11. Die Zukunft der Souveränität

An diesem besonderen 27. November 2022 fuhren die drei Abendländer-Töchter mit ihren Familien zum Haus der Eltern, um alle gemeinsam den besonderen Geburtstag des Vaters, den 90., zu feiern. Alle drei Töchter waren inzwischen Großmütter geworden. Birgit hatte zwei Enkelinnen, sieben und fünf Jahre alt, Cäcilia einen Enkel, vier Jahre, sowie eine zweijährige Enkelin, und die Jüngste, Dora, einen drei Monate alten Enkel. Birgit, die Psychiaterin geworden war und zuletzt eine große Klinik geleitet hatte, war seit einem Jahr pensioniert. Cäcilia bereitete schon ihren Abgang vom Konservatorium vor, das sie noch leitete, um ebenfalls in Pension zu gehen. Und Dora wollte noch einige Zeit als Politikerin weitermachen.

„Es hat sich so viel verändert, seitdem ich vor fast 50 Jahren von Zuhause wegging“, dachte Birgit während der Fahrt. „Wenn ich mir überlege, wie viel Überzeugungskraft ich und meine Mutter, diese stille Heldin der ganzen Jahre, gebraucht haben, um Papa damals dazu zu bewegen, mir das Studium zu erlauben … Es ist viel passiert. Die Lage der Frau ist nicht vergleichbar mit der in der Generation meiner Mutter. Und es ist auf dem besten Weg, noch besser zu werden!“

Der alte Herr Pfarrer war schon gegangen, als fast gleichzeitig die Familien der drei Schwestern vor dem Elternhaus eintrafen. Dort angekommen lief die kleine Emilie, Birgits ältere Enkelin, gefolgt von ihrer jüngeren Schwester und Birgit und dann vom Rest der Familien in das Haus der Großeltern. Dort trafen sie Anna auf einem Stuhl sitzend an. Neben ihr im Sessel saß der Jubilar, noch in seinem Hausmantel und mit einem geschlossenen Buch auf dem Schoß. Als die beiden Enkelinnen und der Rest der Familie eintraten, öffnete Herr Abendländer seine Augen, lächelte alle kurz an, während die Neuankömmlinge fröhlich ein „Happy Birthday to you“ sangen. Mit leiser Stimme sagte er: „Danke, danke … wie schön, wie schön, dass ihr hier seid …“ und schloss nach kurzer Zeit wieder die Augen. Diskret zogen sich alle zurück und ließen Anna mit ihrem Mann allein. Eine Weile später rief Anna nach ihnen und bedeutete, sie sollten ins Zimmer kommen. „Opa ist friedlich eingeschlafen, mit einem Lächeln im Gesicht. Eingeschlafen für immer“, murmelte sie leise und traurig, während ihr die Tränen die Wangen hinabliefen. „Mit seinem Buch auf dem Schoß“, fügte sie mit zitternder Stimme hinzu. „Offensichtlich hat er es geschafft, es bis zu Ende zu lesen. Unsere Freundin Martina hat es ihm bei ihrem Besuch vor einigen Wochen geschenkt. Seitdem hat er sich von diesem Buch kaum getrennt“, fuhr sie fort und deutete auf das Buch. Mit großen grünen Buchstaben sprang der Titel der letzten Lektüre des Andreas Abendländer ins Auge: „Das andere Geschlecht“. Und mit kleineren schwarzen Buchstaben der Untertitel: „Sitte und Sexus der Frau“. Autorin: Simone de Beauvoir. „Seine letzte Lektüre“, sagte Anna. Und, nach einer kleinen Pause: „Ich möchte aber gerne wissen, wie es weitergeht“, hat er, kurz bevor er vor uns gegangen ist, gesagt. „Und vor allem, wie es ausgeht.“

Der neue Spieler auf der Spielwiese ist eine Spielerin

Der Feind ist noch in der Stadt, das war unsere letzte Feststellung. Manchmal macht er sich unsichtbar, sich hinter „unsichtbaren Frauen“ versteckend. Die hochdekorierte britische Journalistin Caroline Criado-Perez vertritt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ die Auffassung – und belegt sie mit detailreicher Akribie –, dass in wissenschaftlichen Daten eine geschlechterbezogene Lücke zu Ungunsten der Frau bestehe. Sie nennt es „Gender Data Gap“ (S. 11). Die Hälfte der Menschheit sei dabei einfach vergessen worden (S. 47). Infolgedessen entstünden in den verschiedensten Bereichen, etwa in der Medizin, der Technologie, der Stadtplanung und im sonstigen öffentlichen Leben, Benachteiligungen für die Frauen, manchmal sogar lebensbedrohliche. Somit seien Frauen immer noch – selbst in unserer hochrationalen, zunehmend von unparteiischen Supercomputern gesteuerten Welt – „das andere Geschlecht“, von dem Simone de Beauvoir vor langen Jahren, 1949, sprach (S. 16). Eine andere Folge, die das Phänomen „unsichtbare Frauen“ begleite, sei, dass wir die damit verbundene Diskriminierung der Frau nicht wahrnehmen (S. 414). Das ist wohl eine der Methoden, mit der sich der Feind in der Stadt ans Werk macht: Er macht die Frauen unsichtbar und gleichzeitig auch sich selbst.

