THERAPIEVERFAHREN – EINE EINORDNUNG

Die gesetzlichen Krankenkassen, mit denen in Deutschland etwa vierundzwanzigtausend Psychotherapeuten abrechnen können, bezahlen für drei Therapieverfahren: die Psychoanalyse, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und die Verhaltenstherapie. Die Auswahl ist also begrenzt. Die Vergütung richtet sich nach der Methode – obwohl man heute weiß, dass die Methode bei der Heilung der Patienten eine untergeordnete Rolle spielt. Genehmigt werden bis zu dreihundert Stunden für eine Analyse, bis zu hundert Stunden in einer tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie und bis zu achtzig Stunden in einer Verhaltenstherapie.

Gerade die Therapieform, die am großzügigsten unterstützt wird, halte ich in vielen Fällen für unwirksam, manchmal sogar für schädigend. Ich spreche von der Psychoanalyse.

Keine Methode hat eine solche lange Tradition, eine derart starke Lobby – und damit auch eine solche Macht in Deutschland. Eine Analyse zieht sich manchmal über Jahre hin. Ich habe Patienten erlebt, die investierten sogar ihr Erspartes in weitere Hunderte Analysestunden, als ihre Krankenkasse nicht mehr zahlte.

In Deutschland ist es üblich, in der Vergangenheit zu graben. Schwer muss sie sein. Kompliziert. Niederdrückend. Dazu passt die Analyse. Ich halte es aber für einen Fehlglauben, dass Katharsis, also das Durch-die-Hölle-Gehen, Störungen beseitigt. Eher trifft das Gegenteil zu, das wissen wir heute aus so vielen Forschungen. Das Negative verfestigt sich, je öfter wir uns damit beschäftigen. Die Trampelpfade im Gehirn werden immer breiter, statt dass sie ein wenig zuwachsen, weil andere Pfade benutzt werden. Es klingt ja immer so einleuchtend und so verführerisch: Hat man herausgearbeitet, dass ein Mädchen mit acht Jahren sexuell missbraucht wurde, dann ist doch logisch, warum es als Erwachsene Beziehungsprobleme und Orgasmusstörungen hat. So einfach ist das aber nicht. Es klingt logisch. Ist aber nicht wirklich psycho-logisch.

In die Psychologie eines Menschen spielt so viel mehr mit hinein, da gibt es diese Rechnung nicht: Eins und eins ist zwei. Ich kenne aus meiner Praxis Menschen, die missbraucht wurden und eine gute Partnerschaft und eine herrliche Sexualität haben. Natürlich – ich habe es im Kapitel »Was in unserem Gehirn stattfindet, wenn wir fühlen« erklärt – hat uns die Vergangenheit geprägt. Es kann auch sinnvoll sein, sich seine Familie anzusehen, Regeln und Reaktionsmuster zu erkennen, die es da gab, und über die bereits erwähnten Leitsätze nachzudenken. Aber die Hoffnung ist meistens trügerisch, aus einzelnen früheren Ereignissen einen konkreten Schluss für heutige Probleme zu ziehen.

Wir wissen aus der false memory -Forschung, dass Erinnerungen keine sichere Bank sind. In der Rückschau werden sie eingefärbt bis hin zu – oft unabsichtlich – komplett erfunden. Es gibt aktuelle Studien der Londoner Forscherin Julia Shaw, die zeigen, wenn jemandem eine Szene, die sich angeblich in seiner Kindheit abgespielt hat, in leuchtenden Farben und mit großer Überzeugung erzählt wird, dann ist derjenige irgendwann fest davon überzeugt, er habe das wirklich erlebt. Unser Gehirn liebt Ordnung und deshalb Geschichten, die einen Zusammenhang ergeben. In Bilder mit Lücken phantasiert es bereitwillig Puzzlestücke, die alles logisch erscheinen lassen.

Jahrelang in der Vergangenheit herumzustochern macht das aktuelle Leben nicht besser. In vielen Praxen spielt sich die Analyse dennoch wie einst bei Sigmund Freud ab: Der Patient liegt auf der Couch und erzählt alles, was ihm – besonders zu seiner Kindheit – einfällt, oder er schweigt. Am Kopfende sitzt der Analytiker. Er assoziiert freischwebend – das ist der Fachbegriff –, was ihm an Deutungen in den Kopf kommt, oder auch er schweigt. Manchmal nickt er auch ein. Das haben einige Analysanden erlebt, die ich kenne. Sie sahen ihren Analytiker zwar nicht, doch sie hörten seine Atemgeräusche, manchmal sein Schnarchen.

