneider umsehen. Außerdem muss ich die Näher beaufsichtigen, die ruinieren mich sonst.« Quentenberg entriss einem der Näher eine Jacke und hielt sie ihm empört unter die Nase. »Was ist das? Die Naht ist völlig schief!« Er knallte die Jacke auf den Tisch.
»Und wenn du deine Gesundheit nicht schonst, wirst du vielleicht gar keine Gewänder mehr schneidern können«, warnte Seyfrid.
»Jetzt klingst du schon wie mein Eheweib«, brummte Quentenberg ungehalten. »Auch wenn du es nicht gerne hörst, aber ich muss jetzt in das Haus der Bürger, um in unserem Archiv eine Schriftrolle einzusehen. Ich habe erfahren, dass mich der Sohn eines inzwischen verstorbenen Kunden verklagen will, weil ich seinen Vater vor zwei Jahren angeblich zu Unrecht vor Gericht gebracht hätte. Er fordert meinen Lohn zurück. Dabei hatte mir der alte Gauner damals für den Mantel nicht den vereinbarten Preis zahlen wollen. Aber zum Glück gibt es bei jedem Gerichtsverfahren einen Schriftführer, der alles dokumentiert. So kann ich beweisen, dass ich damals im Recht war.«
Seyfrid horchte auf. »Werden alle Mitschriften der Gerichtsverfahren im Haus der Bürger aufbewahrt?«, fragte er.
»Ja, dort ist unser Archiv.«
Dann musste auch eine Mitschrift des Blutgerichts gegen seinen Vater dort sein, durchfuhr es Seyfrid. »Kann jeder dort Einsicht nehmen?«
»Nein, nur Bürger Kölns, die Richter oder Schöffen sind oder waren. Alle anderen Bürger müssen einen Antrag stellen und begründen, warum sie Einsicht haben wollen.«
Seyfrid musste diese Mitschrift sehen. Darin stand niedergeschrieben, was genau passiert war. Vor allem standen dort die Namen der Beteiligten.
»Da ich ein verdienter Schöffe bin, seit ich vor acht Jahren das Amt des Bürgermeisters für ein Jahr bekleidete, brauche ich keinen Antrag zu stellen.«
Seyfrid begriff, dass sich ihm eine ungeahnte Möglichkeit auftat. »Nun, wenn ich dich schon nicht davon abhalten kann, dann bestehe ich darauf, dich zu begleiten, denn du bist noch lange nicht im Vollbesitz deiner Kräfte.«
Quentenberg zuckte mit den Schultern. »Von mir aus, wenn du nichts Besseres zu tun hast.«
In dem Moment betrat seine Gattin die Stube. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie den Medicus erblickte. »Guten Morgen, dank dir geht es meinem Ehegatten heute wieder viel besser, wie du selbst siehst, und das, obwohl er gestern noch so gelitten hatte.«
»Maria, erspare uns deine Danksagungen«, ermahnte ihr Mann sie, dem die Sache unangenehm war. »Denk lieber daran, dass wir heute Abend Gäste haben!«
»Natürlich denke ich daran«, entgegnete sie kühl. »Berlicher, sitz nicht faul herum, sondern geh mit der Magd zum Einkauf auf den Markt!«, blaffte sie den Secretarius an.
Berlicher fuhr wie angestochen von seinem Stuhl hoch und verzog säuerlich den Mund. Sicherlich gehörte das nicht zu seinen eigentlichen Aufgaben, doch Maria Quentenberg duldete keinen Widerspruch.
Seyfrid konnte gerade noch ein Grinsen unterdrücken.
Auf dem Weg zum Haus der Bürger versuchte Matthias Quentenberg einen gesunden Eindruck zu machen, aber Seyfrid entging nicht, dass der Gewandschneider arg schnaufte. Der Weg war zum Glück nicht allzu weit, und Quentenberg war sichtlich erleichtert, als sie vor der schweren Holztür angelangt waren. Erneut sammelte er seine Kräfte und klopfte vernehmlich an.
Nur einen Augenblick später öffnete ihnen ein hagerer Mann mit einer ausgeprägten Hakennase. Er hatte tiefe Falten im Gesicht, doch Seyfrid war sicher, dass er kaum über dreißig Jahre alt war. Merkwürdigerweise kniff er ständig die Augen zusammen.
»Meister Quentenberg, ich bin erfreut, dich zu sehen. Offensichtlich geht es dir wieder gut.«
»Sei gegrüßt, Theobald. Danke, ich fühle mich ausgezeichnet.« Der Schweiß auf seiner Stirn und die blasse Gesichtsfarbe straften ihn Lügen, doch er gab sich tapfer.
»Wer ist dein Begleiter?«
»Ulrich von Schwarzenberg.«
»Ah, der neue Medicus!« Theobald streckte den Kopf auf seinem mageren Hals vor wie ein Raubvogel, um seine Beute zu begutachten. »Ich habe schon wahre Wunderdinge von dir gehört.«
»Wunder vermag ich leider nicht zu vollbringen«, erklärte Seyfrid.