Es gibt allerdings viele, die ihn doch fast immer sehen – auch in den „Dingen“. Genauer gesagt: im „Patriarchat der Dinge“. Was Rebekka Endler so nennt, sei schuld daran, dass die Welt für Frauen nicht passe, meint sie. Sie zählt mehrere Beispiele auf, etwa Barrieren in der Sprache (S. 19 f.), in Berufsbezeichnungen (S. 27 f.), im Straßen- und Städtebau (S. 43 f.), im technologischen Bereich (S. 79 f.) ebenso wie in Weltraummissionen (S. 127 f.). Und sie listet noch vieles andere in langen Aufzählungen auf. Alles sei noch „patriarchalisch“ – d. h. frauenfeindlich – ausgerichtet. Aber bitte gut aufpassen! Der Feind in der Stadt versteckt sich nämlich auch hinter Übertreibungen seiner Feinde.

Wird der antigynäkophile Feind eines Tages vollständig verschwinden? Jede Voraussage in Sachen Zukunftsforschung ist nur bedingt treffsicher. Trotzdem, es kann doch gewagt werden, die Frage von Herrn Abendländer, die auch unsere Frage ist, zu beantworten: „Wie geht es weiter und wie wird es ausgehen?“ Dafür ist es vielleicht hilfreich, die Ur-Umstände, die zur Entwicklung von gleichwertigkeitsverneinenden Rahmenbedingungen führten, so wie wir sie im 3. Kapitel kennengelernt haben, ganz kurz in Erinnerung zu rufen: Die geschlechtsspezifische Vulnerabilität der Frau war ein Frühfaktor, der zur Entstehung der Verneinung der Gleichwertigkeit der Geschlechter wesentlich beigetragen hat. Diese Situation blieb praktisch unverändert bis in das 20. Jahrhundert der Neuzeit. Etwa in seinem letzten Drittel begann aber eine sichtbare frauenfreundlichere Wende.

Es heißt noch einmal Eulen nach Athen tragen bei der Feststellung, dass viele Faktoren gemeinsam die dafür günstigen Bedingungen geschaffen haben. Am häufigsten werden wirtschaftliche und soziale Veränderungen erwähnt, wie auch die Steigerung des allgemeinen Bildungsniveaus, insbesondere bei den Frauen. Einen entscheidenden Schub für die Gleichberechtigung jedoch lieferte die Verminderung der geschlechtsspezifischen Vulnerabilität der Frau.

Dazu beigetragen hat der weitgehend erfolgreiche, wenn auch noch nicht ganz gewonnene Kampf der Frau um die Souveränität über ihren eigenen Körper. Jahrtausendelang war die Frau nicht Herrin ihres eigenen Körpers. Die Religion, die Gesellschaft, die Kirche, der Staat, die Familie, der Ehemann, der Mann insgesamt – alle meldeten Ansprüche an und übten Macht über den Frauenkörper aus. Nur seine Besitzerin hatte kaum eine physische, geschweige denn juristische Souveränität über ihn. Solange diese Situation unverändert blieb, war auch die Autonomie der Frau begrenzt. Margaret Sanger (1879–1966), eine amerikanische Vorkämpferin für die volle Autonomie der Frau, formulierte es zutreffend: „Eine Frau, die den eigenen Körper nicht besitzt oder kontrolliert, kann sich nicht frei nennen.“274 Die Souveränität über den eigenen Körper ist der Kern der Gesamt-Souveränität der Frau. Darin liegt auch der Schlüssel zur Freiheit. Frauenrechte mit eingeschränkter Souveränität über den eigenen Körper sind eingeschränkte Frauenrechte. Mit der Souveränität über den eigenen Körper wird zwar die geschlechtsspezifische Vulnerabilität der Frau nicht vollständig beseitigt, aber entscheidend vermindert. Naturgegeben wird sie durch manche weiblichen Spezifika, etwa Schwangerschaft und Geburt, weiter existieren. Nichtsdestotrotz, je mehr Eigenkörper-Souveränität gewonnen wird, desto weniger frauenspezifische Vulnerabilität bleibt übrig – und umso größere Autonomie wird gewonnen.

Eine entscheidende Rolle in dieser Sache spielten die neuen Möglichkeiten der Empfängnisverhütung und die damit verbundene Geburtenkontrolle, vor allem durch die Entdeckung der hormonellen Kontrazeptiva, der „Pille“. Ihre Entwicklung ist nicht frei von Symbolik. Sie symbolisiert eine Allianz zwischen Gleichwertigkeitsbestrebungen, weiblicher Innovationsfreudigkeit und Wissenschaftsfortschritt. Es lohnt sich, einen Blick auf die symbolträchtige Erfolgsgeschichte dieser Allianz zu werfen:

Die vorher erwähnte amerikanische Frauenrechtlerin Margaret Sanger, Krankenschwester von Beruf und Urheberin des Spruchs: „Eine Frau, die den eigenen Körper nicht besitzt oder kontrolliert, kann sich nicht frei nennen“, gründete im Jahre 1921 die „American Birth Control League“. Ihr Ziel war es, Frauen über Möglichkeiten der Verhütung aufzuklären und die Gesetzeslage zu ändern. Zu dieser Zeit war auch die Verwendung der damals noch einfachen Verhütungsmittel, wie etwa Kondome oder Pessare, mit Hindernissen verbunden. So war es etwa in den USA verboten, sie per Post zu verschicken. Nach einem Vortrag von Margaret Sanger begann ihre Freundschaft zu der vermögenden Biologin Katharine McCormick, ebenfalls eine Frauenrechtlerin. Im Jahre 1953 lernte Sanger den Endokrinologen Gregory Pincus kennen und animierte ihn zur Entwicklung eines hormonellen Mittels zur Schwangerschaftsverhütung, eines Kontrazeptivums. Das nötige Geld, zwei Millionen US-Dollar, stellte ihre Mitkämpferin Katharine McCormick zur Verfügung. In der Tat gelang es Pincus und seinem Kollegen John Rock, ein solches Mittel zu entwickeln. Im Jahr 1957 wurde es in den USA zugelassen – zunächst allerdings als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden und erst im Jahr 1960 auch als Verhütungsmittel. Übrigens wurde das große Anliegen Margaret Sangers, die Legalisierung von Verhütungsmitteln in den USA, wenige Monate vor ihrem Tod erfüllt: 1965 erklärte der Oberste Gerichtshof der USA das Verbot von Mitteln zur Schwangerschaftsverhütung als verfassungswidrig.