Ehrlich gesagt, ich würde mich auch zu Tode langweilen, wäre ich Analytiker und würde in einem Sessel sitzen und über Stunden begleiten, wie jemand, den ich nicht mal sehe, redet und schweigt. Natürlich kann es für einen seelisch verlorenen Menschen erleichternd sein, wenn da überhaupt einer ist, der regelmäßig für ihn Zeit hat. Wer dreimal die Woche zu seinem Analytiker geht, hat schließlich eine feste Säule in seinem Leben. Aber diese Säule könnte, provokant gesagt, auch ein Mensch im Altersheim oder ein Barkeeper darstellen, der regelmäßig besucht wird, zuhört, freundlich nickt, einer, von dem man möglichst noch glaubt, dass er kompetent ist.

Was die Analyse anbetrifft, bin ich radikal. Ich würde sie als Kassenleistung streichen und das Geld lieber für Angebote ausgeben, die den Menschen stärken, also für mehr Psychotherapien mit wirklich zugewandten Fachleuten. Das können dann gern auch solche mit psychoanalytischem Hintergrundwissen sein.

Diese Geschichte eines Studenten finde ich bezeichnend: Der junge Mann, dreiundzwanzig Jahre alt, will Lehrer für Sport und Mathematik werden. Als er vor zwei Jahren sein Studium begann, litt er mit einem Mal an Redeangst. Bei seinem ersten Referat blieb ihm die Stimme weg, er bekam Herzrasen, musste seinen Vortrag abbrechen – und trat hochrot von der Bühne ab. Er traute sich danach nicht mehr, öffentlich zu sprechen. Seine Angst breitete sich aus, er fürchtete sich bald vor jeder Prüfung.

Er beschloss, einen Psychologen zu konsultieren. Von einer Kommilitonin wurde ihm die Adresse einer Analytikerin gegeben. Psycho ist psycho, dachte er – was seine Therapeutin genau mit ihm anstellen würde, war ihm eigentlich egal, Hauptsache, sie würde ihm helfen.

Die Analytikerin war eine strenge Frau, sie bestellte ihn dreimal die Woche ein. Der junge Mann lag auf der Couch, sollte erzählen, was ihm so einfiel. Er rollte die frühe Scheidung seiner Eltern auf, den Umzug nach Düsseldorf viele Jahre zuvor. »Ich kam vom Hölzchen aufs Stöckchen«, erinnert er sich. Das Dumme nur: Er hatte außerhalb der Therapie weiterhin Angst davor zu sprechen, das ganze Studium rückte so weit weg, dass er sich bald gar nicht mehr darum kümmerte. »Ich war wie in einer Blase, ich habe mich nur noch mit mir beschäftigt – und von Stunde zu Stunde tat sich mehr Material auf«, erinnert er sich heute.

Etwa ein Jahr ging das so. Hundertsechzehn Therapiestunden verstrichen, mit Sorge beobachtete zum Glück der Vater des jungen Mannes, dass sein Sohn seinen Alltag nicht mehr hinbekam und sichtlich überfordert von allem war, was er aus der Vergangenheit ans Tageslicht holte. Der Vater ging mit ihm zu einer kirchlichen Beratungsstelle. Der Psychologe dort fragte genau nach. Er kam zum Schluss, dieser Student müsse keine Psychoanalyse, sondern eine Verhaltenstherapie machen.

Der Student war einverstanden. Er bekam Einzelstunden, in denen er lernte, sich selbst zu beruhigen, und er nahm an einer Gruppentherapie teil, in der er übte, vor anderen zu sprechen. Es dauerte sechs Wochen, und er hatte seine Angst überwunden. Heute geht es ihm gut. Diesem Mann wäre fast sein Studium entglitten.

Ich kenne Fälle, da verloren sich Menschen einfach vollständig in den Untiefen ihrer Seelen – und irgendwann stellte sich heraus, dass ihr Begleiter auch nicht weiterwusste. Eine Frau war vor einigen Jahren in Analyse gegangen, nachdem sie das Buch Das Drama des begabten Kindes der Analytikerin Alice Miller gelesen hatte. Sie meinte, ihr schlechtes Selbstwertgefühl könne mit ihrer extrem ehrgeizigen Mutter zusammenhängen.