»Du bist zu bescheiden«, sagte Quentenberg. »Dass ich wieder auf den Beinen bin, habe ich nur dir zu verdanken.« Dann deutete er auf Theobald und erklärte: »Theobald ist der Secretarius in diesem Haus. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört es, das Stadtsiegel aufzubewahren und darauf zu achten, dass niemand hereinkommt, der hier nichts zu suchen hat. Besonders, seit das Ulfberht-Schwert des Ritters von Viskenich verschwunden ist.«
Seyfrid fühlte, wie für einen Moment sein Herzschlag aussetzte. Er blickte Quentenberg entsetzt an und konnte gerade noch einen empörten Aufschrei unterdrücken. Das wertvolle Schwert seines Vaters war hier gestohlen worden? Es war seit drei Generationen im Familienbesitz und seinem Vater heilig gewesen.
»Ich versichere dir, dass ich immer noch völlig entsetzt bin«, entschuldigte sich Theobald gestenreich bei Quentenberg. »Aber nachdem der Büttel Pütz es im Sommer in die Truhe gelegt hatte, war ich nicht mehr daran gewesen. Schließlich gehört es nicht zu meinen Aufgaben, die sichergestellten Sachen des Büttels zu kontrollieren. Es war reiner Zufall, dass ich etwas anderes aus der Truhe holen sollte.«
»Du hast keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«, fragte Seyfrid.
Theobald zuckte die Achseln. »Hier sind oft Versammlungen, da könnte jeder an der Truhe im obersten Stockwerk gewesen sein, ohne dass es aufgefallen wäre.«
»Es war gewiss nicht deine Schuld«, beruhigte ihn Quentenberg. »Aber jetzt muss ich ein Dokument aus dem Archiv einsehen.«
Der Hagere deutete eine Verbeugung an und ging voraus. Sie erklommen die Stufen bis in das zweite Stockwerk.
Auf halber Höhe musste Quentenberg verschnaufen. »Ich hatte die Treppe gar nicht so steil in Erinnerung«, keuchte er.
Seyfrid hatte inzwischen seine Fassung wiedererlangt. »Ich habe dich gewarnt, dass du dich noch schonen musst.«
»Unsinn, bin nur etwas müde.« Er ächzte die Stufen weiter hoch.
Sie betraten einen düsteren Raum, in dem in der Mitte ein Tisch und ein Stuhl standen. An drei Wänden reichten Regale bis an die Decke und waren vollgestopft mit Papierrollen. Jede wurde von einer Kordel zusammengehalten, manche trugen ein Siegel. Es gab in dem Raum nur ein winziges Fenster, vor das eine Ziegenhaut gespannt war, um den schneidenden Wind abzuhalten.
»Handelt es sich um ein Dokument aus jüngerer Zeit?«, fragte Theobald.
»Vor zwei Jahren im Sommer. Ich hatte gegen Christoph Tegelmann geklagt, weil er mir nicht den vereinbarten Preis für einen Mantel zahlen wollte.«
Theobald entzündete eine Öllampe, die auf dem Tisch stand, und schritt leise vor sich hin murmelnd ein Regal ab. Sein Blick sprang hin und her, dann blieb er stehen und griff eine Rolle heraus. Er löste die Kordel und zog das Schriftstück kurz auseinander, schüttelte dann den Kopf und legte es zurück, um sich die nächste Rolle anzusehen.
»Woher weißt du, wo sich das Dokument befindet?«, erkundigte sich Seyfrid.
»Die Regale sind zeitlich geordnet. Die ältesten Fälle des betreffenden Jahres liegen ganz links auf diesem Brett, die jüngsten ganz rechts. Die vom Sommer sind also irgendwo in der Mitte.«
Beim vierten Versuch hatte Theobald Glück. »Hier ist es!«, verkündete er stolz und überreichte das Dokument.
Quentenberg warf einen prüfenden Blick darauf. »Ja, das ist die Rolle.« Er setzte sich an den Tisch und überflog kurz den Inhalt.
»Vor einem Monat ist der alte Tengelmann verstorben, und sein Sohn hat nun Klage gegen mich eingereicht, dass ich das Geld zu Unrecht verlangt hätte. Hiermit kann ich beweisen, dass ich im Recht bin.« Er drückte die Rolle Theobald in die Hand. »Der Richter wird das Dokument demnächst abholen lassen!«
Theobald verstaute die Rolle wieder sorgfältig an ihrem Platz, während Seyfrid neugierig das Regal bis zum Ende abschritt. Er deutete auf ein Brett und fragte: »Liegen hier die Gerichtsfälle von diesem Jahr?«
»Ganz recht«, nickte Theobald eifrig.
Seyfrid und Quentenberg stiegen die Treppe wieder hinunter, während Theobald die Tür zum Archiv verschloss, wobei der Schlüssel vernehmlich knirschte. Seyfrid sah im ersten Stock rechts von sich eine kleine Kammer mit einem Bett aus Stroh. »Wohnst du hier im Haus der Bürger?«, fragte er Theobald.
»Ja, es ist meine Pflicht, hier zu wachen.«
Als Seyfrid wieder mit Quentenberg auf der Straße stand, wanderte sein Blick die Hausfassade nach oben bis in den zweiten Stock, wo sich das Archiv befand. Das Fenster war so winzig, dass ein Mann sich nicht dort hindurchzwängen könnte. Höchstens ein Kind.