1961 kam die Pille auch nach Deutschland, ebenfalls zuerst als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden. Ihre Verhütungswirkung tauchte als „Nebenwirkung“ im Beipackzettel auf. Die Pille durfte nur verheirateten Frauen mit mehreren Kindern verschrieben werden. Ihre Einführung spaltete die deutsche und die gesamteuropäische Gesellschaft. Während die einen es bejubelten (das Magazin „Stern“ zum Beispiel bezeichnete die deutsche Markteinführung als einen „historischen Tag“ und „gewaltigen Schritt nach vorn“), verteufelten es andere, vor allem die Kirchen. Papst Paul VI. verurteilte schärfstens die künstlichen, darunter auch die hormonellen Verhütungsmittel – diese würden den außerehelichen Geschlechtsverkehr befördern und zur „allgemeinen Aufweichung der sittlichen Zucht“ beitragen. Auch gleichgesinnte deutsche Ärzte warnten in einer „Ulmer Denkschrift“ von 1964 vor einer „wachsenden Sexualisierung unseres öffentlichen Lebens“. Dennoch, der Siegeszug der Pille war nicht aufzuhalten, ihre gewaltigen (erwünschten) gesellschaftlichen Nebenwirkungen auch nicht: zum Beispiel stieg noch in den 1960er-Jahren die Zahl der Abiturientinnen und Akademikerinnen sprunghaft an.275

Das war in der Tat ein gewaltiger Schritt in Richtung Erlangung der Souveränität der Frau über ihren Körper und eine deutliche Verminderung ihrer geschlechtsspezifischen Vulnerabilität. Frauen sind seitdem „erstmals in der Geschichte nicht mehr Gefangene ihres Geschlechts, mit ständigen Schwangerschaften, Fehlgeburten, Stillzeiten sowie mit der Erziehung des Nachwuchses beschäftigt. Sie haben in den meisten europäischen Ländern die Freiheit, zwischen einem Leben mit oder ohne Kinder, mit oder ohne Beruf zu wählen, oder sie können, bei allen Schwierigkeiten, beides miteinander verbinden.“ – So die Frauenbiografin Marit Rullmann.276 Und so schließt sich der Kreis: Die Vulnerabilität der Frau wurde für die These von der Ungleichwertigkeit der Frau missbraucht, wie wir im Abschnitt „Großes Missverständnis …“ des 3. Kapitels erkannt haben. Die Verminderung dieser Vulnerabilität läutete dann den Beginn vom Ende der Mär von der weiblichen Inferiorität ein.

Die Frau wurde zur Spielmacherin im Spiel „Souveränität der Frau“. Aber sie hatte von Beginn an mächtige Gegenspieler. Zwei davon, in zwei gegenüber liegenden Ecken lauernd, sind in ihrem Versuch, die neue Spielmacherin auszubremsen, sehr ernst zu nehmen. Es sind:

Die Männlichkeitsproblematik – aus der männlichen Ecke.

Und der Käfig des eigenen Geschlechts – aus der weiblichen Ecke.

Die Männlichkeitsproblematik der Senatoren

Beide Gegenspieler sind nicht institutionsmäßig gefördert. Sie lauern auch da, wo kein Amtsschimmel wiehert. Gesellschaften, die ihr geschlechterdiskriminierendes amtliches Gerüst größtenteils oder gar bereits vollständig abgebaut haben, praktizieren deshalb noch lange keine vollständige Gleichberechtigung der Geschlechter. Die subtilste Benachteiligung der Frau im „Heute“ ist sogar amtsschimmelfrei. Sie wird nicht amtlich verordnet, sie nistet in den Köpfen der Menschen. In denen von Männern und, paradoxerweise, in denen von manchen Frauen.

Die Motivkonstellation des ersten Gegenspielers, das ist die Männlichkeitsproblematik, ist psychologisch leicht zu erklären. Erlauben Sie mir bitte, eine diesbezügliche persönliche Erfahrung mit Ihnen zu teilen:

Die Regierung des Bundeslandes, in dem ich damals eine Universitätsabteilung leitete, rief zu Beginn der 1990er-Jahre ein Programm ins Leben, das den Zweck hatte, die damals sehr unterentwickelte Frauenforschung an den Universitäten des Landes in den verschiedensten Bereichen, auch in der Medizin, zu fördern. Weil meine Abteilung vor allem durch das Engagement einer Mitarbeiterin bereits zu dieser Zeit einiges zur medizinischen Frauenforschung geleistet hatte, beteiligten wir uns an der Ausschreibung und beantragten eine Professur. Wir waren erfolgreich und bekamen die Zusage. Die Förderung durch das Ministerium deckte die vollen Kosten für eine Professur mit entsprechender Personal- und Sachkosten-Ausstattung für fünf Jahre. Jede Universität freut sich sehr über so etwas. Wir auch. Die Annahme des Angebotes der Landesregierung musste aber vom Senat der Universität genehmigt werden, der zur damaligen Zeit klar männlich geprägt war; Senatorinnen waren eine sehr kleine Minderheit. Die Annahme der ministerialen Förderung erwies sich zu unserer Überraschung aber als gar nicht so einfach. Manche Senatoren waren dagegen. Sie argumentierten nicht damit, dass nach den fünf Jahren Kosten auf die Universität zukommen würden. Sondern damit, dass eine solche Förderung der Frauenforschung eine Diskriminierung für die Männer bedeuten würde. Dass die Frauenforschung in der Medizin, nicht nur unserer Universität, zu der damaligen Zeit völlig unterentwickelt war, spielte offensichtlich keine Rolle. Die Landesregierung, so die Forderung einiger Senatoren, sollte doch parallel und als Gegengewicht ein Programm zur Unterstützung der Männerforschung ins Leben rufen. Manch einer argumentierte auch damit, dass das Vorhaben verfassungswidrig sei. Es verstoße gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Und das zu einer Zeit, in der der Anteil von Professorinnen an den Universitäten wahrlich mickrig war, bedeutend niedriger als jetzt.

