DIE MACHT DER BOTENSTOFFE

Jeder Mensch hat also ein anders verschaltetes Gehirn, das entsprechend unterschiedlich auf das reagiert, was passiert. Wie unser Gehirn arbeitet – und vor allem wie wir uns dabei fühlen, hängt hauptsächlich davon ab, ob bestimmte Botenstoffe auf mehr oder auf weniger empfindliche Rezeptoren treffen. Denn so unromantisch es klingt: Jedes Gefühl im Gehirn ist physiologisch gesehen nichts anderes als eine chemische Reaktion.

Ob jemand liebt oder hasst, traurig oder fröhlich ist, ist eine Frage der Botenstoffkonzentration an den Rezeptoren der einzelnen Hirnzellen im limbischen System und auch eine Frage der Empfindlichkeit der Rezeptoren für bestimmte Botenstoffe wie Dopamin, Oxytocin, Adrenalin, Cortison, Serotonin und Endorphine, die sogenannten Glückshormone. Diese Neurotransmitter spielen eine so große Rolle für unsere seelische Gesundheit, weil sie die Informationen zwischen den einzelnen Hirnzellen über Schaltflächen weitergeben. Sehr vereinfacht kann man daher sagen: Wenn die Konzentration dieser Stoffe in diesen Schaltflächen und auch die Empfindlichkeit der Rezeptoren stimmen, dann ist der Mensch seelisch gesund.

Wie können wir uns den Weg der Informationen durch das Gehirn am besten vorstellen? Mir fällt dazu das beliebte Kinderspiel »Stille Post« ein, die meisten werden es kennen. Ein Spieler überlegt sich einen kurzen Satz und flüstert ihn seinem Nachbarn ins Ohr, der wiederum gibt das, was er verstanden hat, leise an die neben ihn sitzende Person weiter und so weiter und so fort. Der Letzte in der Runde muss dann laut sagen, was er gehört hat. Wenn ein Einziger in der Reihe die ursprüngliche Information verändert –, kommt am Schluss etwas völlig anderes heraus.

Übertragen auf das Gehirn bedeutet das: Ein Reiz – das kann eine Information oder ein Ereignis sein – kommt von außen heran und wird dann in Millisekunden über Tausende von Hirnzellen weitergegeben, bis das Ergebnis schließlich sowohl im rationalen als auch im emotionalen Gehirn verarbeitet wird. Die Hirnzellen brauchen alle die gleiche Konzentration von Neurotransmittern an ihren Schaltflächen, damit die Information klar und deutlich im Zentrum ankommt. Wenn dies nicht der Fall ist, dann wird etwas verfälscht.

Ich überspitze hier mal stark, um das Prinzip deutlich zu machen – Humor setze ich an dieser Stelle dringend voraus: Nehmen wir an, Sie begegnen einem attraktiven Menschen. Dann meldet der Sehnerv dem optischen Zentrum: »Da sitzt eine sehr schöne Frau vor mir«, und diese Information wird über viele hunderttausend Hirnzellen bis ins limbische System weitergelotst. Sind nun allerdings an verschiedenen Schaltflächen zu wenige Botenstoffe, dann kommt bei der tausendsten Hirnzelle an: »Da sitzt eine Frau.« Bei der zehntausendsten wird gemeldet: »Die sieht aus wie ein Besen«, und in den Hirnkernen kommt zu guter Letzt an: »Da sitzt ein Besen.« Der Mensch, der glaubt, statt der Frau einen Besen vor sich zu haben, hat aufgrund seines Botenstoffmangels eine an sich schöne Information negativ verfälscht und kann, da das dann mit vielen Informationen so passiert, depressiv werden. Oder auch aggressiv – ohne von außen nachvollziehbaren Anlass.

Umgekehrt, wieder übertrieben natürlich: Wenn jemand an den Schaltflächen zu viele Botenstoffe sitzen hat und einen alten Besen herumliegen sieht, dann wird bei der tausendsten Zelle gemeldet: »Interessanter Besen«, bei der zehntausendsten: »Wow, ein Mensch!«, bei der hunderttausendsten: »Eine interessante Frau«, und im Zentrum des Gehirns schließlich wird der alte Besen als überirdische Schönheit verarbeitet, und es kommt das Signal für einen sofortigen Heiratsantrag. Wenn es so ähnlich läuft, könnte dieser Mensch von einem Psychiater zu Recht die Diagnose »Manische Episode« bekommen, denn er kann gar nicht anders, als alles übersteigert und positiv zu deuten.

Es ist daher von enormer Bedeutung, dass die Stoffe im synaptischen Spalt, also da, wo sie zwischen den einzelnen Nervenzellen weitergeleitet werden, in der richtigen Konzentration vorhanden sind. Die klarsten Informationen erreichen die entscheidenden Hirnareale nicht – oder nicht so, wie sie sollten –, wenn die Chemie im Kopf nicht stimmt.