Seyfrid begleitete seinen Patienten noch bis zu dessen Haustür und verabschiedete sich dort hastig. Er hatte eine Idee.
Severin Cüppers lungerte gerade vor dem Wirtshaus seines Vaters herum und versuchte Passanten zum Hereinkommen zu bewegen. Er machte eine ausladende Handbewegung und rief einem dicklichen Mann zu: »Tritt ein, werter Herr! Bei uns bekommst du das beste Bier und den fettesten Braten von ganz Köln.«
Doch der Mann antwortete etwas Unverständliches und ging weiter. In dem Moment entdeckte Severin den Medicus. Seyfrid gab ihm mit einer seitlichen Kopfbewegung zu verstehen, dass er ihn sprechen wollte, ohne dass es jemand mitbekam. Der Junge warf einen Blick zum Wirtshaus, um zu schauen, ob sein Vater nicht in Sichtweite war, und folgte dann Seyfrid bis zur nächsten Ecke, wo sie stehen blieben.
»Severin, du bist doch ein geschickter Bursche.«
Der Junge zog eine Augenbraue hoch. »Ich vermute, du willst etwas Bestimmtes von mir, das niemand wissen sollte.«
»Und klug bist du auch noch«, lächelte Seyfrid. »Traust du dir zu, die Fassade eines Hauses bis in den zweiten Stock hochzuklettern und dort durch ein kleines Fenster einzusteigen? Die Balken in der Hauswand ragen weit genug heraus, dass du dort Halt finden kannst.«
Severin ließ ein nachdenkliches Brummen hören, ehe er antwortete: »Was soll ich in dem Haus machen?«
»In der Kammer ist niemand, dort stehen nur Regale mit Schriftrollen. Es geht mir um eine ganz bestimmte Rolle. Die nimmst du mit und verschwindest direkt wieder.«
»Um welches Haus handelt es sich?«
Seyfrid beugte sich vor und flüsterte es ihm ins Ohr.
»Ich soll für dich ins Haus der Bürger einbrechen«, stellte Severin fest, ohne dass er sonderlich erstaunt klang.
»Es geht um eine Niederschrift vom letzten Sommer. Niemand wird die Schriftrolle vermissen, und du verdienst dir drei Pfennige. Einverstanden?«
»Nein.«
»Gut, vier Pfennige.«
Severin schüttelte den Kopf. »Ich will kein Geld. Ich werde es nur tun, wenn du dafür jemanden behandelst.«
Seyfrid war erstaunt. »Wen soll ich behandeln, und was hat er?«
»Es geht um den kleinen Sohn meiner Cousine. Er ist sehr krank und isst nichts mehr.«
Seyfrid sah ihn einen Moment nachdenklich an. Der Junge war doch selbstloser, als er gedacht hatte. Dann nickte er. »Einverstanden. Ich werde ihn mir ansehen.« Er hielt Severin die Hand hin, und der schlug ein.
»Wir treffen uns heute um Mitternacht vor dem Haus der Bürger.«
***
Rebecca erhob sich ruckartig von ihrem Bett. Sie war zu einem Entschluss gekommen. Sie konnte nur herausfinden, wer ihrem Vater das Arsenik verabreicht hatte, wenn sie die Witwe Hackenbroich direkt fragen würde. Sie griff nach ihrem Mantel, spähte vorsichtig in die Stube, um sich zu vergewissern, dass ihre Mutter nicht anwesend war, dann verließ sie heimlich das Haus.
Rebecca hatte sich einen Plan zurechtgelegt, doch je näher sie sich dem Haus Hackenbroich näherte, desto mehr sank ihre Zuversicht, dass er funktionieren würde. Zweifelnd stand sie eine Weile vor der Tür, dann fasste sie sich ein Herz und klopfte an.
Sie war fürchterlich aufgeregt, erneut wollte sie jemanden vorsätzlich anlügen, und das war eine Sünde, wie sie ganz genau wusste. »Es ist zum Besten meines Vaters«, murmelte sie, um sich zu beruhigen.
Als die Tür sich öffnete, stand die Witwe Hackenbroich höchstselbst vor ihr. Die füllige Frau sah sie zunächst misstrauisch an, dann erkannte sie die Besucherin. »Rebecca Quentenberg! Was führt dich hierher?«
»Ich komme mit einer Bitte. Darf ich eintreten?«
Mechthild Hackenbroich trat beiseite und ließ Rebecca passieren. In der Wohnstube war sonst niemand, wie sie erfreut feststellte. Was sie vorhatte, war für keine anderen Ohren bestimmt.
»Wie du vielleicht weißt, war mein Vater schwer krank, doch dank der Hilfe eines tüchtigen Medicus geht es ihm inzwischen besser«, begann sie.