Schön, dass der Senat unser Anliegen und die Förderung des Ministeriums letztendlich doch mehrheitlich genehmigte. Meine engagierte, Gleichwertigkeit ausstrahlende Mitarbeiterin, eine Paradigma-Frau, wurde auf die Professur berufen und damit auch zur ersten Leiterin eines neu gegründeten Bereiches der Medizinischen Fakultät, in dem die Erforschung spezieller Frauenthemen im Vordergrund stand; des ersten derartigen in Deutschland überhaupt. Schön, dass sie als „Brückenbauerin, die viele Menschen aus unterschiedlichen Fachgebieten für die Gynäkologische Psychosomatik motiviert und begeistert hat“ gesehen wurde, und schön auch, dass „sie sich streitbar eingesetzt [hat] für die Belange von Frauen, die eine fachübergreifende psychiatrisch-gynäkologisch-psychosomatische Betreuung brauchen“. So lautet ein Abschnitt aus der Laudatio anlässlich der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft ihrer Fachgesellschaft an sie im Jahre 2020, nachdem sie entscheidend zur Befestigung dieses frauenzentrierten Bereiches beigetragen hatte. Schön, dass dieses gynäkophile Projekt realisiert wurde. Und schön auch, dass letzten Endes die Mehrheit des Senats die dagegen Agierenden überstimmt hat.

Warum argumentierten manche Senatoren gegen ein solches Vorhaben, zumal es die Universität thematisch, personell und materiell stärken sollte? Zwei Erklärungsmodelle bieten sich an: Das erste besagt, dass die Senatoren echte Sorge gehabt haben könnten, dass eine solche und auch ähnliche Frauenförderungen mittel- oder langfristig zur Benachteiligung und Verdrängung der Männer führen könnten. So ein Motiv ist nicht sehr unwahrscheinlich, auch wenn wenig nachvollziehbar. Allerdings ist ein zweites Erklärungsmodell auch nur schwer von der Hand zu weisen. Es ist die Annahme, dass ihre Haltung Ausdruck einer psychologisch motivierten latenten oder camouflierten antifeminischen Einstellung war. Eine antifeminische Haltung ist konsequenzenreicher und gravierender als eine antifeministische. Antifeminisch bezieht sich nämlich auf die Frau mit all ihren Eigenschaften, antifeministisch dagegen auf eine Bewegung, eine Ideologie und eine Haltung: den Feminismus.

Eine antifeminische Haltung ist diejenige Haltung, die eine Ablehnung der Frau und ihrer Interessen bis hin zur offenen Feindschaft beinhaltet.

Die Gründe, warum eine solche antifeminische Haltung bei Männern noch existiert, trotz der Verschiebungen im Referenzrahmen unserer Gesellschaft, die wir im Abschnitt „Der Rahmen, in dem wir eingeschlossen sind“ des 9. Kapitels beobachten konnten, ist vorwiegend in einer Männlichkeitsproblematik zu suchen. Natürlich einer nicht zugegebenen, häufig von den Betroffenen selbst nicht bewusst wahrgenommenen. Die Männlichkeitsproblematik, die zur antifeminischen Haltung führen kann, hat viele Ursachen und viele Gesichter. Sie reicht von einer ungelösten persönlichen, sexuell getragenen Problematik bis hin zum weiterreichenden narzisstischen Gehabe. Die antifeminische Haltung von Männern, vor allem von denen in lenkenden Positionen, hat viel mit hegemonialer Männlichkeit zu tun.

Hegemoniale Männlichkeit nach dem Konzept der australischen Soziologin Raewyn Connell (vormals Robert Connell) identifiziert sich mit Macht. Hegemoniale Männlichkeit wird zur Männlichkeitsproblematik, wenn Entmachtungsängste auftauchen. Dabei mischt sich überindividuelle Verdrängungsangst mit individueller Entmännlichungs- und sonstiger Männlichkeitsproblematik. Entmännlichung bedeutet Abschwächung oder gar Verlust der Eigenschaften, die die Männlichkeit ausmachen.* Die Entmännlichung des modernen Mannes habe mit der Industrialisierung angefangen und sich durch die rasche Entwicklung der Technik verstärkt, sagt etwa Walter Hollstein in seinem Requiem auf die Männlichkeit („Was vom Manne übrig blieb“, 2008, S. 60–68). Seitdem gebe der Mann „seine Ganzheit“ auf und unterstelle ein Teil von sich den Gesetzen der Technik. Seine männliche Kraft werde von den Maschinen übernommen. Im Verlauf der Zeit habe der Mann einige seiner „Eigenschaften an die Frau delegiert“. Nach einer langen Entwicklungskette sei das traditionelle Selbstverständnis des Mannes durch den Feminismus und nachfolgende frauenfreundliche Zustände endgültig unterminiert. Resultat des Entmännlichungsprozesses seien für den Mann Verwirrung, Orientierungslosigkeit und ein gänzlich brüchiges Männerbild.277 Na ja … „Im Laufe der Zeit hat doch der Mann einige seiner Eigenschaften an die Frau delegiert … auch leitende Positionen in den Universitäten“, hätten möglicherweise einige Universitätssenatoren in unserem Falle gedacht und hätten sich verpflichtet gefühlt, die Bastionen der Männlichkeit zu verteidigen. Offensichtlich sind die Entmännlichungsängste bei Teilen der Männerwelt noch nicht überall und nicht vollständig austherapiert. Halten wir zurzeit fest, dass der Mann mit der Männlichkeitsproblematik immer noch ein ernstzunehmender Gegenspieler zur neuen Spielmacherin im Spiel um die Gleichwertigkeit der Geschlechter ist.