Ihre Analyse wurde zu einem Desaster: Sie fühlte sich, je mehr sie über die Vergangenheit sprach, immer schlechter. Sie konzentrierte ihr großes Bedürfnis, endlich gehalten und geliebt zu werden, auf den Therapeuten. Ihr Ehemann spielte keine Rolle mehr, ihren Beruf als Krankenschwester konnte sie phasenweise nicht mehr ausüben, da sie von Depressionen überrollt wurde. Alles in ihrem Leben drehte sich um die Analyse.

Der Therapeut war offenbar vollkommen überfordert. Eines Tages bettete er den Kopf der Frau in seinen Schoß, um sie zu trösten. Das wiederholte sich über hundertmal. Der Frau fiel es ungeheuer schwer, sich zu lösen. Sie investierte aus der eigenen Tasche über zehntausend Euro, als die Kassensitzungen aufgebraucht waren. Schließlich schaffte sie den Absprung doch.

Sie beschwerte sich daraufhin an verschiedenen Stellen. Ein Gutachter bescheinigte ihr, dass sie recht hatte – der Analytiker hatte sich aus seiner Sicht geradezu aberwitzig unprofessionell verhalten. Es kam zu einem Vergleich. Die Frau bekam sechstausend Euro zurückerstattet. Mag sein, dass der Therapeut ein besonders unfähiger Mann war. Aber für mich bestätigt diese Geschichte, dass eine Analyse ins Nirwana und in Abhängigkeit führen kann.

Ich habe nach dem Medizinstudium den Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gemacht – dazu gehört es auch, selbst an einer Gruppenanalyse teilzunehmen. Sie wurde von einem Professor der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse (MAP ) geleitet und fand etwa alle vier Wochen am Wochenende statt. Es gab zwölf Teilnehmer.

Zu Beginn sagte der Professor: »Eine Analyse ist wie das Eintauchen der Hände in Essigwasser. Vorher denkt man, dass man nichts hat – anschließend brennt es an den Stellen, an denen Verletzungen sind.« Das allein müsste eigentlich schon reichen, schnell das Weite zu suchen. Man würde ja auch nicht die Hand auf eine Herdplatte legen, wenn einer sagte: »Vorher haben Sie kein Problem, aber nachher eine Brandwunde.«

Nach der Einführung hat unser Analytiker in hundertfünfzig Gruppenstunden nichts mehr gesagt, sondern die Gruppe ganz sich selbst überlassen. Ein bisschen Bewegung entstand nur dann, wenn einer der Teilnehmer etwas über sich erzählte. Dies waren eigentlich immer irgendwelche Banalitäten des Alltags. Oder wir haben geschwiegen, manchmal über Stunden. Ich habe mich in dieser Zeit auf das Zählen der Bücher des Professors in seiner Bibliothek konzentriert.

Zunächst versuchte ich noch, offen von mir und meinem Leben zu berichten. Das gab ich dann aber auf, als kein anderer etwas über sich erzählte. Ich wollte nicht den Animateur spielen – obwohl ich das konnte. Vor meinem Studium habe ich ja als Animateur gearbeitet und deshalb Übung darin, Leute in Schwung zu bringen. Das waren aber keine schüchternen Reisenden, sondern Leute, die etwas lernen wollten!

Manche Teilnehmer – angehende Psychoanalytiker! – waren in ihrer Grundstruktur für meine Begriffe erschreckend unselbständig. Ein Arzt zum Beispiel wurde jeden Morgen von seiner Mutter gebracht und abends wieder von ihr abgeholt. Dieser Kollege hat in der gesamten Zeit, über hundertfünfzig Stunden lang, niemals etwas gesagt, nur zugehört. Beste Vorbereitung auf den späteren Job! Das war bei mehreren Teilnehmern so. Und diese Menschen wollen dann Leute, die mitten im Leben stehen und komplizierte Dinge erlebt haben, aus der Krise führen. So gingen die Stunden dahin, zäh und schwer. Hinterher bekamen wir ein Zertifikat für »analytische Selbsterfahrung«.