»Ich hörte davon.«
»Aber mein Vater leidet immer noch sehr unter Schmerzen, und Arsenik soll ihm Linderung verschaffen. Doch in ganz Köln gibt es kein Arsenik mehr. Nun habe ich erfahren, dass dein Gatte letzten Sommer, bevor er so tragisch verstarb, Arsenik gekauft habe. Daher wollte ich fragen, ob du noch etwas davon besitzt und ich es dir für meinen Vater abkaufen könnte.«
War der Gesichtsausdruck der Witwe schon vorher nicht gerade begeistert, so wurde er jetzt hart und abweisend. »Ich glaube, mein Gatte – Gott hab seine Seele gnädig – hat das Arsenik aufgebraucht.«
»Oh! Gegen was für eine Krankheit hatte er es denn genommen?«
»Er … Er hatte auch Schmerzen … im Bauch.«
Rebecca ließ nicht locker und hakte nach: »Aber könntest du nachsehen, ob nicht doch noch etwas übrig ist?«
»Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe? Es ist nichts mehr da!«, brauste die Witwe auf.
Rebecca zuckte vor dem Wutausbruch kurz zurück, dann fing sie sich wieder. »Nun, das ist sehr bedauerlich. Es hätte meinem Vater sicher helfen können. Verzeih die Störung!« Rebecca wandte sich zum Gehen.
Offenbar bereute Mechthild Hackenbroich ihre heftige Reaktion und wollte es sich nicht mit einer der reichsten Familien in Köln verscherzen. »Ich hätte deinem Vater natürlich nur zu gerne geholfen«, beeilte sich zu sagen, »aber es ist nicht meine Schuld, wenn nichts mehr übrig ist.«
Rebecca warf ihr einen letzten prüfenden Blick zu, dann verabschiedete sie sich mit einem kurzen Kopfnicken. Sie fühlte eine immense Wut aufwallen. Die Witwe Hackenbroich hatte ganz sicher gelogen, sonst hätte sie nicht so unwirsch reagiert. Wenn Mechthild Hackenbroich klug gewesen wäre, hätte sie einfach geleugnet, von dem Arsenik zu wissen.
Die Frage war nur, ob Hackenbroich das Arsenik noch vor seinem Tod weitergegeben oder seine Witwe es danach getan hatte. Und vor allem: An wen?
Mechthild Hackenbroich schloss hastig die Tür und lehnte sich dann dagegen. Sie fühlte ihr Herz rasen. Rebecca Quentenberg ahnte etwas. Zu eindringlich waren die Fragen gewesen, und sie glaubte auch nicht, dass Rebecca Arsenik für ihren Vater haben wollte, denn gegen Schmerzen gab es günstigere Medizin. Aber was führte das Mädchen im Schilde?
In dem Moment durchfuhr es die Witwe wie ein Blitz: Quentenberg war nicht von einer Krankheit befallen, sondern mit Arsenik vergiftet worden – mit dem Arsenik, das sie weiterverkauft hatte. Und Rebecca wollte herausfinden, wer es ihrem Vater verabreicht hatte.
Mechthild Hackenbroich konnte eine gewisse Bewunderung für den Mut der jungen Frau nicht verhehlen, Rebecca begab sich in Gefahr, um ihren Vater zu schützen. Aber das wird dem Mädchen zum Verhängnis werden, dachte sie mitleidslos. Ein Plan begann in ihrem Kopf zu reifen. Sie könnte ihr Wissen in klingende Münze umwandeln. In sehr viele Münzen.
Als Rebecca zu Hause eintraf, herrschte emsige Betriebsamkeit. Die Mägde waren dabei, den Tisch festlich zu decken, und aus der Küche drang das Klappern von Töpfen.
Ihre Mutter empfing sie mit Vorwürfen. »Wo warst du so lange? Ich hatte dir doch gesagt, dass wir heute Gäste empfangen.«
Rebecca erinnerte sich dunkel, dass ihre Mutter etwas in der Richtung erwähnt hatte, aber nicht, wer kommen würde. »Ich dachte, das hätte sich wegen Vaters Krankheit erledigt.«
»Durchaus nicht! Deinem Vater geht es wieder gut, wie du wohl selbst gesehen hast, also werden unsere Gäste kommen. Geh und mach dich hübsch! Zieh das grüne Seidenkleid an und lass dir von der Magd beim Ankleiden helfen!«
Das Kleid hatte ihr Vater aus der teuersten venezianischen Seide geschneidert und es ihr zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt. Es war Rebeccas ganzer Stolz, etwas so Kostbares hatte keine ihrer Freundinnen vorzuweisen, und sie zog es nur zu sehr feierlichen Anlässen an wie etwa die Christmette. Dass sie es heute zum Abendessen tragen sollte, machte sie stutzig. Meistens lud ihr Vater aus geschäftlichen Gründen Kunden zu sich nach Hause ein, ihre Mutter und sie selbst waren nur aus Höflichkeitsgründen anwesend und hielten sich dezent zurück. »Wer kommt?«
»Jacob Hoengen.«
»Der Glashändler? Was hat Vater denn mit dem zu schaffen?«
»Er hat ihn eingeladen, das sollte dir doch wohl genügen.«
Jacob Hoengen galt zwar als tüchtiger Geschäftsmann, aber auch als brüsk und unfreundlich, und bisher hatte Rebeccas Vater zu Hause noch nie ein Wort über ihn verloren.
Nach dem Freitod seiner Frau vor vielen Jahren hatte Hoengen nicht wieder geheiratet. Es hieß, dass ihm die Arbeit wichtiger sei als eine Gattin. Rebecca wusste, dass Hoengen alles versuchte, um mehr Ansehen und Einfluss in der Richerzeche zu erlangen, denn die alteingesessenen Familien nahmen ihn nicht für voll. Hoengen hatte bei ihrem Vater einige Gewänder anfertigen lassen, und umgekehrt hatte Matthias Quentenberg einige Gläser bei ihm gekauft. Mehr hatten die beiden Familien aber nicht miteinander zu tun gehabt – bis heute.