Aber nicht nur der Mann. Auch manche Frau. Allerdings in einer anderen Weise.

Die Freiwilligkeit meiner Mitarbeiterin

Der zweite Gegenspieler der neuen Spielerin scheint weiblich zu sein, zumindest oberflächlich betrachtet. Denn die Frauen werden verdächtigt, „gegen die Souveränität der Frau“, gegen ihre eigene Souveränität zu spielen. Der Verdacht lautet: Die Frau trägt aktiv oder passiv Mitverantwortung für eine besondere Form von Frauenbenachteiligung. Diese Form der Frauenbenachteiligung ist keineswegs amtlich verordnet. Im Gegenteil, manche amtlichen Maßnahmen versuchen, die Frau davor zu schützen. Ich möchte Sie einladen, folgender Szene beizuwohnen. Es ist eine Szene, die ich nicht so selten erlebt habe – vermutlich viele andere auch. Insofern ist die Szene durchaus repräsentativ:

Die tüchtige, vielversprechende, junge wissenschaftliche Mitarbeiterin kannte ich schon während ihres Studiums. Sie war eine sehr motivierte, intelligente Studentin, die Höchstleistungen erbrachte. Als sie sich um eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in unserer Universitätsklinik bewarb, freute mich das sehr, und ich wollte gerne etwas über ihre akademische Lebensplanung hören. Promovieren wäre die erste Stufe, sagte sie, danach wolle sie weiterforschen und die Habilitation anstreben. Sie sei sehr an wissenschaftlicher Forschung und einer akademischen Tätigkeit interessiert.

Etwa zwei Jahre nach dem Beginn ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit war die vielversprechende junge Ärztin zum ersten Mal schwanger. Sie ging in Mutterschutz und plante, danach Elternzeit zu nehmen. Als ich ihr bei der Verabschiedung alles Gute wünschte, fragte ich diskret und vorsichtig, ob sie sich die Elternzeit mit ihrem Mann teilen werde. „Oh, nein“, antwortete sie, mein Mann schreibt gerade an seiner Doktorarbeit, und ich will ihm den Rücken freihalten, bis er damit fertig ist.“ – „Und das ist auch in Ihrem Sinne?“, fragte ich vorsichtig nach. „Oh, ja! Das mache ich ganz freiwillig und gerne …“, antwortete sie und lächelte dabei.

Nach über einem Jahr kehrte sie auf ihre alte Stelle zurück. Allerdings waren ihre Leistungsmöglichkeiten nicht mehr so wie früher. Sie musste pünktlich nach Hause, um sich um das Kind zu kümmern. Sie hatte häufiger Fehlzeiten, weil das Kind die eine oder andere Kinderkrankheit hatte und Ähnliches. Währenddessen waren ihre Kollegen weiter wissenschaftlich aktiv und arbeiteten an ihren Karrieren. Etwa zwei Jahre danach wurde sie zum zweiten Mal schwanger. Bei der Verabschiedung und nach den guten Wünschen fragte ich wieder diskret und vorsichtig, ob ihr Mann, nachdem er mit der Doktorarbeit fertig war, sich dieses Mal die Elternzeit mit ihr teilen würde. „Oh, nein. Mein Mann ist gerade in einem habilitationsträchtigen Projekt tätig, das einige Jahre dauern wird, und ich will ihm den Rücken freihalten, bis er damit fertig wird. Er hat gute Chancen, sich zu habilitieren.“ – „Auch diesmal freiwillig?“, fragte ich wieder, vorsichtig und höflich. „Ja, natürlich, freiwillig …“, antwortete sie und lächelte auch diesmal.

Als sie nach mehr als einem Jahr erneut zurückkehrte, waren ihre Leistungsmöglichkeiten noch eingeschränkter. Mit zwei Kleinkindern … Familie … und so … Ihre Kollegen, mit denen zusammen sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit begonnen hatte, waren inzwischen weit fortgeschritten. Für ihre Karriere blieb der Kollegin jedoch kaum noch Zeit. Und zum Schluss kam sie, um mir mitzuteilen, dass inzwischen alles viel zu viel für sie geworden sei. Solange die Kinder klein seien, wolle sie nur in Teilzeit in einer Poliklinik außerhalb der Universität arbeiten, und dann, wenn die Kinder älter seien, eventuell in die Praxis eines niedergelassenen Kollegen einsteigen. Sie verließ die Universität. Und begrub ihre Karriereträume.

Freiwillig! Freiwillig?