Der eigentliche Sinn der Gruppenanalyse besteht darin, dass Teilnehmer ihr eigenes Leben reflektieren sollen und dabei selbst erfahren, mit welchen Schwierigkeiten und Übertragungsmechanismen sie in therapeutische Beziehungen hineingehen. Zu einer solchen Erkenntnis kann man natürlich nicht kommen, wenn der therapeutische Leiter so gut wie abwesend ist und die Sitzungen in keiner Weise moderiert werden. Ich bin sicher, dass es bei allen Teilnehmern interessanten Stoff gegeben hätte und dass alle einiges hätten lernen können. Aber durch Schweigen und durch das Äußern von irgendwelchen Banalitäten? Bestimmt nicht.

Nach dieser Gruppenerfahrung ging ich noch durch eine Einzelanalyse bei Analytikern in Saarbrücken und Heidelberg. Es war eine ähnliche Erfahrung. Meine Analytiker sagten zu Beginn jeder Stunde: »Herr Dogs, die nächsten fünfzig Minuten gehören Ihnen!«, und dann haben wir in der Regel geschwiegen, oder ich habe erzählt, was mir am Tag passiert ist, und der Analytiker hat das gedeutet und mit einem »Mhmmm« zwischendurch unser einseitiges Gespräch immer wieder am Laufen gehalten. Nach der achten Stunde sagte er dann doch tatsächlich: »Sie haben es im Leben schwer gehabt!« Der Satz tat mir gut. Das war es aber auch in Sachen persönlicher Anteilnahme, die mir in den insgesamt hundertvierzig Stunden entgegengebracht wurde. Ich habe mich gefreut, als ich in einem Interview mit dem großen amerikanischen Psychiater und Psychotherapeuten und Autor Irvin Yalom las, auch er habe seine Analyse als komplett nutzlos empfunden. Er erinnere sich heute überhaupt nur noch an eine einzige Situation. Da habe er erzählt, dass seine Mutter ihm, als er Jugendlicher war, die Schuld am Tod seines Vaters gegeben habe (die er natürlich nicht hatte). Und die Analytikerin habe gesagt: »Das muss sehr schwer für Sie gewesen sein!« Auch hier auffallend, dass es das plötzlich aufflammende echte Interesse an ihm war, das einen Eindruck hinterließ.

Der eigentliche Sinn der Übung sollte ja sein, dass jemand durch diese Selbsterfahrung sich selbst kennen- und verstehen lernt, alte unverarbeitete Konflikte aufarbeiten kann, Einsicht in unbewusste Zusammenhänge bekommt und sie dann in sein Alltagsleben trägt. Bei mir wurde all das nicht erreicht.

Analytiker würden jetzt sagen, das habe an meinem Widerstand gelegen. Gibt es aber tatsächlich Widerstand und Abwehr, sich mit den eigenen Abgründen zu beschäftigen, dann würde doch die Hauptaufgabe des Analytikers darin bestehen, die unbewussten Anteile der Persönlichkeit bewusst zu machen, um dann durch Nacherleben – mit dem Therapeuten in der Übertragungssituation – tiefgreifende Veränderungen der bestehenden Charakterstrukturen zu erreichen. Dies wäre bei mir sicher sinnvoll und notwendig gewesen. Allerdings hätte ich dafür einen aktiven und auch konfrontierenden Therapeuten gebraucht – und nicht eine passive, hinter mir sitzende Person, die mit Gegenfragen antwortete oder in freischwebender Aufmerksamkeit verharrte. Außerdem kann man nicht oft genug wiederholen, dass Verdrängung ein durchaus gesunder Prozess sein kann. Manche Ereignisse will das Gehirn gar nicht wissen und schützt sich durch Widerstand oder durch false memories .

Ich weiß von Kollegen, dass sie diesen Teil ihrer Ausbildung ähnlich frustrierend erlebt haben wie ich. Wer sich in der Ausbildung auflehnt, läuft Gefahr, nicht weiterzukommen. Also beißen die meisten die Zähne zusammen – so wie ich es damals auch getan habe –, und es ändert sich wenig.

Die Welt entwickelt sich weiter, wir haben heute Erkenntnisse, die es im 20 . Jahrhundert noch nicht gab – aber die Ausbildungsrichtlinien haben sich bei den Analytikern fast überhaupt nicht verändert. Alle Psychoanalytiker orientieren sich nach wie vor an den ehernen, wie in Stein gemeißelten Geboten: Abstinenz, Neutralität und Anonymität. Das haben alle auswendig gelernt wie das kleine Einmaleins. Dahinter steckt: kein Eigennutz in Therapien, nicht bewerten, sich nicht persönlich zeigen. Parallel hat sich aber durch die Psychotherapieforschung bestätigt, dass Bindung und eine warmherzige, persönliche Beziehung der Kern- und Angelpunkt einer gelingenden Therapie sind.