Mit gerunzelter Stirn stieg Rebecca die Treppe hoch, um der Anweisung ihrer Mutter zu folgen.
Als zwei Stunden später der Gast eintraf, war er zu Rebeccas Überraschung nicht allein. Sein Sohn Kaspar begleitete ihn. Wie merkwürdig, durchfuhr es sie. Mit einem Mal wurde ihr klar, wie oft sie Kaspar in den letzten Monaten immer wieder zufällig in der Stadt getroffen hatte. Meistens auf dem Markt und einmal sogar direkt vor ihrer Haustür. Oder war das gar kein Zufall gewesen? Stellte er ihr etwa heimlich nach?
Beide Hoengens waren bunt herausgeputzt, offensichtlich wollten sie den besten Eindruck erwecken.
Matthias Quentenberg begrüßte die Gäste überschwänglich. »Seid willkommen, edle Herren! Ich fühle mich durch eure Anwesenheit geehrt.«
Rebecca sah ihren Vater misstrauisch an. So viel Ehrerbietung gegenüber Jacob Hoengen, der sich im Ansehen innerhalb der Richerzeche weit unter ihrem Vater befand?
»Wir haben dir für die großzügige Einladung zu danken«, erwiderte Hoengen.
Auch Kaspar trat nun vor und verbeugte sich leicht. »Wir sehen mit Freuden, dass du von deiner Krankheit wieder genesen bist.«
Quentenberg winkte ab. »Das war nur ein Schnupfen.«
Er bat seine Gäste, sich zu setzen. Erst jetzt registrierte Rebecca, dass auserlesene Köstlichkeiten aufgetischt worden waren.
Jacob Hoengen ergriff das Wort und lobte zunächst das Essen, dann die Klugheit und die Geschäftstüchtigkeit des Gastgebers. Matthias Quentenberg revanchierte sich umgehend und äußerte sich anerkennend über den Glashandel von Hoengen und seinen klugen Geschäftssinn, die ihm schließlich die Aufnahme in die Richerzeche eingebracht hatten.
Rebecca kamen die Lobhudeleien ihres Vaters merkwürdig vor, zumal sie genau wusste, dass man sich in der Richerzeche über Hoengen gern lustig machte.
Der deutete mit einer kurzen Geste auf seinen Sohn. »Kaspar zählt einundzwanzig Lenze und ist schon sehr tüchtig im Geschäft. Wie du sicher weißt, war er mehrmals mit mir in fernen Städten, sogar in Paris ist er schon gewesen. Er wird einmal mein Nachfolger, vorausgesetzt, dass er sich dessen würdig erweist. Bis dahin hat er allerdings noch viel zu lernen, denn manchmal stellt er sich noch sehr tölpelhaft an.«
Kaspar wurde schlagartig rot im Gesicht. »Aber Vater, ich habe doch …«, setzte er an, doch sein Vater schnitt ihm rüde das Wort ab.
»Rede nur, wenn ich dich frage!«, blaffte er und hob drohend die Hand, als wolle er ihn schlagen, überlegte es sich mit einem Blick auf seinen Gastgeber dann aber anders.
»Bitte verzeih ihm, er ist noch sehr jung«, fuhr er an Matthias Quentenberg gewandt im freundlichen Tonfall fort. »Aber ich werde ihm seine Dreistigkeit schon noch austreiben.«
Ein betretenes Schweigen folgte.
»Nun, ich bin sicher, er wird sich deiner würdig erweisen«, sagte Quentenberg schließlich beschwichtigend. »Du erzähltest neulich, dass viele deiner Kunden und Geschäftsfreunde in anderen Städten großes Interesse an eleganten Gewändern hätten.«
Jacob Hoengen führte den Becher Wein an die Lippen und nahm einen Schluck. Er genoss sichtlich die Aufmerksamkeit seines Gastgebers. »Das ist schließlich der Grund für unseren Besuch, nicht wahr?« Er verzog den Mund zu einem süffisanten Lächeln. »Jedenfalls einer davon.«
Rebecca runzelte die Stirn und wartete auf eine Erklärung, welchen anderen Grund es noch geben sollte, doch Hoengen ging nicht weiter darauf ein.
»Du sagtest, du könntest für einige meiner Kleidungsstücke auf deinen Reisen einen höheren Preis erzielen als ich hier in Köln«, sagte ihr Vater.
»Ja, gewiss. So vorzügliche Gewänder bekommen die meisten der edlen Herren in anderen Städten und auf Burgen selten zu Gesicht. Aber gerade auf feine Stoffe sind sie ganz versessen.«
Matthias Quentenberg rieb sich nachdenklich das Kinn. »In der Tat bereist du Gegenden, wo ich noch keine Kunden habe.«
»Bedenke nur die reichen Herren in den Städten und Burgen Frankreichs, die sich um meine Gläser reißen. Sie würden für deine Gewänder jede Summe zahlen.«
»Die Franzosen haben durchaus auch tüchtige Gewandschneider«, wandte der Gastgeber ein.