Falls Sie das Buch „Es geht nur gemeinsam! Wie wir endlich Geschlechtergerechtigkeit erreichen“ von Jutta Allmendinger, der Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung, aus dem Jahr 2021 gelesen haben, denken Sie bitte nicht, dass ich mich von Seite 14 des Buches für das obige Beispiel inspirieren ließ. Die von mir beschriebenen Szenen sind authentisch. Die große Ähnlichkeit zwischen der Arbeitsphilosophie, die in der Zeit der Eltern von Jutta Allmendinger herrschte und die sie auf der erwähnten Seite beschreibt, mit der meiner Mitarbeiterin ist dennoch verblüffend. Ich hatte das Buch noch nicht gelesen, als ich diesen Abschnitt in erster Fassung schrieb, das tat ich erst später. Was die Autorin im genannten Buch beschreibt, fand in der unmittelbaren Nachkriegszeit statt. Es betraf ihre Eltern, beide in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts geboren. Was ich beschreibe, ereignete sich dagegen mehr als ein halbes Jahrhundert nach Ende des Krieges, zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Und solche Szenen gibt es wahrscheinlich immer noch häufig.

Die Ähnlichkeiten von Frauenbiografien, die dieselbe Autorin in einem anderen Buch, „Verschenkte Potenziale?“, dargestellt hat, welches ich ebenfalls erst nach der vorläufigen Fertigstellung dieses Abschnitts gelesen habe, sind bestätigend für meine Annahme, dass der Fall meiner Mitarbeiterin nicht unrepräsentativ für unsere Zeit ist. Bestätigend, weil es sich in dem zweiten Buch von Jutta Allmendinger um berufliche Biografien von Frauen handelt, die etwa so alt sind wie meine vielversprechende Mitarbeiterin damals, und die sich im gleichen Zeitraum abspielten. Zu nennen sind hier beispielsweise die Biografien der Biologin Anne (S. 118 f.), der Ärztin Jaana (S. 27), der Ingenieurin Mette (ebd.) oder die von Emily und Julia (S. 28 f.).Die Ähnlichkeit der Geschichte meiner Mitarbeiterin mit den vorher erwähnten Elternbiografien aus einer vergangenen Zeit und mit den erwähnten beruflichen Frauenbiografien von heute zeigt, dass sie keineswegs unrepräsentativ ist, weder damals noch heute.

Schauen wir uns einige sicherlich repräsentative Tatsachen an: Die Zahl der Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit nach der Geburt des ersten Kindes, spätestens aber nach der Geburt des zweiten Kindes unterbrechen, ist in Deutschland auch heute noch erheblich, trotz aller Modernisierungsprozesse. Der Anteil der Väter, die nach der Geburt eines Kindes länger als ein Jahr unterbrechen, ist dagegen mickrig. Und auch die Teilzeitquote bei erwerbstätigen Vätern mit minderjährigen Kindern im Haushalt ist im Vergleich zu Müttern vernachlässigbar.278

Ein nicht so unrepräsentativer Fall also, der Fall meiner Mitarbeiterin – ein Fall, wie ich ihn mehrfach erlebt habe. Jedes Mal machte ich mir Gedanken über die Gründe für dieses Phänomen und stellte mir die immer gleiche Frage: Freiwillig? Tatsächlich freiwillig?

Im Käfig des eigenen Geschlechts

Meine Mitarbeiterin sagte: „Ja!“ – „Ja, natürlich, freiwillig …“ Sie sagte, so nehme ich an, auch die Wahrheit. Aber wie viel Wahrheit steckt in dieser Wahrheit? Nützlich als Beantwortungshilfe scheint mir ein Phänomen, das die Soziologen „Entgrenzungsdynamik“ nennen.279 Mit Entgrenzung wird der Prozess gemeint, bei dem vormals feste, trennende Grenzen flexibel und durchlässig werden. Die Folgen der Entgrenzungsdynamik in den Geschlechterbeziehungen und in der Rollenverteilung sind fast überall anzutreffen, sowohl im beruflichen und sonstigen sozialen wie auch im privaten Bereich. Allerdings hat die Entgrenzungsdynamik bisher noch nicht alle Aspekte der Geschlechterbeziehungen vollständig erfasst. So gibt es, wie wir vorher schon gesehen haben, als Beispiel für die bisher unvollständige Entgrenzung noch immer viel mehr Frauen im Vergleich zu Männern, die einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Dies wird unter anderem auf die Auffassung – auch von Frauen – zurückgeführt, dass etwa Kinderbetreuung Sache der Mütter sei. Die Grenze steht noch, auch wenn sie durchlässiger geworden ist; die alte ist noch nicht abgerissen. Eine der Folgen davon ist unter anderem auch der Verdienstunterschied zwischen Frau und Mann. Natürlich zu Gunsten des Mannes.

Die unvollständige Entgrenzung in der sozialen Interaktion der Geschlechter ist vorwiegend geschuldet (a) den geschlechtsspezifischen Prädispositionen, (b) der Resistenz überlieferter Traditionen, (c) dem Verlangen, dass sich Frauen den maskulinen Images in der Berufswelt anpassen und (d) den archetypischen Überbleibseln. Schauen wir uns diese Aspekte etwas genauer an.