Wie können wir darauf Einfluss nehmen? Die erste, wichtige Voraussetzung: Begreifen Sie bitte, welche Bedeutung dieses etwa faustgroße Wunderwerk im Kopf für unser Leben und für unsere Psyche hat, auch wenn Sie nicht vorhaben, eines Tages als Gehirnforscher zu arbeiten. Hier ist so viel los, es herrscht eine solch ungeheure Intelligenz – und das meiste davon bekommen wir gar nicht mit. Aus Forschungen weiß man, dass nur etwa fünf Prozent dessen, was in unserem Kopf abgespeichert ist, uns bewusst ist. Damit haben viele Déjà-vu-Erlebnisse zu tun: Wir haben etwas tatsächlich schon mal gesehen – unser Gehirn weiß es, aber unser Bewusstsein hat es nicht mehr parat.

Eindrucksvoll zum Eigenleben unseres Gehirns ist folgendes Experiment: Man scannte das Gehirn einer Person, die zu hundert Prozent davon überzeugt war, kein Rassist zu sein, und das auch glühend vertrat, während man ihr Fotos von Schwarzen vorlegte. Dabei stellte sich heraus, dass ihr Gehirn auf die Bilder so reagierte, als würde die betreffende Person darauf Menschen sehen, die sie nicht ausstehen kann. Es ist einfach so: Das Gehirn kennt keine Objektivität, innerhalb von zwei Minuten färbt es jeden Eindruck affektiv ein. Oder anders ausgedrückt: Der Mensch denkt, sein Unterbewusstsein lenkt.

Seien wir also nachsichtig mit uns selbst. Alles Wünschen und Wollen kommt erst mal nicht gegen tiefsitzende Prägungen an. Viel zu viel passiert in unserem Hirn ganz automatisch. Wenn wir das verstehen und akzeptieren, haben wir eine Chance, etwas zu ändern – zum Beispiel, wenn es um Menschen aus anderen Kulturen geht, durch reale, eigene Erfahrungen mit ihnen.

Wenn das Hirn nicht richtig funktioniert, wird die Seele krank. Natürlich wissen wir heute, dass alles miteinander zusammenhängt, der Magen-Darm-Trakt mit seinen zahllosen Sensoren ist mit dem Gehirn in vielfacher Art und Weise in beide Richtungen verbunden, überhaupt spielt der lange unterschätzte Darm eine große Rolle bei der Produktion der Botenstoffe. Aber über allem thront das Hirn. Wenn das Gehirn aufgibt, ist das menschliche Leben zu Ende. Es kann sein, dass das Herz noch schlägt und die Muskeln und Knochen und der Darm noch ihren Dienst tun, aber das Menschsein, das Fühlen und Denken, ist vorbei.

Ich empfehle sehr, dieses Organ pfleglich zu behandeln. Stress und Multitasking, lang anhaltende Aufregung, Schlaflosigkeit, weggedrückte Angst und weggedrückter Ärger sind nicht gut für das Gehirn. Unterforderung auch nicht. Es ist das einzige Organ im Körper, das durch häufiges Benutzen immer besser wird. Die beste Prophylaxe gegen Alzheimer besteht darin, das Gehirn zu fordern. Durch häufiges Nichtbenutzen legen wir ganze Bereiche still, sie sterben nach und nach ab. Das Gehirn bildet aber neue Hirnzellen und nutzt diese, wenn es viele Impulse bekommt und sich gebraucht fühlt.

Alles, was passiv konsumiert wird, macht im Einzelfall nichts aus, bringt in der Summe aber ziemlich sicher Abstumpfung bis – lassen Sie es mich so deutlich sagen – Verblödung mit sich. Ständiges Fernsehen oder Surfen im Internet führt zu diesem Prozess. Es ist geradezu unverantwortlich schlecht für unser Gehirn, dass wir Hirnfunktionen an elektronische Geräte delegieren und damit vieles outsourcen. Wenn Kinder, deren Gehirn in der Entwicklungsphase unglaublich schnell und viel lernt, nur noch am PC oder am Handy hängen, schadet ihnen das sehr. Diese Geräte rechnen, sie fotografieren (so dass das fotografische Gedächtnis überflüssig wird), sie speichern Termine, übernehmen die Orientierung in der Welt.

Besonders bedrohlich ist es, wenn wir nur noch schriftlich zwischen Tür und Angel über SMS und Mails zu anderen Kontakt aufnehmen. Wir verflachen auf diese Weise emotional. Denn bei dieser Art der Kommunikation wird nur ein Teil unserer Sinne angesprochen. Die Lebendigkeit geht verloren, die bei einem echten Austausch stattfindet, bei dem wir gestikulieren und uns gegenseitig beobachten, bei dem wir das Leuchten in den Augen unseres Gegenübers wahrnehmen und diesen Reiz dann blitzschnell in unserem Gehirn verarbeiten. Genauso fehlt auch das Vertiefen der Gedanken, an dem sich ein gesundes Gehirn erfreut: Fragen stellen, Antworten suchen. So etwas funktioniert nicht mit hundertdreißig Zeichen. Da nützen auch die ganzen albernen Emoticons nichts.

Um uns lebendig zu fühlen, brauchen wir den Kontakt zum Lebendigen. Haben wir ihn nicht, wirkt sich das negativ auf die Produktion der Botenstoffe aus, und außerdem: Unser Gehirn liebt Lebendigkeit, Neues, Wärmendes, Schönes, Begeisterndes. Wir sollten ihm das geben, es bitte nicht immer nur mit Fast Food, mit Negativmeldungen, mit Stumpfsinnigem füttern. Der Dalai Lama empfiehlt: »Begib dich einmal im Jahr an einen Ort, an dem du noch nie gewesen bist.« 3 Recht hat er.

