14. DEZEMBER 1193

Am nächsten Morgen, als Seyfrid gerade am Boden saß und der erste zarte Sonnenstrahl durch das winzige Fenster auf ihn fiel, hörte er, wie sich der Schlüssel knirschend im Türschloss drehte. Er rechnete damit, dass er sein Essen bekommen würde, doch der Wärter, unter dessen lederner Jacke sich ein stattlicher Bauch spannte, kam mit leeren Händen herein. Der stämmige Mann kam bis auf zwei Schritte auf ihn zu, dann hob er warnend den Zeigefinger. »Benimm dich, du hast edlen Besuch!«

Zu Seyfrids großer Überraschung trat eine schlanke Gestalt in einem schwarzen Habit ein. Erst als sie die weite Kapuze zurückschlug, erkannte er die Besucherin. »Schwester Kathryn!«, entfuhr es ihm.

Doch die wandte sich zunächst an den Wärter. »Danke, Joseph, lass uns jetzt bitte allein!«

Der nickte und warf Seyfrid noch einen strafenden Blick zu, damit der sich auch wirklich benehmen würde. »Wenn du wieder rauswillst, ruf mich!«, sagte er zur Äbtissin, dann schloss er die Tür hinter sich.

»Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?«, fragte Seyfrid verwirrt.

Sie sah ihn lange prüfend an, ehe sie antwortete: »Mir ist zu Ohren gekommen, dass du angeklagt bist, jemand anderer zu sein als der, für den du dich ausgibst.«

Seyfrid wollte die Äbtissin nicht anlügen und entschied sich daher, gar nichts zu sagen.

»Du nennst dich Ulrich von Schwarzenberg, doch angeblich bist du in Wahrheit Seyfrid von Viskenich, der Sohn des hingerichteten Ritters Johann von Viskenich. So erzählt man es sich auf den Straßen Kölns.«

»Bist du gekommen, um über mich zu richten? Die Mühe hättest du dir sparen können, das wird das Hohe Gericht erledigen.«

»Nein, ich bin gekommen, um die Wahrheit zu erfahren.«

Seyfrid sah sie misstrauisch an. »Wie hast du es überhaupt geschafft, zu mir in den Frankenturm gelassen zu werden?«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Das war einfach. Der Wärter ist der Bruder von Schwester Otilia. Joseph war vor ein paar Jahren schwer am Sumpffieber erkrankt und mehr tot als lebendig zu uns ins Kloster gebracht worden. Ohne mich hätte er wohl nicht überlebt. Seitdem kann er mir keinen Wunsch abschlagen. Ich habe ihm gesagt, dass ich mit dir für die Vergebung deiner Sünden beten wolle.«

Gleich darauf wurde sie wieder ernst. »Erinnerst du dich noch, dass ich dich bei deinem Besuch im Kloster gefragt habe, ob wir uns kennen? Dein Gesicht kam mir bekannt vor. Doch erst als ich gestern vernahm, dass der neue Medicus in Wahrheit Seyfrid von Viskenich sei, begriff ich, woher. Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich, Seyfrid.«

Seyfrid starrte die Äbtissin verblüfft an.

»Deine Mutter Lucretia und ich kannten uns gut in Kindertagen, wir wuchsen beide in Bonn auf. Aber ich trat als Vierzehnjährige in ein Kloster bei Aachen ein, und so verloren wir uns aus den Augen. Ich habe Lucretia danach nur noch ein Mal gesehen, bei ihrer Hochzeit mit dem Ritter von Viskenich, deinem Vater. Doch auch das ist schon so viele Jahre her. Ich erfuhr erst Monate nach ihrer Beerdigung vom Tod deiner Mutter. Es betrübte mich zutiefst, da wir uns sehr zugeneigt waren. Vor sechs Jahren schickte mich unser Orden als Äbtissin in das Kloster zu Ehren der Heiligen Jungfrau nach Köln. Danach besuchte mich dein Vater gelegentlich, und wir redeten viel über deine Mutter, aber auch über dich. Er war sehr stolz auf seinen Sohn, den tapferen Knappen, der mit Kaiser Barbarossa ins Heilige Land gezogen war, um für Gott zu streiten.«

Sie sah ihm sanft in die Augen. »Ich bin zutiefst überzeugt, dass du Seyfrid von Viskenich bist, aber ich muss es aus deinem Mund hören.«

Seyfrid überkam erneut Misstrauen. »Warum? Schickt dich der Büttel, damit du als Zeuge vor Gericht auftreten kannst?«

Die Äbtissin zog wortlos eine Kette aus einer Tasche in ihrem Gewand. Daran hing ein rundes Medaillon mit zwei silbernen Zweigen, die sich um ein Kreuz rankten. »Hast du das schon einmal gesehen?«

Seyfrid durchfuhr es siedend heiß. Es war die Kette seiner Mutter Lucretia. »Woher hast du das?«, rief er und sprang auf.

»Erst antworte auf meine Frage.«

Seyfrid rang lange mit sich und gab schließlich resigniert seinen Widerstand auf. »Ja, ich bin Seyfrid von Viskenich«, sagte er leise.

»Der Heiligen Jungfrau sei Dank!«, rief sie erleichtert. »Du lebst und bist zurückgekehrt. Unsere Gebete sind erhört worden.«

Er runzelte die Stirn. »Unsere Gebete?«

»Das erkläre ich dir später. Jetzt musst du erst einmal vom Gericht freigesprochen werden.«

Seyfrid lachte bitter auf. »Freigesprochen? Hast du nicht zugehört? Ich bin Seyfrid von Viskenich! Die Anschuldigungen sind wahr, ich habe mich als jemand anders ausgegeben und die Leute getäuscht.«

»Das kann aber niemand beweisen. Nur ein angeblicher Händler aus dem Süden, der schon längst wieder aus Köln abgereist ist. So steht also das Wort von Jacob Hoengen gegen deines. Wenn sich dann noch jemand vor Gericht für dich einsetzt, muss der Richter dich freisprechen.«