a) Geschlechtsspezifische Prädispositionen: Mit Prädisposition ist die besondere Empfänglichkeit oder Anfälligkeit für etwas Bestimmtes gemeint – so etwa für bestimmte Verhaltens- und Denkweisen oder Krankheiten. Anatomische und physiologische, insbesonders hormonelle geschlechtsspezifische Besonderheiten wurden schon in vorangegangenen Abschnitten erwähnt. Eine stärkere Nähe zum Kind, die wohl aus einem Zusammenspiel von biologischen, emotionalen, rationalen und sozialen Aspekten abgeleitet werden kann, wird ebenfalls der Frau zugerechnet. Dies führt wiederum zu einem sozialen Konsensus, in dessen Rahmen die Frau viel mehr Verantwortung und Zeit für die Erziehung des Kindes übernimmt. Alle diese geschlechtsspezifischen Besonderheiten könnten eine bewusste oder unbewusste Wirkung auf die soziale Rollenverteilung und die unvollständige Entgrenzung haben. Und dadurch können sie auch die „Freiwilligkeit“ der Frau mitbestimmen.

b) Resistenz überlieferter Traditionen: Die traditionelle Rollenaufteilung zwischen Frau und Mann hat sich zwar merkbar verändert, aber sie wurde nicht radikal durch eine andere ersetzt. Wir finden die althergebrachten Rollen in ihrer resistenten, wenn auch abgeschwächten Form im vorher erwähnten Konsensus zwischen den Geschlechtern wieder. Die Benachteiligte ist am häufigsten die Frau. Das steckt vermutlich auch hinter der „Freiwilligkeit“ unserer jungen Wissenschaftlerin.

c) Verlangen maskuliner Images für Frauen: In vielen Bereichen beruflichen Lebens werden von Frauen Verhaltensmuster und Lebensläufe wie die von Männern verlangt, so der Soziologe Michael Meuser. Frauen, die das aufweisen können, haben demnach bessere Chancen, an die berufliche Spitze zu gelangen. Leitbild sei in den meisten Unternehmen ein Mitarbeiter, dessen Leben um die Berufsarbeit und die berufliche Karriere zentriert ist, der alle anderen Lebensbereiche dem beruflichen unterordnet und prinzipiell immer verfügbar ist. Und so solle auch die Mitarbeiterin sein. Aufgrund der weithin ungebrochenen Zuständigkeit der Frauen für die Kinderbetreuung beeinträchtige dies ihre Karrierechancen, so Meuser. Finden wir nicht auch darin den „freiwilligen“ Verzicht der Wissenschaftlerin unseres „nicht so unrepräsentativen Falles“?

d) Archetypische Überbleibsel: Mit „Archetypus“ werden Grunddispositionen und Ausdrucksweisen menschlicher Vorstellungs-, Gedanken- und Handlungsmuster bezeichnet, die Inhalte eines kollektiven Unbewussten seien. Sie sollen sich auf Erfahrungen unserer Vorfahren gründen, die den Weg in Mythen, Märchen, Geheimlehren oder religiöse Erzählungen gefunden haben.280 Demnach sei die konsensuell akzeptierte, sanfte, zivilisierte „Freiwilligkeit“ – zumindest teilweise – die Fortsetzung von unbewussten uralten Rollen, nicht selten begleitet von leisen oder gar liebevoll anmutenden Tönen.

Alles in allem: „Die Diskriminierung ist strukturell und teilweise kaum sichtbar“, um einen Satz der Unternehmerin und Autorin Naomi Ryland zu verwenden (S. 273). Es sei also eine Freiwilligkeit mit begrenztem Freiwilligkeitsgehalt. Die dargestellten Konstellationen erinnern stark an den Befund eines der wichtigsten Soziologen des 20. Jahrhunderts, des schon erwähnten Franzosen Pierre Bourdieu. Er sah in der männlichen Herrschaft und in der Art und Weise, wie sie aufgezwungen und erduldet wird, das Beispiel einer „paradoxen Unterwerfung“ schlechthin, die ein Effekt dessen sei, was er „symbolische Gewalt“ nennt. Das sei eine sanfte, für ihre Opfer unmerkliche, unsichtbare Gewalt (S. 8).

Geht man von dieser Voraussetzung aus, muss man kritisch sein gegenüber den Annahmen der New-Yorker-Autorin Colette Dowling, die dem von ihr beschriebenen „Cinderella-Komplex“ zugrunde liegen. Damit beschreibt sie „ein Netz aus weitgehend unterdrückten Haltungen und Ängste, das die Frauen in einer Art Halbdunkel gefangen hält“. Dies sei verursacht durch „die stärkste Kraft, die die Frau heute unterdrückt“. Und das sei „die persönliche, psychologische Abhängigkeit – der tiefverwurzelte Wunsch, von anderen versorgt zu werden“ (S. 29). Colette Dowling sieht die Schuld und die Verantwortung bei den Frauen selbst, die Verantwortung für ihr Leben „in einer Art geschlechtsspezifischem Gefängnis, das sie selbst geschaffen haben“ (S. 30).

Nein, nicht die Frauen, sondern die Gründe für die unvollständige Entgrenzung zwischen den Geschlechtern, so wie sie in vorherigen Zeilen dieses Abschnittes definiert wurden, gehören zu den Baumeistern eines solchen Gefängnisses. Eines geschlechtsspezifischen Käfigs. Sie stellen die Eckpfeiler dar, an denen die Gitter des Käfigs des eigenen Geschlechts befestigt sind, in dem die Frau gefangen gehalten wird. Oder sie bauen die „unsichtbaren Mauern“, wovon die türkisch-deutsche Journalistin und Autorin Kübra Gümüşay in einem anderen abgrenzenden und ausgrenzenden Zusammenhang sprach: „,Sie sind nicht da, um mich zu schützen, sondern um andere vor mir zu schützen. Um Menschen wie mich auszugrenzen. Mir den Eintritt zu verwehren.‘ Ach, gäbe es bloß ein Wort. Einen Begriff, der ausdrückt, ob man innerhalb oder außerhalb einer Mauer steht. Ob sie einen Käfig für die Innen-Stehenden bilden oder einen Schutz vor den Außen-Stehenden“ (S. 22).