Die meisten Gehirne sind negativ verschaltet

Wer in Deutschland aufwächst, ist fast schon dafür prädestiniert, sich eines Tages ziemlich schlecht zu fühlen. Bereits Kindern wird beigebracht, ihre Gefühle zu unterdrücken. Sie lernen, sich zu beherrschen, sich zusammenzureißen, keine Gefühle zu zeigen – in vielen Familien ist so etwas erstrebenswert. Das mag verwundern, schließlich haben wir die Achtundsechziger, die Revolution der Gefühle, durchlaufen. Doch die alten deutschen Werte sitzen tief. Immanuel Kant, der Aufklärer, hat uns geprägt: »Der Mensch kommt nicht auf die Welt, um sein Leben zu genießen, sondern um seine Pflicht zu tun.« Diese Haltung haben wir Deutsche verinnerlicht, und auch deshalb fühlen sich so viele Menschen hier schlecht, überfordert, unzureichend. Dazu passt, dass Deutschland mehr psychosomatische Betten hat als der Rest der Welt zusammen.

Bei uns, in manchen Bundesländern ganz besonders ausgeprägt, gibt es eine Grundstimmung, die den Kindern ins Gehirn eingepflanzt wird, sobald sie auf der Welt sind. Manchmal bekommen sie schon im Mutterleib durch die Hormonausstöße ihrer Mutter mit, was sie draußen erwartet. »Wenn du das und das tust, dann passiert das und das.« – »Du wirst schon sehen …« – »Wenn es dem Esel zu wohl ist, dann geht er aufs Eis.« – »Den Tag nicht vor dem Abend loben.« – »Wer zuletzt lacht, lacht am besten.« Das sind die Leitsätze, die Millionen Menschen begleiten und unsere Kultur prägen. Wer mit ihnen aufwächst, der traut sich nicht viel, und er traut sich nicht besonders viel zu. Der zieht den Kopf ein, geht auf Nummer sicher, fürchtet, dass er sowieso gleich eins auf den Deckel bekommt. Wie soll einer da stark und mutig werden und lernen, sich selbst wieder aus dem Sumpf herauszuarbeiten?

Beim Aufwachsen fehlt es oft an der nötigen Wärme. Auch das ist ein deutsches Phänomen mit ungünstigen Auswirkungen. »Nicht geschimpft ist gelobt genug.« So einen Satz haben viele tief in ihrem limbischen System verankert. Gerade die unmittelbaren Nachfahren der Kriegsgeneration – also die Jahrgänge etwa ab 1945 bis hinein in die sechziger Jahre – haben ihren Kindern bewusst oder unbewusst mitgegeben: Halte dich zurück, mach dich klein, wage nicht, dein Köpfchen aus der Menge herauszustrecken. So etwas wirkt wie eine Droge, wenn es nur rechtzeitig, in den prägenden Phasen, in die kleinen Köpfe getrichtert wurde.

Viele Menschen, die trotzdem herausragen und Erfolg haben, können das dann deshalb irgendwie nicht richtig genießen. Das kann man oft beobachten. Sie – besonders häufig sind es Frauen – haben das Gefühl, sich dafür entschuldigen zu müssen, weil sie doch eigentlich nicht besser sein dürften als andere, es ist, als hinge ein Damoklesschwert über ihnen.

Diese eher negative, missmutige Haltung zum Leben ist für Kinder gar nicht gut. Sie setzt sich im Hirn fest. Auch Schuldgefühle, die oft nicht aufgelöst, sondern totgeschwiegen und so nonverbal von Generation zu Generation weitergetragen werden, sind weit verbreitet und unheilvoll. Wenn im Leben Fehler passieren: Schuld. Wenn man etwas riskiert hat und es schiefging: Schuld. Hätte man doch, wäre man doch, würde man nur: Das sind Sätze der Eltern, die wie Gift in alle Nervenbahnen sickern. Doch sie können an Einfluss verlieren.

Zum Gift gibt es ein Gegengift. Das Gegengift sind neue Erfahrungen. Immer und immer wieder ausprobiert und eingeübt. Wir müssen damit aufhören, ständig nur auf unsere Defizite zu achten. Was nicht wirkt: Wenn man immer und ewig darüber nachdenkt, was passiert ist. Auch nicht, wenn man sich in die Welt der Ahnen begibt und sich bemüht, deren Leben, deren Schicksalsschläge bis ins Detail zu erfassen und daraus für seinen eigenen Lebenskampf einen Schluss zu ziehen. Wir wissen heute aus Experimenten, wie leicht das Gehirn zu beeinflussen ist und Dinge für bare Münze nimmt, die jemand gar nicht selbst erlebt haben muss, sondern die ihm suggeriert wurden.

Das Gehirn ist manchmal einfach bequem. Es will Ordnung und Ruhe haben. Deshalb verfälscht es Erinnerungen. Hauptsache, es passt. Ich halte es für richtig herauszubekommen, welche Leitsätze einen geprägt haben. Diese Sätze prägen einen ja noch ganz aktuell. »Ich muss mich anpassen, sonst werde ich nicht geliebt.« – »Nur wenn ich fleißig bin, gehöre ich dazu.« Solche Glaubenssätze verlieren oft erst dann an Macht, wenn sie identifiziert sind. Feind erkannt, Feind gebannt. Das ist etwas anderes, als sich an jede Szene aus der Kindheit erinnern zu wollen.