»Wer sollte das sein? Du etwa?«

»Nein, aber ich kenne jemand, dessen Wort vor Gericht großes Gewicht hat.«

»Wer?«

»Das wage ich dir jetzt noch nicht zu sagen. Erst muss ich mit dieser Person reden.«

Kathryn wandte sich zur Tür. Sie wollte schon klopfen, als sie noch einmal über ihre Schulter blickte. »Verliere nicht den Mut, Seyfrid. Es gibt Menschen, die dir helfen wollen.«

Dann rief sie nach Joseph, und der Wärter öffnete nur Augenblicke später die schwere Holztür. »Ich hoffe, der Kerl weiß, was für eine feine Dame ihn beehrt hat.«

»Schon gut, Joseph«, sagte sie und legte ihre schmale Hand auf seinen dicken Unterarm. »Behandle ihn bitte gut!«

Der gewichtige Wärter brummte eine Zustimmung, dann fiel die Tür krachend ins Schloss. Seyfrid war wieder allein und verwirrter als zuvor. Bestand doch noch Hoffnung?

***

Der lange Weg von der Rheinmündung bis nach Köln war beschwerlich gewesen, immer wieder hatten sich die Karren im Schlamm festgefahren und mussten mühsam wieder rausgezogen werden. Das Gewicht des Lösegelds war so hoch, dass die Pferde selbst auf befestigten Wegen nur langsam vorankamen. Eleonore war sehr erleichtert, als ihr Tross endlich am Nachmittag den vom Erzbischof angebotenen Lagerplatz auf dem Hürther Feld erreicht hatte. Er lag an einem Bach, der sich wohl bis nach Köln schlängelte, wie man ihr gesagt hatte. Im Sommer wurde das Feld für Getreide bestellt, doch nun lag es brach und bot genügend Platz für ihre zweihundert Ritter samt Fußvolk, Dienern, Mägden, Köchen und den elf Karren mit dem Lösegeld. Nur ein Wald trennte den Lagerplatz von der Straße, die von Südwesten nach Köln führte.

Eleonore sehnte sich nach einem weichen Bett in einem warmen Haus, aber es war zu spät, um jetzt noch bis Köln weiterzureiten. Sie war müde, und ihr taten alle Glieder weh. Das Alter machte ihr mehr zu schaffen, als sie zugeben wollte. Die Knappen und Soldaten bemühten sich, das Lager vor Einbruch der Dunkelheit zu errichten, und begannen mit dem großen Zelt für die Königsmutter.

Eleonore hörte, wie Sir Hubert gewohnt ruhig seine Befehle erteilte, und streckte sich auf ihrem Bett aus Holzbalken und Stroh aus, das ihre Diener in Windeseile aufgebaut hatten. Auch wenn sie das Lösegeld gut bewacht wusste, machte sie sich ständig Sorgen, dass irgendetwas Unvorhergesehenes passieren könne. Zum Beispiel, dass Kaiser Heinrich es sich wieder anders überlegen und noch mehr Bedingungen stellen würde.

Eleonore war froh, Köln erreicht zu haben. Nicht nur, dass damit ungefähr die Hälfte des Wegs nach Speyer geschafft war, sie konnte sich endlich auch persönlich beim Erzbischof Adolf von Altena für seine Unterstützung bedanken und die neuesten Nachrichten vom Kaiserhof vernehmen. Sir Hubert hatte ihr berichtet, dass der Kölner Erzbischof sich sehr für Richards Freilassung eingesetzt hatte. Von Altena verfolgte zwar sicher auch seine eigenen Interessen, aber in diesem Fall stimmten sie mit den englischen überein. Er hatte wohl einigen Beratern des Kaisers Geld zukommen lassen, damit sie auf Heinrich einwirkten.

Das Knistern und die wohlige Wärme der Flammen in dem eisernen Korb neben ihrem Bett machten Eleonore schläfrig. Morgen würde sie nach Köln reiten, um dem Erzbischof ihre Aufwartung zu machen. Außerdem war sie sehr gespannt auf den prächtigen Dom, von dem sie schon so viel gehört hatte, und konnte es kaum abwarten, dort die heilige Messe zu besuchen.

»Wir sind hier bei Freunden«, hatte Sir Hubert ihr versichert. Deshalb hatte Eleonore auch keine Bedenken, die Hälfte ihrer Ritter mit nach Köln zu nehmen. Die hundert hier verbleibenden Ritter samt deren Knappen, die Fußsoldaten und Bogenschützen würden als Schutz für das Lösegeld ausreichen. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.

***

Mitten in der Nacht knirschte erneut der Riegel an der Zellentür. Seyfrid dachte im ersten Moment, er würde sich das Geräusch im Traum einbilden. Doch nein, er war wach. Eine riesige Gestalt schob sich in die Zelle. Seyfrid war für einen Augenblick vom Schein einer Fackel geblendet.

»Deine letzte Behausung erschien mir weitaus angenehmer.«

»Bruder Maternus«, stellte Seyfrid erstaunt fest.

Der Mönch trat auf ihn zu. »Streck deine Hände aus!«

Seyfrid tat, wie ihm geheißen, und Maternus band ihm die Handgelenke geschickt mit einem Seil zusammen. Der Mönch nahm das lose Ende in seine große Faust und ging zur Tür. »Folge mir! Du wirst erwartet.«

Seyfrid war gespannt, warum er den Turm verlassen durfte, doch er sagte nichts. Der Grund war egal, nur raus hier! Er trottete hinter der massigen Gestalt her und fürchtete, dass sich einer der Wärter ihnen in den Weg stellen würde. Doch niemand war zu sehen. Erst am offenen Tor stand der müde wirkende Joseph, der demonstrativ wegsah, als sie ihn passierten.