Hoengen wedelte verneinend mit dem Zeigefinger durch die Luft. »Aber sie liefern nicht eine so gute Verarbeitung. Teure Stoffe zu verwenden bedeutet nicht, dass sie als Kleidungsstücke auch halten. Wie oft habe ich dort schon Beschwerden gehört, dass sich Jacken, Hemden und Kleider schon nach kurzer Zeit auflösen.«
»Die Nähte lösen sich auf? Nun, das passiert bei meinen Kleidungsstücken in der Tat nicht, da lasse ich höchste Sorgfalt walten.«
»Siehst du, wie erfolgversprechend unsere Zusammenarbeit wäre?«
Quentenberg nickte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck und prostete Hoengen zu. Auch Maria schien mit dem Verlauf des Gesprächs glücklich zu sein und strahlte die Gäste an. Nur Rebecca blieb zurückhaltend. Sie hatte den Eindruck, dass noch etwas Unausgesprochenes in der Luft lag. Außerdem war ihr nicht entgangen, dass Kaspar Hoengen beim Essen immer wieder heimliche Blicke in ihre Richtung warf, doch wenn sie ihn ansah, senkte er rasch den Kopf. Er wagte während des gesamten Abends nicht mehr den Mund aufzumachen.
***
Die Menschen in Köln hatten sich längst zur Ruhe begeben, hinter den mit Stroh und Lederhäuten abgedeckten Fenstern schimmerte kaum noch ein Licht. Ein eisiger Wind strich durch die leeren Gassen. Seyfrid und Severin standen im Dunkeln an eine Hauswand gegenüber dem Haus der Bürger gedrückt.
Seyfrid deutete auf das kleine Fenster im zweiten Stock. »Dort muss du rein. Traust du dir das zu?«
»Kein Problem.« Severin nickte zuversichtlich.
»Die Schriftrolle liegt in dem Regal zu deiner Rechten auf dem zweiten Brett von unten, etwa in der Mitte«, flüsterte Seyfrid. Dann ließ er die Katze aus dem Sack. »Es geht darin um das Blutgericht gegen den Ritter von Viskenich.«
Severin verzog keine Miene. Offensichtlich war es ihm egal, warum Seyfrid sich für das Gerichtsverfahren interessierte. Sie warteten noch ein Weilchen, um sicherzugehen, dass Theobald im Haus der Bürger nicht mehr wach war. Dann nickte Seyfrid dem Jungen zu. »Wohlan!«
Severin kletterte, ohne zu zögern, an den Balken des Mauerwerks hoch. Seine Finger fanden nur kleine Vorsprünge, dennoch schaffte er es in Windeseile bis zu dem kleinen Fenster im zweiten Stock. Mit einem kurzen Messer schnitt er das mit Schnüren befestigte Ziegenleder auf und schlüpfte kopfüber in den Raum. Einen Moment später sah Seyfrid, wie ein schwacher Lichtschein aufflackerte. Severin hatte die in seinem Beutel mitgebrachte Kerze entzündet.
Seyfrid trat von einem Fuß auf den anderen, weniger wegen der Kälte, vielmehr vor Aufregung. Nach einer Weile tauchte Severins Gesicht wieder im Fenster auf. Bevor Seyfrid etwas sagen konnte, regneten gut ein Dutzend Schriftrollen auf ihn herab. »Was machst du da?«, zischte er.
Severin hatte sich wieder durch das kleine Fenster gezwängt und kletterte behände die Hauswand hinab. Wenige Augenblicke später stand er auf der Straße und zuckte die Achseln. »Woher sollte ich wissen, welche Schriftrolle die richtige ist?«
»Du hättest sie doch nur lesen müssen!«
»Ich kann nicht lesen.«
»Das sagst du jetzt?« In einer Geste der Resignation hob Seyfrid die Hände und gab sich selbst die Schuld, dass er daran nicht gedacht hatte. Wo hätte der Sohn eines Wirts auch Lesen lernen sollen?
Sie sammelten hastig die Schriftrollen ein und stopften sie unter Seyfrids Mantel und in Severins Beutel. Dann eilten beide durch das nächtliche Köln bis zu Seyfrids Haus, wo sie sich keuchend auf zwei Hocker fallen ließen.
Sie schütteten die Schriftrollen auf den Tisch, Seyfrid zündete eine Öllampe an und begann zu lesen. Die Pergamente waren alle wie üblich auf Latein verfasst. Ein ums andere Mal schüttelte er enttäuscht den Kopf und legte die Rolle zur Seite. Doch beim neunten Dokument stieß er einen leisen Freudenschrei aus. Es war die Niederschrift des Blutgerichts gegen Johann von Viskenich.