Es fällt mir dazu eine Übung ein, die in den Gruppenstunden in unserer Klinik gerne gemacht wurde und die sich als wirkungsvoll, manchmal geradezu als Schlüsselerlebnis erwies. Die Teilnehmer sollten die Glaubenssätze aufschreiben, die ihnen das Leben schwer machen. Die meisten mussten eine Weile überlegen, aber gefunden hat bisher jeder seine stillen Begleiter. Die Aufgabe war dann, diese Sätze in ihr Gegenteil zu verkehren.

Ein junger Mann, der an Depressionen litt und große Probleme mit seinem Selbstbewusstsein hatte, trug vor: »Ich werde nur akzeptiert, wenn ich keinen Fehler mache.« Die Gruppe stellte nun seinen Satz auf den Kopf: »Ich werde akzeptiert, wenn ich Fehler mache.« Diesen Satz musste er nachsprechen. Das war nur der Anfang. Zum Schluss lautete der Satz: »Ich werde geliebt wie kein anderer, wenn ich den größten Scheiß baue!« Großes Gelächter, viel Spaß begleitete die Übung. Sie wirkte, weil sie so überraschend war. Lustige, schöne Überraschungen liebt unser Gehirn, weil sie von so vielen Emotionen begleitet werden.

Zur Verstärkung haben wir in der Klinik dann auch noch gerne Folgendes gemacht: Jeden Morgen gab es um 9 Uhr eine Morgenrunde im Kaminzimmer. Dort war wenig Platz, die Leute – etwa hundert an der Zahl – waren also gezwungen, sich dicht an dicht hinzusetzen. Allein schon dieser Umstand war eine gute Herausforderung für Menschen, die sich mitsamt ihrer Depression oder Sozialphobie weit von anderen zurückgezogen haben. Auch hier musste der gerade erwähnte Herr das Gelernte lauthals wiederholen: »Ich werde geliebt wie kein anderer, auch wenn ich den größten Scheiß baue.« Er bekam für seinen mutigen Auftritt Applaus. Die Menschen lachten, waren begeistert von ihm, umarmten ihn. Auch ich umarmte ihn.

So eine Erfahrung wird sich natürlich nicht so tief verankern wie Erfahrungen aus der frühen prägenden Zeit. Aber sie wird, weil sie mit intensivem Erleben verknüpft ist, in Erinnerung bleiben. Je öfter jemand so etwas für sich wiederholt, desto mehr prägt es sich ein. Warum, glauben Sie, sind die Pinnwände in den Patientenzimmern fast immer zugepflastert mit schönen Bildern und Sprüchen? Damit so etwas in Erinnerung bleibt. Ich habe es nicht gesehen, aber ich würde wetten, dass der gerade erwähnte junge Mann an seiner Pinnwand einen Zettel hatte, auf dem stand: »Ich werde geliebt wie kein anderer, auch wenn ich den größten Scheiß baue.« Den Zettel wird er sich hoffentlich noch mal angesehen haben, bevor er die Nachttischlampe ausgeknipst hat – denn über Nacht wirkt so etwas besonders gut.

Der viel zu hohe Anspruch – oder warum Glückssuche Stress bedeutet

Perfekt sein zu wollen, toll sein zu wollen, möglichst keinen »Scheiß« zu bauen, sondern immer zu funktionieren – ich habe viele erlebt, die von diesem Anspruch an sich selbst in die Knie gedrückt wurden, Bedrückung und Beklemmung waren irgendwann ihr bestimmendes Lebensgefühl. Ich blicke, wie gesagt, auf die Erfahrung mit etwa dreißigtausend Patientinnen und Patienten zurück. Da entsteht ein deutliches Bild.

»Alles gut?«, ist heute eine geläufige Floskel – und Ausdruck erschreckender Oberflächlichkeit in unserem täglichen Umgang miteinander. Es ist eine Frage, die ich gar nicht mag. »Wie geht es dir?« Diese Frage ist ehrlicher. Zumindest, wenn sie verbunden ist mit echtem Interesse an der Antwort.

Es ist nämlich tatsächlich eigentlich nie alles gut. Und das Schlechteste ist obendrein, wenn man das von sich erwartet. Wie will einer dann aushalten, was im Leben, in so gut wie jedem einzelnen Leben, an Schwierigem und Traurigem passiert?

Die Geschichte des Fußballtorwarts Robert Enke, der sich im November 2009 das Leben nahm, hat für mich eine große Symbolkraft. Ich habe ihn persönlich nicht kennengelernt. Aber man kann sagen, er hat in Deutschland die Sicht auf Depressionen verändert. Es war damals wie ein Donnerschlag. Ich erinnere mich an die stern -Titelgeschichte kurz darauf: »Ich war depressiv« hieß sie. In ihr »outeten« sich verschiedene Sportler, zum Beispiel auch der Skispringer Sven Hannawald. Sehr vielen Menschen wurde in dieser Zeit bewusst, was sich hinter einer fast schon titanenhaft starken Fassade verbergen kann. Depressionen, Leid und Elend. Die Geschichte von Robert Enke ist, jedenfalls nach außen, die Geschichte eines verzweifelten Mannes, der versucht hat, sich ein Leben lang zusammenzureißen und »negative« Gefühle wie Angst, Traurigkeit und auch Wut über Kränkungen nicht zuzulassen. Der sich auferlegte, dagegen anzukämpfen, weil er immer wieder funktionieren wollte, und dem es nicht gelang, diese Gefühle zu integrieren.