Der mächtige Arm des Erzbischofs reicht weit, kam es Seyfrid in den Sinn. Er sog gierig die eisige Nachtluft ein, bis sie in seiner Lunge brannte. Freiheit. Zumindest fast. »Wo bringst du mich hin?«

Maternus sah ihn nicht einmal an, sondern schritt weiter kräftig aus. Erst nach einer Weile brummte er: »Das wirst du gleich sehen.«

Seyfrid hatte keine Ahnung, wie spät es war, doch es musste mitten in der Nacht sein, denn keine Menschenseele begegnete ihnen in den dunklen Gassen. Schließlich tauchte vor ihnen der wohlbekannte Umriss des Doms auf. Maternus steuerte auf die Drachenpforte zu. Die beiden Wachen öffneten dem Mönch diensteifrig das Tor zum Domhof, auch der Eingang zum Palast wurde ihnen ohne jede Frage geöffnet. Wie schon vor einigen Tagen klopfte Maternus an die reich verzierte Tür zur Wohnung des Erzbischofs. Die Aufforderung einzutreten kam diesmal umgehend.

Adolf von Altena saß auf einem mit purpurner Seide bezogenen Stuhl, dessen hohe Lehne ihn weit überragte, damit man das eingravierte Wappen des Erzbischofs sehen konnte. »Du hast dir reichlich Zeit gelassen!«, raunzte er Maternus ungeduldig an.

»Verzeiht, Exzellenz, aber ich musste erst mit gewissen Leuten reden und ein wenig Geld fließen lassen. Das hat leider seine Zeit gebraucht.«

Von Altena gab ein unwilliges Schnaufen von sich, dann wandte er sich Seyfrid zu. »So, mein junger Medicus, mir kamen seltsame Gerüchte zu Ohren. Man wirft dir vor, gar nicht der Medicus Ulrich von Schwarzenberg zu sein. Trifft diese Anschuldigung zu?«

Der Erzbischof ersparte sich gegenüber dem Gefangenen nun das höfliche »Euch«.

»Ich bin ein Medicus und habe an der Scola Medica Salernitana studiert.«

Adolf von Altena beugte sich vor. Sein Gesicht mit der langen, gebogenen Nase erschien im flackernden Licht der Öllampe wie das eines Raubvogels. »Du hast meine Frage nicht beantwortet: Bist du Ulrich von Schwarzenberg, oder bist du Seyfrid von Viskenich?«

Seyfrid hielt dem Blick des Erzbischofs wortlos stand.

»Ich habe nicht die ganze Nacht Zeit! Ich könnte dir von Maternus die Arme brechen lassen, aber ich hoffe nicht, dass das nötig sein wird, da wir doch bislang ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander hatten.«

Ohne sich umzusehen, spürte Seyfrid die Präsenz des riesigen Mönches in seinem Rücken. Er zweifelte nicht daran, dass Maternus dazu in der Lage war, und doch schwieg er weiterhin.

»Hör zu!«, begann der Erzbischof erneut. »Es ist mir gleich, wenn du die Richerzeche reingelegt und ihnen Geld aus der Tasche gezogen hast. Es ist mir sogar egal, wenn du mir einen falschen Namen genannt hast. Aber hier geht es um viel größere Dinge, deshalb muss ich wissen, ob du Seyfrid von Viskenich bist. Denn dann bist du nach Köln gekommen, um deinen Vater zu rächen, der wegen Mordes an Gottfried Hackenbroich hingerichtet wurde. Das Gerichtsverfahren haben hinterhältige Männer eingefädelt, und ich muss wissen, was du herausgefunden hast.«

Seyfrid war völlig verblüfft. Der Erzbischof wusste viel mehr als vermutet. Einige Sekunden rang er mit sich, dann fasste er einen Entschluss und richtete sich kerzengerade auf. Die Zeit des Leugnens war vorbei.

»Ich bin Ritter Seyfrid von Viskenich. Ich bin mit Kaiser Friedrich Barbarossa ins Heilige Land gezogen. Nach seinem Tod habe ich unter König Richard Löwenherz gedient, der mich zum Ritter schlug. Ulrich von Schwarzenberg war mein Freund und Waffengefährte. Er fiel in der Schlacht von Arsuf. Danach habe ich an der Scola Medica Salernitana als Schüler von Roger Frugardi studiert.«

Für einen winzigen Moment sah Seyfrid Erstaunen in den Augen seines Gegenübers. »Seyfrid von Viskenich! Du bist es also doch!«, rief der Erzbischof aus und schlug mit der Faust auf die Armlehne. »König Richard höchstselbst hat dich zum Ritter geschlagen?«

»Ja, Gott ist mein Zeuge.«

Adolf von Altena ließ sich gegen die Lehne sinken und legte die Stirn in Falten. Seyfrid wusste, dass sich sein Schicksal jetzt entscheiden würde. Tod oder Leben. Allein der Erzbischof hielt es in Händen. Lange fiel kein Wort. Die Zeit schien sich für Seyfrid zur Ewigkeit zu dehnen.

Dann brach der Erzbischof plötzlich in ein heiseres Lachen aus. »Ritter und Medicus! Wann hat man so etwas je gehört? Und du gibst dich auch noch als jemand anders aus. Fürwahr, du hast den Mut deines Vaters.«

Von Altena erhob sich schwungvoll von seinem Stuhl und machte zwei Schritte auf Seyfrid zu. »Aber vor allem bist du sehr gerissen. Das schätze ich an einem Mann. Was nützt ihm Stärke, wenn er nicht weiß, wie er sie einsetzen soll?«

Seyfrid wusste nicht, was er von der Äußerung halten sollte. »Meinem Vater war seine Ehre das höchste Gut, er hätte niemals einen heimtückischen Mord begangen. Wenn er einen Händel mit Hackenbroich gehabt hätte, hätte er ihn zum ehrlichen Zweikampf herausgefordert. Ich will die wahren Mörder finden und bestrafen.«

»Mein lieber junger Freund, glaubst du, dass du der Einzige bist, der seinen Verstand benutzen kann? Wenn dein Vater Hackenbroich wirklich in dessen Haus getötet hätte, wäre er kaum so töricht gewesen und hätte sein Schwert zurückgelassen. Für mich war es daher ganz offensichtlich, dass jemand Hackenbroich beseitigen und deinen Vater zum Sündenbock machen wollte. Um die Sache abzusichern, tauchte dann plötzlich ein angeblicher Zeuge auf, der den Mord gesehen haben wollte. Irgend so ein Tunichtgut, der am Hafen arbeitete. Dass die Schöffen auf so eine fingierte Geschichte reinfallen würden …«

Der Erzbischof schüttelte mit einem verächtlichen Schnaufen den Kopf. »Die Herren von der Richerzeche mögen reich sein, aber die meisten von ihnen haben nur Stroh im Kopf.«

Seyfrid wagte einen Schritt vorzutreten, was unmittelbar eine Bewegung von Maternus auslöste, daher hielt er sofort wieder inne. »Wisst Ihr, wer Hackenbroich getötet hat?«

»Erzähle mir, was du rausgefunden hast!«, befahl der Erzbischof streng.