Wir haben nun bei den Analytikern folgende schwierige Situation: Die einen kleben an dem fest, was sie einmal gelernt haben, manche sind unpersönlich und streng – man könnte sie fast mit Robotern austauschen. Die anderen geben sich viel Mühe, die Therapie persönlicher zu gestalten, doch sie sind darin ungeübt, sie wissen gar nicht, wo die Grenzen sind – so wie jener, vielleicht sogar wirklich wohlmeinende Therapeut, der den Kopf seiner Patientin in seinen Schoß legte, um ihr das Gefühl von Geborgenheit zu geben. Über diesen Konflikt müsste in der Ausbildung gesprochen, das Thema »Grenzen« müsste diskutiert werden. Stattdessen lernen werdende Analytiker ganz, ganz viel Theorie – das aber, worauf es ankommt, Selbstreflexion, Mut, Kontaktfähigkeit, müssen sie sich in teuren Zusatzkursen aneignen. Das wiederum tun aus Kostengründen die wenigsten.

So bleibt alles beim Alten. Und das ist auch nicht neu. Dieser Gedanke kann einem kommen, wenn man liest, was Johann Wolfgang von Goethe schon Anfang des 19 . Jahrhunderts über Forschung und Wissenschaft geschrieben hat:

»Es wird aber in den Wissenschaften auch zugleich dasjenige als Eigentum angesehen, was man auf den Akademien überliefert, erhalten und gelernt hat. Kommt nun einer, der was Neues bringt, das mit unserem Credo, das wir seit Jahren nachbeten und wiederum anderen überliefern, in Widerspruch steht und es wohl gar zu stürzen droht, so regt man alle Leidenschaften gegen ihn auf und sucht ihn auf alle Weise zu unterdrücken. Man sträubt sich dagegen, wie man nur kann; man tut, als höre man nicht; man spricht darüber mit Geringschätzung, als wäre es nicht der Mühe wert, es nur anzusehen und zu untersuchen; und so kann eine neue Wahrheit lange warten, bis sie sich Bahn macht.« 4

Ich wiederhole es: Die Kassen müssten endlich reagieren und nicht mehr die Kosten für Analysen übernehmen, zumindest nicht mehr für solche, die sich viel zu lange hinziehen. Weder bei den Krankenkassen noch bei den Fachgesellschaften wird die Qualität von psychoanalytischen Behandlungen überprüft. Und selbst ausgewiesene Gutachter können nicht bestimmen, wann sie sinnvollerweise beendet sind. Inzwischen wird versucht, psychoanalytische Behandlungen in Studien zu evaluieren und zu validieren. Das ist aber schwierig, weil man als Vergleichsgruppe Patienten mit gleichen Störungsbildern nehmen müsste, die in der gleichen Zeit zu jemandem gehen, der keine Ausbildung als Psychoanalytiker hat, aber einfach ein guter Zuhörer ist.

In den USA wird eine Kurzzeitanalyse angeboten, sie ist auf sechs bis acht Stunden beschränkt. Das halte ich für eine gute Idee. Da wird analysiert, worum es im Moment geht. Keine Kasse bezahlt dort mehr eine klassische Analyse. Sie wird eigentlich nur von sogenannten »Yavis-Patienten« (young, attractive, verbal, intelligent, successful ) in Anspruch genommen, die sich das finanziell leisten können, also von Menschen mit den Attributen »jung, attraktiv, kommunikativ, intelligent und erfolgreich«. Bitte sehr, warum nicht. Wenn niemand ihnen vorgaukelt, dass das gegen schwere Probleme hilft, es vielmehr darum geht, sich als einer Art Hobby mit seiner eigenen Geschichte zu befassen, dann habe ich da gar nichts dagegen. Wer einigermaßen gesund ist, hat ja die Zügel in der Hand, er weiß, was er tut und wann er sich wieder von etwas verabschiedet.

Es ist wie bei denen, die sich in die Hände eines Schönheitschirurgen begeben. Muss nicht sein, schafft Abhängigkeiten, kostet Unsummen, macht das Leben manchmal eher noch schwerer als einfacher – aber wer das bezahlen will und keinen besseren Zeitvertreib findet, der soll es ruhig machen.

Anmerkung zum Kapitel