Da ich mir von diesem sehr sympathisch wirkenden Mann keinen persönlichen Eindruck machen konnte, wäre es vermessen, seine Geschichte, die so tragisch endete, aus der Ferne zu beurteilen. Ich habe mir als Psychiater aus dem, was ich über ihn gelesen habe, natürlich dennoch ein Bild gemacht. Und ich muss sagen, dass dieser Mann mich an so viele Patienten erinnert, die ich im Laufe meines Berufslebens gesehen habe. Starke Menschen waren das, gefühlvolle, sympathische, die immer gegen das vermeintlich Negative in sich selbst angekämpft haben. Und die das Schwere, Bedrohliche dadurch verstärkt haben, dass sie sich selbst dafür geradezu hassten.

In der ganzen Psychosomatik gilt: Je mehr du gegen ein Symptom ankämpfst, desto stärker wird es. Das Ziel in der Behandlung ist die Integration, nicht das Niederkämpfen von vermeintlich schlechten Gefühlen. Alle Gefühle sind in Ordnung, sind willkommen: gute und schlechte, helle und freudige, düstere und traurige. Es ist so wichtig, zu akzeptieren, dass nicht immer alles gut ist und sich kein Mensch schämen muss, weil in ihm alles schreit: Alles schlecht, bleib mir vom Hals mit deiner dummen Frage! Aber das ist schwer in einer Gesellschaft, die dazu neigt, diesen Teil der Gefühlswelt wie eine Krankheit zu betrachten und wie aussätzig zu behandeln.

Es wäre übrigens viel gewonnen, wenn wir uns von einem inzwischen ziemlich verbreiteten Glücksanspruch befreien würden. Glückssuche ist Stress. Zufriedenheit als Grundstimmung reicht. Von dieser Ebene aus, einem grundsätzlichen, etwas stilleren Einverständnis mit dem Leben, lassen sich auch schwierige Zeiten besser in den Alltag integrieren. Der Mechanismus, sich selbst immer mit hohen Zielen zu drangsalieren, führt zu permanenter Entwertung, weil man nie so gut ist, wie man es von sich selbst und wie es vielleicht auch die Umwelt von einem erwartet.

Ich habe einen Patienten vor Augen, einen begabten, sympathischen Rechtsanwalt Anfang vierzig, er war von geradezu bestürzender Freundlichkeit, man sah ihn nie ohne Lächeln, keine Fahrstuhlfahrt mit ihm, ohne dass er irgendetwas Nettes, Höfliches, Aufmunterndes gesagt hätte. Nur war er ja nicht in die Klinik gekommen, weil es ihm so ausgesprochen gut ging. Das war nichts weiter als ein – für ihn und seine Mitmenschen – ziemlich anstrengendes Muster, das er sich sehr früh antrainiert hatte.

Er stammte aus einer Familie, in der Leistung alles bedeutete und jede Art von Schwäche bestraft wurde. Sogar für einen Sprachfehler, den er in den frühen Lebensjahren hatte – er konnte das »sch« nicht richtig aussprechen und sagte stattdessen »ch« –, wurde er von seiner Mutter geschüttelt und nachgeäfft. Also gab er von klein an alles, um Anerkennung zu bekommen. Er riss sich ständig zusammen. Er war einer, der auf die Frage »Alles gut?« immer antwortete: »Alles super!« Er hatte Jura studiert, war bald Unternehmensberater geworden – und dann, ausgelöst durch Beziehungsprobleme, kam plötzlich, mit Ende dreißig, der Zusammenbruch. Er konnte nicht mehr schlafen, er kam morgens nicht mehr aus dem Bett, sein Magen rebellierte, er hatte ständig Durchfall. Er hatte schon Panik, wenn er nur daran dachte, das Haus zu verlassen.

Es dauerte lange, bis er sich entschloss, psychische Hilfe zu suchen, das war für ihn das Eingeständnis, versagt zu haben. Vorübergehend verordnete ich ihm Medikamente, die seine Angst lösten und die ihm aus der akuten Krise halfen. Vor allem musste er dann aber lernen, er selbst zu sein. Ein Mensch, der nicht immer nett und perfekt sein und das Beste vom Besten erreichen will, sondern einer, der sich ärgern und schlecht gelaunt sein darf, der manchmal jemanden im Aufzug so blöd findet, dass er einfach nicht mit ihm spricht.

Eine wichtige Übung, die ich ihm aufgebrummt hatte, war, richtig, richtig unfreundlich zu sein. Zwei Tage lang sollte er auf jedes freundliche Angebot mit »nein« reagieren. Ohne Lächeln! Einfach mal am Tisch sitzen und zuhören, mittelmäßig, ach, mehr noch: ein Unsympath, ein Spielverderber sein. Und was sollte er dabei lernen, und was lernte er auch dabei?