»Mein Vater ist an jenem Abend auf seinem Heimweg im Wald überfallen und gefesselt worden. Jemand hat sein Schwert gestohlen, um damit Gottfried Hackenbroich zu töten. Heribert Grimmel hat vor Gericht einen Meineid geleistet und ist nun von einem französischen Kreuzritter getötet worden, damit er nichts mehr ausplaudern kann. Es handelt sich um Graf Louis de Beauvard.«

Adolf von Altena zog die Augenbrauen hoch. »Sieh an!«

»De Beauvard war es auch, der mit zwei seiner Männer als Mönch verkleidet in Euren Palast eingedrungen ist. Der Grund dafür entzieht sich mir jedoch.«

Eigentlich hatte Seyfrid gehofft, dass der Erzbischof ihn über ebendiesen Grund aufklären könnte, doch der zeigte nur mit einer ungeduldigen Geste an, dass Seyfrid weitersprechen solle.

»Gottfried Hackenbroich hatte einen Tag vor seinem Tod Arsenik gekauft. Damit ist nun Monate später Matthias Quentenberg vergiftet worden, der nur knapp überlebt hat. Jetzt ist die Witwe Hackenbroich mit Arsenik getötet worden. Ich suche denjenigen, der das Arsenik besitzt, denn er ist auch der Mörder von Hackenbroich.«

Der Erzbischof betrachtete ihn wortlos mit unbewegter Miene.

»Bitte Exzellenz, wenn Ihr wisst, wer der Mörder ist, dann sagt es mir!«

Von Altena trat auf ihn zu. Eine Armeslänge entfernt, musterte er ihn eingehend. »Es ist gar nicht wichtig, wer die Klinge geführt hat, sondern wer den perfiden Plan ausgeheckt hat. Verstehst du nicht? Dahinter stecken mächtige Interessen.«

»Wer?«

Wieder betrachtete der Erzbischof den jungen Medicus eine Weile schweigend. »Du bist ein kluger Kopf. Du solltest in der Lage sein, selber darauf zu kommen.«

»Dann lasst mich gehen! Ich muss herausfinden, wer meinen Vater auf dem Gewissen hat, und verhindern, dass noch mehr Unheil geschieht.«

»Du alleine?«, lachte der Erzbischof auf. »Das wird dir nicht gelingen. Du hast aber immer noch die Möglichkeit, vor dem Hohen Gericht Gnade zu finden, wenn du es von deiner Unschuld überzeugst. So lange wirst du dich noch im Frankenturm gedulden müssen.«

»Ich kann Euch doch von viel größerem Nutzen sein, wenn ich Graf de Beauvard finde.«

»Was glaubst du wohl, was passiert, wenn die Wärter deine Zelle im Frankenturm morgen leer vorfinden? Ich kann es mir nicht erlauben, meinen Gegnern in die Hände zu spielen. Ach, und noch etwas: Du wirst niemanden erzählen, dass du hier warst! Falls doch, werde ich dich wegen Ausübung schwarzer Zauberei anklagen und zum Tode verurteilen. Noch vor dem Hohen Gericht.«

Der Erzbischof gab dem Mönch einen Wink. »Maternus, bring ihn zurück!«

Auf der Straße zog Maternus seinen an den Händen gefesselten Gefangenen gnadenlos am Seil hinter sich her. Auch wenn Seyfrid nicht der Schwächlichste war, konnte er gegen die gewaltige Kraft des Mönchs nichts ausrichten. Maternus lief zwei Schritte vor ihm und hielt den Strick immer auf Spannung, damit sein Gefangener ihn nicht von hinten überrumpeln konnte. Sobald das Seil auch nur ein wenig durchhing, schaute sich der Mönch wachsam um.

Der Frankenturm war nicht mehr weit, und Seyfrid konnte ihn trotz der Dunkelheit schemenhaft erahnen. »Maternus, lass mich frei!«, bat er ihn inständig. »Es sind böse Mächte hier am Werk, und ich muss mich ihnen entgegenstellen.«

»Sei froh, dass Seine Exzellenz dich nicht in die Hacht gesperrt hat. Dort würden sie dich schnell dazu bringen, alle deine Sünden zu gestehen«, knurrte Maternus, ohne seine Schritte zu verlangsamen.

Die Hacht befand sich innerhalb des Dombezirks und oblag damit der Hoheit des Erzbischofs. Hier wurden nur Schwerverbrecher eingekerkert: Mörder, Verräter und Ketzer. Wer in der Hacht landete, wurde am Hals oder an den Händen angekettet und wartete auf seinen Tod.

Ein Schauder durchlief Seyfrid, als er an sein mögliches Todesurteil dachte. Aber selbst wenn er mit einem Freispruch davonkäme, würde der Verdacht, Seyfrid von Viskenich zu sein, an ihm kleben bleiben, und er hätte keine Möglichkeit mehr herauszufinden, wer für den Tod seines Vaters verantwortlich war. Er musste alles auf eine Karte setzen.

»Du warst bei den Katharern!«

Wie vom Donner gerührt, blieb Maternus stehen und starrte Seyfrid mit einer Mischung aus Furcht und Wut an.