Mit versteinerter Miene las Seyfrid den Text. Ein Blutgericht war am 19. Juli im Jahre des Herrn 1193 zusammengetreten, um über den Ritter Johann von Viskenich zu urteilen. Den Vorsitz des Hochgerichts führte der Graf von Arenberg. Ritter Johann von Viskenich wurde des Mordes an Gottfried Hackenbroich angeklagt. Als Beweis wurde das Schwert des Angeklagten aufgeführt, das bei der Leiche gefunden wurde. Zudem sagte der Zeuge Heribert Grimmel aus, den schändlichen Mord beobachtet zu haben: Der Ritter Johann von Viskenich habe Gottfried Hackenbroich wütend in seinem Haus angegriffen und ihn mit dem Schwert niedergestreckt. Als Grund für die Tat war vermerkt, dass Johann von Viskenich Schulden bei Gottfried Hackenbroich hatte und ein heftiger Streit zwischen den beiden im Hause von Berthold Fursach vorausgegangen sei. Johann von Viskenich leugnete die Tat und bestand auf seiner Unschuld, konnte jedoch keinerlei Beweise oder Zeugen vorweisen.
Seyfrid merkte, wie das Pergament in seiner Hand zitterte, obwohl es nur bestätigte, was er bereits erfahren hatte. Er zwang sich weiterzulesen. Das Schöffengericht war nach zweitägiger Beratung zu einem einhelligen Urteil gekommen: Johann von Viskenich solle in die Hacht gesperrt und am 2. August vom Henker dreimal gegen den Blauen Stein gestoßen werden, bevor dem Verurteilten mit dem Beil der Kopf vom Rumpf abgetrennt werde.
Seyfrid fühlte einen Kloß in der Kehle. Alle hatten seinen Vater für schuldig gehalten. Er war sein Leben lang aufrichtig und gottesfürchtig gewesen, er hatte dem Kaiser treu gedient und stets nach dem Ehrenkodex der Ritter gehandelt. Doch das hatte ihm alles nichts genützt, keiner war vor Gericht aufgestanden, um für ihn einzutreten.
Seyfrid hatte so sehr gehofft, dass ihm die Niederschrift irgendeinen Hinweis auf den wahren Täter liefern würde, aber es fand sich keine neue Erkenntnis. Er ließ das Dokument langsam sinken und starrte in die Dunkelheit. Er musste mit jemandem reden, der beim Prozess dabei gewesen war.
Am Ende der Schriftrolle waren die Namen der zwölf Schöffen aufgelistet. Unter den ersten elf waren zwei Männer, die er im Haus der Bürger kennengelernt hatte: Dominikus Scherfgin und Richof Parfuse. Die anderen neun sagten ihm nichts. Als Seyfrid aber den letzten Namen auf der Liste las, riss er die Augen auf: Jacob Hoengen. Auch der Glashändler hatte als Schöffe beim Blutgericht für die Hinrichtung gestimmt.
Seyfrid war so in Gedanken versunken, dass er Severin ganz vergessen hatte.
»Was ist nun mit deinem Versprechen, den Sohn meiner Cousine zu behandeln? Können wir zu ihm gehen?«, fragte Severin schließlich ungeduldig.
»Jetzt noch? Mitten in der Nacht?«
»Ja, er ist sehr krank. Du musst dich beeilen, ihn zu heilen, sonst stirbt er vielleicht.«
Mit einem Seufzer rollte Seyfrid das Schriftstück zusammen und verstaute es sorgfältig mit den anderen Papieren in seiner Truhe.
»Nun denn, wenn es so eilig ist, dann lass uns gehen. Wo wohnt deine Cousine?«
»Draußen vor der Stadtmauer. Etwa eine halbe Meile Richtung Süden.«
Seyfrid suchte einige Utensilien zusammen und hängte sich die Tasche um. Für einen Moment überlegte er, sein Schwert umzugurten, entschied sich dann aber dagegen. Es machte beim Besuch eines kleinen Patienten keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Für alle Fälle steckte er sich aber einen Dolch in den Gürtel. Nachts war man selbst im heiligen Köln nicht immer sicher.
Es war bitterkalt, und Seyfrid spürte schon nach kurzer Zeit, wie die Kälte durch seinen Mantel kroch. Obwohl Severin nach einer Weile begann, mit den Zähnen zu klappern, stapfte er unverdrossen neben Seyfrid her. Der Junge nötigte ihm immer mehr Respekt ab.
»Erzähl mir von deiner Cousine und ihrem Sohn!«, forderte er Severin auf.
»Sie heißt Hedwig und ist die Tochter meines Onkels Bertram. Du musst wissen, dass er sie verstoßen hat, weil sie das Kind bekam, ohne verheiratet zu sein.«
Seyfrid nickte mitfühlend. Frauen, die ein uneheliches Kind hatten, wurden oft zu Bettlerinnen oder mussten ihren Lebensunterhalt als Hübschlerinnen verdienen.
»Zum Glück stand Karl, so heißt der Vater ihres Kindes, zu ihr und nahm sie in seine Hütte auf. Er hätte sie ja schon längst geheiratet, aber Karl ist Schustergeselle, und das war für meinen Onkel, der Bierbrauer ist, nicht standesgemäß. Bis heute verweigert er Hedwig seinen Segen. Jetzt ist auch noch ihr kleiner Sohn Ludwig sehr krank geworden, er hat Fieber und isst nichts mehr. Für einen Bader haben sie kein Geld, aber ich habe nun etwas viel Besseres«, sagte er und sah Seyfrid strahlend an. »Dich.«
Sie erreichten bald die Ulrepforte, und zu Seyfrids Überraschung ließ der Wachsoldat sie anstandslos passieren, als er Severin erkannte.