Dass die Welt nicht untergeht. Dass ihn dafür niemand bestraft. Im Gegenteil, es ist ja so: Die Menschen haben mehr Respekt, wenn jemand nicht immer nett ist, sondern Kontur zeigt. Er stellte erstaunt fest, dass sich ein paar Mitpatienten so richtig ins Zeug legten, um ihn freundlicher zu stimmen. Es waren genau diejenigen, die selbst lernen mussten, sich abzugrenzen und nicht auf Zurückweisung mit verstärkter Anstrengung zu reagieren.

Ich sehe die vielen Glücksexperten kritisch, die sich immer wieder zu Wort melden und suggerieren, man müsse nur den Trick kennen, dann sei dauerhaftes Glück möglich. Bleibt mir weg damit! Die Verfasser solcher Bücher verdienen eine Menge Geld, indem sie unsere Sehnsüchte befeuern. Das wird zumindest ihnen selbst vorübergehende Glücksgefühle bescheren. Ihre Leser setzen sie damit aber unter Druck. Ich mag es nicht, zu erfahren, in welchen Städten angeblich Deutschlands glücklichste Menschen leben. Solche Umfragen werden den Einzelnen sowieso nicht gerecht, so etwas beschwört eine unrealistische Erwartung herauf: Reines, pures Glück ist möglich, man muss nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, dann fällt es einem in den Schoß.

Jeder weiß doch, wie es in Wirklichkeit aussieht: Man ist am schönsten Ort – und kann sich sehr schlecht fühlen. Und manchmal sitzt man in einem hässlichen Büro, die Kaffeemaschine ist kaputt, der Kollege schustert einem seine Arbeit zu – und man fühlt sich trotzdem prächtig. Das hat mit den Botenstoffen an den Rezeptoren zu tun.

Überfrachtung macht hilflos

Ich werde immer wieder darauf angesprochen, dass die heutigen Erziehungsmethoden doch für eine prima Botenstoffsituation bei den Heranwachsenden sorgen müssten. Moderne Eltern würden doch alles anders und viel besser machen als vorangegangene Generationen! Von schwarzer Pädagogik keine Spur mehr, auch das schädigende Laisser-faire der Achtundsechziger, das vielen Kindern das Gefühl gab, ihren irre toleranten Eltern völlig gleichgültig zu sein, ist Schnee von gestern. Wenn man junge Eltern zu ihrem Erziehungsstil befragt, dann werden die meisten antworten: Wir verhalten uns einfühlsam, wir fördern das Kind, wir lieben es. Dennoch: Es gibt wieder neue Probleme.

Diese Eltern gehen auf ihre Kinder ein, das ist gut. Die meisten wissen, wie wichtig es ist, Kinder umsichtig zu begleiten, da sich ihr Gehirn in einer so essentiellen Entwicklungsphase befindet. Gewalt in der Erziehung ist verpönt, gedrillt, zusammengestaucht und geprügelt wird wahrscheinlich nur noch in sehr wenigen Familien. Aber man darf sich nicht täuschen lassen. Der enorme Anspruch genau dieser Eltern, an allen Fronten perfekt zu sein, im Beruf wie in der Familie, ist im Grunde nichts anderes als das alte Muster der Überforderung und Pflichterfüllung. Das ewige Ringen um Anerkennung von einer imaginären Instanz wird auch heute den Kindern vorgelebt.

Kinder werden mit enorm viel Bestätigung aufgezogen, ja. Aber es gibt dadurch auch den Anspruch, grandios zu sein. Kinder werden übertrieben gelobt. Wer einigermaßen malt, wird zum großen Künstler erklärt. Eltern geben sich Mühe, ihren Nachwuchs so auszustatten, dass er unbedingt besser und erfolgreicher ist als die anderen. Dahinter steckt die Angst, dass sich das Kind ja eines Tages in einer globalen Welt behaupten muss. Was für eine riesige Freude in der Familie, wenn Lea schon mit einem Jahr trocken ist, ganz im Gegensatz zu Leon, der um die Ecke wohnt und schon zwei ist! Was für ein Aufwand wird betrieben, damit Kinder alle ihre vorhandenen und nicht vorhandenen Talente entfalten können, so früh wie möglich. Tanzen, Flöte spielen, Sprachen sprechen, malen, Dressur reiten … aber: Zu viel Förderung ist langfristig schlecht. Förderung, Überforderung, der Übergang ist fließend. Es kann nicht jeder top sein, nicht jeder ein Multitalent.

Und es kann für Heranwachsende bitter sein, zu erkennen, dass sich ein großer Graben auftut zwischen dem, wofür einen Mama und Papa halten, und dem, was man in der Schule, im Berufsleben oder in Partnerschaften als Resonanz bekommt. Diese Diskrepanz ist mir in meiner therapeutischen Praxis oft begegnet. Menschen brechen irgendwann zusammen, weil ihr Selbstbild und das, was ihre Umgebung ihnen spiegelt, nicht zusammenpassen.