»Dein Schweigen ist mir Antwort genug«, sagte Seyfrid, erfreut, dass er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte. »Aber nicht nur das, vorher warst du Söldner. In welcher Armee warst du? Vermutlich bei den Brabantern! Die nehmen jeden auf, einen starken Kerl wie dich erst recht.«

Maternus packte seinen Gefangenen am Hemd und knurrte: »Woher weißt du das?«

»Du verhältst dich wie ein Soldat. Du spähst stetig umher, du beobachtest deine Umgebung, ob sich heimlich der Feind anpirscht. Wenn dir jemand gegenübertritt, musterst du ihn nach verräterischen Ausbeulungen in der Kleidung, wo er eine Waffe versteckt haben könnte. Außerdem hältst du dich immer sehr gerade, wie ein Soldat, während Mönche dazu neigen, sich in Demut leicht vornüberzubeugen.«

Verblüfft zog Maternus die Stirn kraus. Seyfrid ließ sich in seinem Redefluss nicht aufhalten.

»Doch irgendwann ist dir das Morden und Brandschatzen zu viel geworden, und du hast den Weg zu Gott gesucht, aber Klöster nehmen nur sehr ungern Soldaten auf – die machen zu oft Ärger. Die Katharer hingegen freuten sich über jeden, der sich ihnen anschloss, sie fragten nicht, was du vorher gemacht hast, solange du ihren Regeln folgtest. Aber als Papst Alexander III. euch als Ketzer exkommuniziert hat, wurde es gefährlich, und als später Papst Lucius III. sogar von den Erzbischöfen verlangt hat, alle Katharer festnehmen zu lassen, warst auch du dabei.«

»Es war nicht falsch, was wir gemacht haben«, brauste Maternus auf. »Wir waren gute Christen und haben versucht, ein gottgefälliges Leben zu führen.«

Seyfrid jubelte innerlich, als Maternus wütend gestand. Er hatte den Mönch da, wo er ihn haben wollte, und spekulierte weiter.

»Adolf von Altena war damals noch Domprobst, als er auf dich aufmerksam wurde, na ja, du bist ja kaum zu übersehen. Auch er hat gemerkt, dass du früher Soldat warst. Also hat er für deine Unschuld gebürgt und dich so vor dem Scheiterhaufen bewahrt. Er hat dich in der Hand, ein Wort von ihm, und die Hinrichtung als Ketzer ist dir gewiss. Seitdem gibt er dich als Benediktinermönch und seinen Beichtvater aus, ein Vorwand, damit du ständig in seiner Nähe sein kannst. Doch der wahre Grund ist, dass du seine geheimen Befehle ausführst. Die schmutzigen Aufträge, die er seinen Soldaten nicht offiziell erteilen kann.«

Maternus’ Kiefermuskeln mahlten sichtbar. »Du bist klug, das muss man dir lassen, Seyfrid. Aber es nützt dir alles nichts, du wirst dein Wissen mit ins Grab nehmen.« Der riesige Mönch hob eine Faust.

»Was willst du jetzt tun? Mich töten? Dann würde meine Zelle morgen leer vorgefunden, und der Erzbischof käme in ernsthafte Verlegenheit. Wie willst du ihm erklären, dass du seinen Befehl, mich wieder in den Frankenturm zu bringen, missachtet hast?«

Die Sekunden verstrichen, während Maternus weiter angriffsbereit dastand, aber offenbar fieberhaft nachdachte. Dann sank seine Hand langsam wieder und mit ihr der Strick. »Selbst wenn du es erzählst, niemand wird einem Betrüger glauben.«

Maternus wandte sich um und wollte weitergehen. Das war der Augenblick der Unaufmerksamkeit, auf den Seyfrid gewartet hatte. Der Strick war noch nicht gespannt, und er schlang ihn Maternus blitzschnell von hinten um den Hals. Der Mönch stieß ein Röcheln aus und versuchte, seine Finger zwischen Seil und Hals zu bekommen, doch Seyfrid zog mit aller Kraft. Maternus rang verzweifelt nach Luft, taumelte schließlich rückwärts und fiel zu Boden. Seyfrid drückte so lange zu, bis sein Gegner sich nicht mehr wehrte, dann lief er los.

Er war noch kein zehn Schritte weit gekommen, als hinter ihm Maternus heftig zu husten anfing. Beim Blick über die Schulter sah er, wie sich die riesige Gestalt wieder bewegte.

»Bleib stehen!«, röchelte Maternus und musste erneut husten. Dann rappelte er sich hoch und setzte sich in Bewegung. Seyfrid rannte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her.

Maternus begann ebenfalls zu laufen, doch das war in seinem Habit nicht so einfach. Außerdem musste er feststellen, dass Seyfrid auch mit gefesselten Handgelenken ein schneller Läufer war. Der Mond versteckte sich hinter einer Wolkendecke, und die Nacht war stockfinster. Für einen Moment verlor Maternus den Fliehenden aus den Augen, dann brach der Mond wieder kurz durch eine Wolkenlücke, und er erkannte schemenhaft eine Gestalt, die den Hof vor dem Dom passierte, der im Hintergrund wie eine schwarze Felswand aufragte. Maternus stieß einen lästerlichen Fluch aus, wütend über sich selbst, wie leicht er sich hatte übertölpeln lassen.

Als er am Ende des Hofs angelangt war, vermeinte er, Seyfrid linker Hand wahrzunehmen. Doch schon bei der nächsten Kreuzung war niemand mehr zu sehen. Maternus verharrte und blickte sich hektisch um, dann entschied er sich für die Straßen rechts von ihm. Er lief sie hinunter, wohl wissend, dass es hier etliche kleine Gänge gab, die zwischen den Häusern hindurchführten und in die Seyfrid geschlüpft sein konnte.

Maternus lief weiter, bis ihm die Lunge brannte. Schließlich blieb er erschöpft stehen. Er hatte Seyfrid verloren.

Seyfrid rannte, bis er nicht mehr konnte, und hielt dann keuchend inne. Er drückte sich in eine dunkle Nische der Kirche Sankt Georg und horchte angestrengt in die Nacht. Doch außer dem Pochen seines Herzens vernahm er keinen Laut. Um diese mitternächtliche Stunde schliefen die rechtschaffenen Bürger Kölns tief und fest.