»Er ist Stammgast bei uns«, erklärte Severin und fügte grinsend hinzu: »Außerdem schuldet er mir noch einen Gefallen.«
Seyfrid wagte nicht zu fragen, wofür. Der Junge war mit allen Wassern gewaschen.
»Hedwig ist fünf Jahre älter als ich«, erläuterte Severin, als sie den dunklen Weg außerhalb der Stadtmauer entlangliefen. »Wir sind zusammen aufgewachsen, und sie ist herzensgut. Auch Karl ist ein anständiger Mann, der alles tut, um seine Familie zu ernähren, doch er verdient als Schustergeselle nicht viel. Onkel Bertram behauptet, die Krankheit Ludwigs sei die Strafe Gottes für die Sünde seiner Eltern. Ich kann nicht glauben, dass Gott einen so lieben Menschen wie Hedwig so hart bestrafen würde.«
Nur wenige Minuten später klopfte er an die Tür einer kleinen strohgedeckten Hütte.
»Wer ist da?«, fragte eine verschlafene Stimme.
»Ich bin es, Severin. Lass mich ein!«
Ein junger Mann von vielleicht zwanzig Jahren mit zerstrubbelten blonden Haaren öffnete blinzelnd. »Severin! Was machst du um diese nächtliche Stunde hier? Und wen hast du da mitgebracht?«
»Sei gegrüßt, Karl! Das ist Ulrich von Schwarzenberg, ein berühmter Medicus.«
Karl fiel die Kinnlade herunter.
»Ich habe gehört, dass du ein krankes Kind hast. Dürfte ich es mir ansehen?«, fragte Seyfrid höflich.
Fassungslos starrte Karl ihn an und rang um Worte. »Du bist … Ich meine, ja, natürlich! Bitte, tritt näher!« Als Seyfrid an ihm vorbeiging, blickte Karl in den Nachthimmel und sandte ein kurzes Stoßgebet nach oben: »Oh gerechter Gott, ich danke dir!«
In der Hütte lag eine junge Frau mit dunklen Ringen unter den Augen auf einem Strohlager. Sie hatte das Gespräch gehört, und auch sie sah Seyfrid mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Unglauben an, als wäre er eben vom Himmel herabgestiegen. Neben ihr lag ein Säugling und wimmerte. Der Kleine war abgemagert und blass.
»Du bist gewiss Hedwig, Severin hat mir von dir erzählt. Und das müsste dann Ludwig sein«, sagte Seyfrid.
Sie nickte heftig.
»Seit wann geht es deinem Sohn schon so schlecht?«
»Seit vier Tagen.« Ihre Stimme war nur ein Flüstern, als hätte sie Angst, die Krankheit durch Reden noch zu verschlimmern.
Seyfrid beugte sich über das Baby und fühlte die Stirn. Sie war heiß und die Haut trocken. Dann zog er die Decke weg und betastete den kleinen Bauch und die Beine. »Isst er noch?«
Hedwig schüttelte den Kopf, und Tränen begannen über ihre Wangen zu rollen. »Seit gestern nicht mehr. Ich habe alles versucht, aber er will nicht.«
Seyfrid deckte Ludwig wieder sorgsam zu, dann zog er ein Bündel getrockneter Pflanzen aus seinem Beutel und reichte sie Hedwig. »Koch diese Blätter in einem Topf aus und gib deinem Sohn von dem Sud zu jeder Stunde einen Löffel. Und er muss sauberes Quellwasser trinken. Zur Kühlung gegen das Fieber leg ihm ein feuchtes Tuch auf die Stirn.«
»Wird er wieder gesund?«, fragte Hedwig mit zitternder Stimme.
Seyfrid sah in das eingefallene kleine Gesicht mit den großen, dunklen Augen. Um Ludwig stand es schlecht. Eine Chance, zu überleben, hatte er nur, wenn sie das Fieber wieder gesenkt bekamen. »Das liegt alleine in Gottes Hand«, antwortete er schließlich.
»Werter Medicus, was schulden wir dir für deine Dienste?«, fragte Karl vorsichtig.
Seyfrid schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Das hat bereits Severin erledigt.«
Hedwig drückte Severin unter Tränen an sich. »Hab dank, lieber Severin!« Sie streichelte ihrem jüngeren Vetter über den Kopf.
»Schon gut, ich habe es für Ludwig getan«, wehrte er bescheiden ab.
Nachdem Seyfrid und Severin unter einem Schwall Dankesbekundungen von Karl das Haus wieder verlassen hatten, schlugen sie den Weg zur Ulrepforte ein. Der Junge war sichtlich mitgenommen über den schlechten Zustand des kleinen Ludwig, aber gleichzeitig froh über die Hilfe. »Es war sehr freundlich von dir, Ludwig zu helfen.«
»Das war Teil unserer Abmachung.«
Nachdem die Wache an der Ulrepforte sie erneut unbehelligt hatte passieren lassen, verabschiedete sich Severin vor Seyfrids Haus an der Severinstraße, nicht ohne dem Medicus erneut zu danken. Dann wandte sich der Junge in Richtung Waidmarkt und wurde schon nach wenigen Schritten von der Dunkelheit verschluckt.