Es gibt dafür einen Fachbegriff: »Falsches Selbst«. Ein falsches Bild von sich selbst zu haben ist anstrengend. Wer frenetische Claqueure – die Eltern und die Großeltern – gewohnt ist, kommt schlecht damit klar, wenn seine Leistungen von anderen nur als durchschnittlich wahrgenommen werden. So ein Mensch hat letztlich genau die gleiche Angst, nicht geliebt zu werden, wie derjenige, der von seinen Eltern als Kind verdroschen und beschämt wurde.

Der Versuch, die Kinder so früh wie möglich zu Global Playern zu machen, führt öfter mal geradewegs in die Krise. Ich habe im Laufe des letzten Jahrzehnts zunehmend Patienten gesehen, die nicht mehr in der Lage waren, sich für eine Sache zu entscheiden. Sie hatten Eltern, die ihnen alles ermöglichen wollten, und waren mit der Fülle der Möglichkeiten überfordert.

Eine junge Frau, zweiundzwanzig Jahre alt, kam zu mir in Behandlung, weil sie von Tag zu Tag trauriger wurde, sich immer mehr von anderen zurückzog, auch von ihrem Freund, weil sie unter starken Stimmungseinbrüchen litt und keinen Antrieb mehr verspürte, etwas zu tun. Sie lag den ganzen Tag im Bett und beschäftigte sich nur noch mit ihrem Handy und ihrem iPad.

Der Hintergrund: Mit achtzehn hatte sie ihr Abitur gemacht, danach folgte ein Jahr Weltreise, anschließend begann sie in Freiburg Jura zu studieren. Nach zwei Semestern merkte sie, dass ihr das Jurastudium gar nicht lag. Sie brach es ab und zog nach Hamburg, um dort Medienkommunikation zu studieren. Schließlich folgte der Absturz.

Sie konnte mit ihrem Freund nichts mehr anfangen, weil sie im Internet mit so vielen flirtete und chattete, auch mit den vielen Bekannten, die sie auf ihrer Weltreise kennengelernt hatte. Erneut stellte sie ihr Studium in Frage, gleichzeitig tat sich aber keine Alternative auf, denn sie wusste nicht, welches Studium für sie das richtige sein könnte, da die Auswahl so riesig ist. Die junge Frau hat sich völlig übernommen. Erst die Vorbereitung auf das Abitur, dann die Weltreise mit einer Überflutung von Reizen, dann der Umzug nach Freiburg trotz sehr enger Elternbeziehung, dann der Wechsel nach Hamburg – und auch hier war sie wieder entwurzelt.

In der Therapie kam es vor allem auf eines an: Tempo rausnehmen. Sie musste wieder bei sich selbst ankommen. Reizarmut war angesagt. Dann in Ruhe sich ablösen und eine Entscheidung treffen. Unser Gehirn hat, wie ich bereits beschrieben habe, die eigentlich sinnvolle Fähigkeit, bei völliger Reizüberforderung in den Stillstand abzutauchen und sich im Zustand der Gefühllosigkeit eine Reizabschirmung und Auszeit zu genehmigen. Das muss man nur wissen. Denn wenn man sich während einer solchen extrem wichtigen Rückzugs- und Neuorientierungsphase als Versager erlebt und gegen sich selbst kämpft, ist es schwer, das zu tun, was nötig wäre: zu entspannen. Zu re-setten.

Der Anspruch der Eltern an ihre Kinder ist heute zum Glück meist nicht mehr bedingungsloser Gehorsam wie noch in der Generation unserer Großeltern. Dafür aber wollen sie ihre Kinder zu dem zweifelhaften Glück zwingen, mit einem weiten Horizont zu leben, möglichst früh und viel im Ausland gewesen zu sein, immer offen, locker, interessiert und international zu sein. Wenn es um Lebenszufriedenheit geht, dann sprechen heute alle – junge wie alte Menschen – von sozialen Kontakten. Als wäre das ein Zaubermittel dafür, immer jung, gesund und fröhlich sein zu können.

Doch das ständige In-Kontakt-sein-Müssen kann großen Druck ausüben. Ich empfehle: Wer lieber allein sein will, der soll es doch bitte sein. Wer sich überfordert fühlt vom Tanzen auf allen Hochzeiten, der soll das sein lassen und sich für einige wenige Veranstaltungen entscheiden oder einfach zu Hause bleiben und den Vögeln zuhören. Dies ist ein Plädoyer für alle Introvertierten.

Als ich vor kurzem vier Wochen lang durch Neuseeland gereist bin, habe ich in dieser Hinsicht aufschlussreiche Erfahrungen gesammelt. So viele Menschen leben dort zurückgezogen in der Natur und sind vollkommen perplex, wenn man sie fragt, ob sie das nicht depressiv mache. Gerade für mich als Psychiater war das sehr interessant. In der Fachszene ist man sich nämlich einig, dass soziale Interaktion die beste Depressions- und Demenzprophylaxe darstellt, weil durch sie auch die neuronale Plastizität des Gehirns gefördert wird. Wenn dem so wäre, müsste zumindest die halbe Südinsel Neuseelands depressiv und verblödet sein. Ist sie aber nicht.

Meine Freundin, die mich auf dieser Reise begleitete, hatte achtundzwanzig Jahre zuvor ein ganzes Jahr lang auf der Insel gelebt. Das war ein Glück, denn so konnten wir ein paar ihrer alten Freunde besuchen. Einer von ihnen war Hans.