Er hatte Maternus abgehängt. Doch was nun? In seinem Haus in der Severinstraße würde der ihn als Erstes suchen. Wo konnte er einen sicheren Unterschlupf finden? Spätestens bei Sonnenaufgang würde nicht nur Maternus, sondern die gesamte Stadtwache nach dem entflohenen Gefangenen suchen. Die Stadttore waren nachts geschlossen, er konnte Köln nicht verlassen.

Wem konnte er vertrauen? Ihm fiel nur ein Mensch ein. Doch er zögerte und grübelte lange nach. Schließlich gab er sich einen Ruck und machte sich auf den Weg.

Die Lintgasse lag still in der Dunkelheit. Seyfrid schlich, so leise er konnte, die Häuserwände entlang. Er war sich nicht sicher, ob sein Vorhaben klug war, aber es war seine letzte Hoffnung. Als er vor dem großen Haus der Familie Quentenberg angekommen war, verharrte er einen Moment und lauschte angespannt. Kein Geräusch war zu vernehmen.

Seyfrid griff seitlich am Ziegenfell, das vor eines der Fenster gespannt war, vorbei und löste es von dem Haken, was mit gefesselten Händen gar nicht so einfach war. Dann drückte er das Stroh, das die Kälte fernhalten sollte, zur Seite, quetschte sich durch die Lücke und rückte anschließend wieder alles an seinen Platz, damit niemand sein Einsteigen bemerkte.

Er kannte sich mittlerweile gut genug im Haus aus, um auch im Dunkeln seinen Weg zu finden. Er durchquerte auf Zehenspitzen den Raum. Das Feuer in dem offenen Kamin glomm noch vor sich hin und spendete etwas Licht. In der Küche fand Seyfrid ein Messer, doch seine eigenen Handfesseln damit durchzuschneiden, war kein leichtes Unterfangen. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, bis der Strick endlich durchtrennt war und er seine Hände wieder frei bewegen konnte.

Die Treppe knarrte unter seinen Schritten, doch er musste das Risiko eingehen. Je höher er stieg, desto vernehmlicher wurde ein Schnarchen. Der Hausherr Matthias Quentenberg schlief tief und fest. Am Ende des Ganges war die Kammer von Rebecca. Die Tür war nicht verschlossen, und einen Atemzug später war Seyfrid hineingehuscht.

Eine kleine Öllampe verbreitete einen diffusen Schimmer. Rebecca lag auf der Seite im Bett, die Beine in eine Decke verknotet, und zum ersten Mal sah Seyfrid sie mit offenen Haaren. Er konnte nicht anders, als die wunderschöne junge Frau tief bewegt anzustarren.

Dann gab er sich einen Ruck. »Rebecca!«, flüsterte er.

Sie fuhr sofort aus dem Schlaf hoch. Mit der heftigen Reaktion hatte er nicht gerechnet und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Pssst!«

Sie brauchte einen Augenblick, um die Situation zu erfassen. »Ulrich!«, sagte sie freudig, aber im nächsten Moment verflog der glückliche Gesichtsausdruck. »Ich habe vernommen, dass man dir vorwirft, nicht Ulrich von Schwarzenberg zu sein. Ist das wahr? Bist du jemand anders?«

Er senkte den Blick. Scham überfiel ihn, aber er wollte Rebecca nicht weiter anlügen. »Ja, es ist wahr. Ich bin Seyfrid von Viskenich, Sohn des Ritters Johann von Viskenich. Ich habe den Namen meines verstorbenen Freundes Ulrich von Schwarzenberg angenommen, um die Wahrheit herauszufinden. Verschwörer haben meinem Vater einen Mord angehängt, den er nicht begangen hat, um ihm dem Henker ausliefern zu können.«

Rebecca sprang aus dem Bett und schlug ihm mit beiden Fäusten auf die Brust. »Warum hast du mich getäuscht? Vertraust du mir nicht?«

»Ich konnte es dir nicht sagen«, sagte er leise und hielt ihre Hände fest, ehe sie erneut zuschlagen konnte.

»Du hast mich ausgehorcht, weil du verhindern willst, dass mein Vater deine Burg kauft!«

»Nein, das ist nicht wahr! Als ich zu deinem kranken Vater gerufen worden bin, hatte ich doch keine Ahnung, dass er Interesse an der Burg hat.«

»Aber es kam dir gelegen, dass es so war. Deshalb hast du so viele Fragen gestellt und so getan, als wolltest du mir helfen, den Giftmischer zu finden.«

Er schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich habe nach der Wahrheit gesucht, aber ich wollte euch nichts Böses.«

»Die Wahrheit? Du hast mich belogen, wie kann ich dir da noch vertrauen?«

»Bitte, du musst mir glauben!«

»Wie konnte ich nur so dumm sein? Du hast mir die ganze Zeit etwas vorgespielt! Und ich dachte, du würdest mich … du würdest …«

»Rebecca, ich –«

»Ich hasse dich! Ich will dich nie wiedersehen!«

In dem Moment klopfte es vernehmlich unten an der Haustür. Es klang wie Hammerschläge in der Stille der Nacht. »Aufmachen! Im Namen des Erzbischofs!«, ertönte die unverkennbare Stimme von Maternus.

Seyfrid stand da, wie vom Donner gerührt. Auch Rebecca war augenblicklich erstarrt. Maternus war kein Dummkopf, er wusste, dass es nur wenige Orte gab, wo Seyfrid Unterschlupf finden konnte. »Sie wollen mich töten«, flüsterte er.

Noch bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, nahm ihn Rebecca bei der Hand, ergriff die kleine Öllampe und zog ihn hektisch aus dem Zimmer. »Kein Wort!«, zischte sie ihm zu.

Sie hasteten die Treppe hinab, während Maternus weiter die Haustür mit der Faust bearbeitete. Im oberen Stockwerk hörte Seyfrid, wie Matthias Quentenberg schlaftrunken fragte: »Was soll der Lärm?«

Sie hatten die Stube erreicht. Seyfrid schlug das Herz bis zum Hals. Innerhalb weniger Augenblicke würden alle Bewohner des Hauses auf den Beinen sein und ihn finden. Nur die verriegelte Haustür trennte ihn noch von seinen Häschern.

Doch zu seiner Überraschung zog Rebecca ihn nicht zur Haustür, sondern durch die Küche und von dort die Kellertreppe hinab in die Vorratskammer. Es standen dort Kisten und Tontöpfe herum sowie einige Fässer. Von der Decke baumelten Würste und getrocknete Pflanzenbündel. Hinter einem großen Weinfass stand in der Ecke eine alte Truhe. Rebecca packte einen der beiden eisernen Griffe und zog sie zur Seite. Statt Steinen, die den übrigen Kellerboden bildeten, lagen unter der Truhe drei breite Holzbretter. Rebecca hob sie rasch hoch, darunter kam ein finsteres Loch zum Vorschein. Seyfrid blickte ungläubig hinein. Modergeruch schlug ihm entgegen.

»Es gibt eine Möglichkeit, nicht nur unbemerkt aus unserem Haus, sondern auch aus Köln herauszukommen«, erklärte Rebecca und leuchtete mit der Öllampe in die Öffnung, doch Seyfrid konnte nur ein paar steinerne Stufen erkennen, die sich in der Dunkelheit verloren. »Hast du den Mut, die Teufelskall zu betreten?«, fragte sie.

Seyfrid klappte der Unterkiefer herunter. Er hatte als Kind von den unheimlichen Gängen unter der Stadt gehört. Dort sollte der Teufel persönlich sein Unwesen treiben. »Die Teufelskall ist unter eurem Haus?«

»Als mein Urgroßvater vor vielen Jahren den Keller für unser Haus aushob, entdeckte er die Treppe. Er mauerte sie jedoch nicht wieder zu, für den Fall, dass wir uns irgendwann einmal in Sicherheit bringen müssen.«

»Ihr wäret zum Teufel hinabgestiegen?«, fragte Seyfrid entsetzt.

Rebecca schüttelte ungeduldig den Kopf. »Meine Tante Anna war davon überzeugt, dass es sich bei der Teufelskall um einen alten Kanal handelt, den die Römer vor tausend Jahren in Köln angelegt haben. Sie sagte, in Rom gäbe es solche Gänge überall unter der Stadt.«

Seyfrid hörte, wie Matthias Quentenberg die Treppe vom ersten Stock herunterkam. Er hatte keine Zeit mehr und nahm die Öllampe, die Rebecca ihm hinhielt. »Wo führt der Gang hin?«, flüsterte er.

»Wende dich nach rechts, so führt dich der Gang zum Rhein! Doch die letzten Schritte musst du tauchen, denn der Ausgang liegt unter Wasser.«

Seyfrid hörte, wie über ihm die Haustür geöffnet wurde.

»Bruder Maternus, was willst du mit den Soldaten des Erzbischofs zu dieser unchristlichen Stunde von mir?«, polterte Quentenberg.

»Gewährst du dem entflohenen Häftling Ulrich von Schwarzenberg Unterschlupf?«

»Bist du von Sinnen? Natürlich nicht!«

»Dann hast du gewiss nichts dagegen, wenn ich dein Haus nach ihm durchsuche?«

»Du hast kein Recht …«

Den Einwand schob der hünenhafte Mönch offenbar ebenso beiseite wie den Hausherrn. Seyfrid vernahm das Knarren der Holzbohlen über ihm, als der schwere Körper darüber hinwegschritt.

»Warum hilfst du mir, obwohl ich es nicht verdient habe?«, fragte er Rebecca.

»Ich hasse dich, aber ich will nicht, dass du stirbst«, sagte sie leise. Dann nahm sie sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. »Geh jetzt!«, ermahnte sie ihn.

Seyfrid stieg die ersten schmalen Stufen hinunter, doch dann blickte er noch einmal zu Rebecca hoch und sagte: »Wir werden uns wiedersehen. Ich verspreche es dir!«

Im nächsten Augenblick hatte Rebecca die Bretter über das Loch geschoben.

Dunkelheit umfing Seyfrid. Der schummrige Schein der Öllampe reichte kaum zwei Schritte weit. Eine Welle der Angst überrollte ihn. Fast war er versucht, wieder hinaufzugehen und die Bretter zur Seite zu schieben, doch da vernahm er das Schaben der Truhe auf dem Boden. Rebecca hatte sie wieder auf die Bretter geschoben.

Mit pochendem Herzen blickte Seyfrid sich um. Die Wände bestanden aus behauenen Steinen, wie sie auch in der alten römischen Stadtmauer zu finden waren. Vielleicht hatte Rebeccas Tante recht und es war wirklich ein uralter Kanal. Aber wer sagte, dass der Teufel nicht auch in so einem Tunnel sein Unwesen treiben konnte?

Vorsichtig ging Seyfrid die letzten Stufen hinab. Als er den Boden des Gangs betrat, fühlte er glitschige Steine unter den Füßen. Schritt für Schritt tastete er sich vor. Er schalt sich selbst, dass er nicht geistesgegenwärtig genug gewesen war, das Messer aus der Küche mitzunehmen. Er hatte als Kind Geschichten gehört, dass der Leibhaftige nachts durch die Teufelskall streifte, um sich wehrlose Opfer in Köln zu suchen. Er hatte Angst.

Er lauschte in die Dunkelheit, doch es war nichts zu vernehmen außer seinen eigenen Schritten. Seyfrid versuchte sich auf seine Instinkte zu konzentrieren, wie früher, als er sich in Palästina durch Feindesland bewegt hatte. Manchmal hatte er gespürt, wenn ihm jemand auflauerte. Behutsam arbeitete er sich weiter voran.