Um zu ihm zu gelangen, fuhren wir etwa fünfzig Kilometer durch völlig einsames Gelände – unter anderem auch über einen Berg, dann weitere fünf Kilometer über einen Feldweg, bis wir schließlich zu einem Gatter kamen. Von dort aus erreichten wir nach weiteren zwei Kilometern das selbstgebaute Haus.

Vor rund dreißig Jahren ist Hans von der Schweiz nach Neuseeland ausgewandert. Er lebte zunächst in einer Art Hippie-WG und hielt sich mit handwerklichen Aushilfsarbeiten über Wasser. Innerhalb von ein paar Jahren sparte er so viel Geld an, dass er ein großes Stück Land kaufen konnte (was damals sehr billig war) – dieses Gebiet war allerdings komplett unerschlossen. Er stellte seinen Campingbus dort ab und begann sich an die Arbeit zu machen: Er tat eine Wasserquelle auf, sorgte für eine Anbindung ans öffentliche Straßennetz, legte Stromleitungen und baute schließlich – mittlerweile zusammen mit seiner Freundin – ein kleines Holzhaus. Die beiden bekamen in dieser Einöde zwei Kinder. Er verdiente zunächst etwas Geld in einer Schreinerei und machte sich dann selbständig. Außerdem engagierte er sich bei dem Aufbau einer Waldorfschule in einem etwa vierzig Kilometer entfernten Ort. Dort lebten die nächsten »Nachbarn«, die man im Schnitt etwa zweimal im Monat traf.

Ich kannte diese Geschichten, bevor ich Hans zum ersten Mal sah, und hatte mir einen verschrobenen Althippie vorgestellt, einen, der autistisch mit seiner Familie vor sich hin lebt. Das krasse Gegenteil war der Fall: Ein fröhlicher, kontaktfreudiger, gutgelaunter Vierundfünfzigjähriger begrüßte uns mit seinen beiden inzwischen fast erwachsenen Kindern. Seine Frau war gerade zu Besuch bei ihren Eltern in der Schweiz.

Die Familie von Hans hat ihren Lebensmittelpunkt in dieser unglaublichen Abgeschiedenheit. Nur stundenweise am Tag gibt es hier Internet- und ebenso selten Handyempfang. Das Holzhaus wurde im Laufe der Jahre mit kleinen Anbauten erweitert, die vier leben aber immer noch sehr einfach – und, das war die Überraschung für mich, sind völlig zufrieden mit ihrem Leben. Zu trinken gibt es nur Quellwasser, zum Anziehen eine kurze und eine lange Hose, und alle Statussymbole, die bei uns so begehrt sind, spielen auf diesem Fleck der Erde keine Rolle. Auf meine Frage, ob sie denn nicht irgendetwas vermissen würden, kam die erstaunte Gegenfrage: Was sollen wir denn vermissen?

Wie schon gesagt: Wenn man den theoretischen Überlegungen zur Entstehung von Depressionen und der Demenz folgt, müssten Menschen, die so leben wie die Familie von Hans, schwerkrank sein. Die Familie von Hans ist aber zufrieden, anspruchslos und unabhängig. Auch der Neuseeländer, den wir später trafen und der seit Jahrzehnten allein auf seinem Katamaran unterwegs ist, hatte eine gewinnende Ausstrahlung, die mich tief beeindruckte.

Auch in Deutschland habe ich immer wieder mal Menschen getroffen, die durch ihre Bindung zur Natur zu einer tiefen inneren Zufriedenheit gefunden haben. Solche Begegnungen haben mich nachdenklich zurückgelassen und meine Einstellung völlig verändert – im Umgang mit vielen Patienten, die über ihre Einsamkeit klagen, ebenfalls … Sie bestätigen mich darin, dass Menschen ihre Zufriedenheit auch unabhängig von vielen sozialen Kontakten finden können.

Diese Zusammenhänge muss man erkennen. Das ist ein guter Anfang. Und sich dann klarmachen: Jeder hat sein eigenes Leben. Sein eigenes Gehirn, seine eigenen Bedürfnisse.

Es geht darum, mit gefüllten Segeln das eigene, passende Leben zu führen, mit Höhenflügen und Niederschlägen, ohne die Illusion, weiterhin ein kleiner Star zu sein oder aber die Eltern, die einen noch nie anerkannt haben, doch noch eines Tages für sich zu begeistern. Jetzt geht es darum, seine eigenen Gefühle wahrzunehmen und zu leben und sich von dem unabhängig zu machen, was andere vorleben oder was andere von einem erwarten.

Ich weiß, wovon ich spreche. Ich war kein von den Eltern gehypter Kinderstar. Sondern das Gegenteil. Ich wurde für dumm erklärt, auf mich setzte gerade mein Vater keinen Pfennig. Bei mir hat es verdammt lange gedauert, bis ich mich endlich von der kindlichen Hoffnung verabschiedete, die Aufmerksamkeit und Anerkennung meines Vaters eines Tages doch noch zu bekommen. Seit ich mich selbst anerkenne, wie ich bin, fühlt sich mein Leben richtig an – auch wenn ich einiges ganz anders mache als die meisten.

Anmerkung zum Kapitel