Die Zeit kam ihm unendlich lang vor, doch schließlich sah er im Schein der Lampe, dass der leicht abfallende Boden mit Wasser bedeckt war. Der Rhein drang bis hierhin vor. Je weiter Seyfrid hineinwatete, desto tiefer wurde das Wasser, bis es ihm bis zum Hals stand. Es war kalt, sehr kalt. Die kleine Öllampe hielt er hoch über seinem Kopf und stieß damit an die Decke. Er zögerte. Wenn er jetzt tauchte, würde die Lampe erlöschen. Aber würde der Gang ihn wirklich in die Freiheit bringen? Oder direkt in die Hölle führen?

Panik drohte ihn zu überwältigen. »Es gibt kein Zurück!«, sagte er laut zu sich selbst. »Gott befohlen!«

Seyfrid holte tief Luft und ließ sich unter Wasser gleiten. Die Lampe erlosch, und schlagartig wurde es finster. Er war schon als Knappe ein guter Schwimmer gewesen und stieß sich nun mit kräftigen Arm- und Beinschlägen vorwärts. In der Dunkelheit war eine Orientierung unmöglich, seine Hände und Füße schlugen immer wieder schmerzhaft gegen die Mauer. Wie weit musste er tauchen? Langsam fühlte er eine peinigende Atemnot. Doch der Gedanke an Rebecca verlieh ihm Kraft. Ihr zuliebe musste er durchhalten.

Mit heftigen Bewegungen trieb er sich weiter voran. Seine Lunge schien zu platzen. Ein blasses Flimmern tauchte vor seinen Augen auf. Als er schon dachte, jetzt wäre sein Ende gekommen, riss ihn im nächsten Augenblick eine Strömung zur Seite. Das Schimmern war das Mondlicht. Mit allerletzter Kraft durchstieß er die Wasseroberfläche des Rheins und sog gierig die herrliche Nachtluft ein.

Er hatte es geschafft! Doch jetzt zeigte sich Gefahr durch die eisige Kälte des Flusses. Er musste so schnell wie möglich raus. Schon merkte er, wie seine Muskeln langsam erstarrten. Verzweifelt schwamm er in Richtung des Ufers. Seine Bewegungen wurden immer langsamer, er konnte kaum noch seine Arme und Beine bewegen. Endlich spürte er Steine unter seinen Füßen. Mit allerletzter Kraft schleppte sich Seyfrid auf allen vieren aus dem Wasser.

Er ließ sich auf den Boden fallen und pumpte hektisch nach Luft. Sein Körper begann heftig zu zittern. Er durfte nicht liegen bleiben. Als Medicus wusste er, wie schnell Menschen erfrieren konnten, wenn sie sich in der Kälte nicht bewegten. Er biss die Zähne zusammen und rappelte sich hoch. In Bewegung bleiben, ermahnte er sich, tu es für Rebecca!

Die Stadtmauer ragte düster und bedrohlich empor. Seyfrid hastete so schnell wie möglich an ihr entlang und hoffte, dass die Wachen in den Wehrtürmen nicht auf ihn aufmerksam wurden, so laut klapperten ihm die Zähne. Er musste sich an einem Feuer aufwärmen und seine Kleider trocknen, sonst war ihm der eisige Tod sicher. Doch wohin?

Er lief weiter, bis er das Südende der Stadtmauer erreicht hatte und sich in einem scharfen Knick vom Rheinufer abwandte. Nicht stehen bleiben, befahl er sich, nur durch die Bewegung würde er am Leben bleiben. In dem Moment kam ihm ein rettender Gedanke. Er wählte einen schmalen Pfad, der von der Stadt wegführte.

Wenig später lag die kleine Hütte still vor ihm. Seyfrid zitterte heftig am ganzen Körper und bemühte sich dennoch, leise an die Tür zu klopfen, um die Nachbarn nicht aufmerksam zu machen. Es dauerte eine Weile, bis jemand fragte: »Wer ist da?«

»Der Medicus«, hauchte Seyfrid. Ihm versagte fast die Stimme.

Die Tür wurde ein Spalt aufgezogen, und Karl lugte misstrauisch nach draußen. Als er Seyfrid erkannte, riss er sofort die Tür auf und fasste den Wankenden am Arm, um ihn zu stützen. Karl führte ihn zur Feuerstelle in der Hütte, wo noch ein paar Holzreste glühten. »Hedwig, hol Holz! Fach das Feuer an!«

Die Cousine von Severin hatte Seyfrid entsetzt von ihrem Strohlager aus angestarrt, nun sprang sie auf und griff nach ein paar Holzscheiten.

Seyfrid blickte zitternd auf den Säugling, der in eine Decke gewickelt schlief. »Wie geht es Ludwig?«, fragte er mit bebender Stimme.

»Es geht ihm viel besser, dank dir!«, sprudelte es aus Hedwig heraus. »Er isst wieder, und heute hat er das erste Mal seit Langem wieder gelacht.«

»Das ist gut«, murmelte Seyfrid und beugte sich zu dem glimmenden Feuer. Hedwig legte Holzscheite nach und blies in die Glut.

»Verzeiht, aber ich muss mich meiner nassen Kleider entledigen, um sie zu trocknen.« Seyfrid entkleidete sich bis auf seine Hose. Karl gab ihm eine zerlöcherte Decke, aber Seyfrid war dankbar, dass er sich damit wärmen konnte. Er hockte sich dicht vor die prasselnden Flammen, um die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben.

»Was ist mit dir geschehen?«, fragte Karl.

Seyfrid schüttelte den Kopf. »Es ist besser für euch, wenn ihr es nicht wisst.«

»Bist du hungrig? Wir haben noch etwas Brot übrig.«

Doch Seyfrid lehnte dankend ab. Er wollte den armen Leuten nicht ihr letztes Essen wegnehmen. Er war froh, dass Karl und Hedwig keinerlei weitere Fragen stellten. Falls sie von seiner Festnahme und der Anklage gehört hatten, ließen sie es sich nicht anmerken. »Schlaft einfach weiter!«, sagte er.

Die beiden legten sich wieder auf ihr einfaches Lager, den kleinen Ludwig zwischen sich.

Auch Seyfrid wurde bald von bleierner Müdigkeit übermannt. Er rollte sich auf dem Boden zusammen und schlief eingehüllt in die alte Decke bis zum Morgen.