Übrigens stammt die Bezeichnung „Käfig des eigenen Geschlechts“ von einer bewundernswerten Frau, die nicht im Käfig des eigenen Geschlechts gehalten werden wollte. Nämlich von der deutschstämmigen Amerikanerin Amelia Earhart, einer Ikone der emanzipierten Frauen, die wir im nächsten Abschnitt etwas genauer kennenlernen werden. Die Bezeichnung darf uns nicht in die Irre führen und zu der Annahme verleiten, dass die Frau auch die Hauptkonstrukteurin dieses Käfigs sei. Die oben genannten Konstellationen, die dazu führten, sind seit Jahrtausenden vorwiegend von Männern erschaffen und auch heute noch weitgehend von einer männerdominierten Gesellschaft bestimmt. Solange die gesellschaftlichen Konventionen es nicht ermöglichen, dass die Frau ungeachtet dieser Einschränkungen selbst und souverän über ihr Schicksal entscheidet, wird sie weiter nicht vollständig autonom sein. Dies bedeutet auch, dass man akzeptieren und respektieren muss, wenn die Frau mit der aus ihren Entscheidungen resultierenden Lebensweise zufrieden ist.

Neue groß angelegte soziologische Studien, die Martin Schröder in seinem Buch „Wann sind Frauen wirklich zufrieden?“ ausführlich darstellt, könnten als Beleg für die Auffassung dienen, dass der Käfig des eigenen Geschlechts nicht in allen seinen Facetten und nicht immer negativ konstruiert ist. Schöder interpretiert solche Studien als Hinweis dafür, dass Wünsche, Bestrebungen, soziale Ziele und Erfüllungsideale von Frauen nicht vollständig identisch mit denen der Männer seien. Daraus würden Prioritäten resultieren, die vor allem von Frauen nicht immer als Einschränkung erlebt würden. Na ja, ein Käfig ist ein Käfig … ist ein Käfig. Wie auch immer, auch in diesem Zusammenhang gilt die alte Weisheit des Ritters Gawain, von der wir im Abschnitt „Lady Ragnell wusste es …“ des 10. Kapitels gehört haben, in vollem Umfang: „Niemand darf, Frau, über dein Schicksal entscheiden, sondern nur du alleine!“ Nur dann würde „freiwillig“ in der Tat freiwillig bedeuten.

Allerdings kann im Käfig des eigenen Geschlechts nicht nur die Frau, sondern auch der Mann eingeschlossen sein. Dessen Käfiggitter bestehen aus tradierten Männlichkeitsvorstellungen und -rollen. Eine bange Frage stellt sich: Kann der Käfig des eigenen Geschlechts über die Gefangenschaft hinausgehende Gefahren in sich bergen? Kann er sogar zur Todesfalle werden? Ganz besonders für die Frau? So wie etwa bei Alkestis?

Das Alkestis-Syndrom und der Ausbruch aus dem Käfig

Manche denken, Alkestis sei eine Vorzeigefrau und eine Heldin der Liebe, aber keineswegs ein Todesopfer des Käfigs des eigenen Geschlechts. Andere wiederum meinen, sie sei nicht nur die Personifizierung der „Nicht-Emanzipation der Frau“, sondern habe sich noch dazu im Käfig des eigenen Geschlechts dem Tode geopfert– wegen eines Mannes! Ein Schreckgespenst für die moderne emanzipierte Frau. Wie auch immer, die Kontroverse zeigt, dass sich die nähere Betrachtung des „Alkestis-Syndroms“ durchaus lohnt. Das „Alkestis-Syndrom“ (auch als „Alkestis-Komplex“ bezeichnet) hat seine Wurzeln in der frühen abendländischen Kultur. Schauen wir uns zuerst die Geschichte von Alkestis an, so wie sie uns die verschiedenen Variationen des griechischen Grundmythos erzählen, und vor allem, wie sie Euripides in seiner im Jahr 438 v. Chr. in Athen uraufgeführten gleichnamigen Tragödie überliefert hat. Die Erzählung bewegt viele Menschen bis heute. So ist es zu erklären, dass nicht nur andere antike Autoren, griechische und römische, den Stoff für literarische Werke verwendeten, sondern dass ihn auch in der Neuzeit Dutzende von Literaten und Komponisten von musikalischen Werken aufgegriffen haben. Die Geschichte von Alkestis kann auch uns, die an der Gleichwertigkeit der Geschlechter interessiert sind, nicht unbewegt lassen.

Thanatos, der Gott des Todes, kommt zu Admetos, dem jungen König von Pherä in Thessalien, Zentralgriechenland, um ihn zu holen. Manche sagen, Thanatos kam am Tag von Admetos Hochzeit mit seiner geliebten Alkestis. Der Tod des Admetos sei eine Bestrafung durch die Göttin Artemis gewesen, denn er habe sie bei Opfergaben vergessen.

Admetos gerät nach der Ankündigung des Todesgottes verständlicherweise in Panik, er hat schreckliche Angst vor dem Tod. Aber, was weder der Tod noch Admetos wissen: Der Gott Apollon will aus persönlicher Verbundenheit den gerechten, allseits beliebten und noch jungen, aber dennoch weisen König retten. Er hat bei den Moiren, den Schicksalsgöttinnen, interveniert und einen Kompromiss erzielt: Der Todesgott wird Admetos nicht mitnehmen, wenn jemand anderer bereit ist, für ihn zu sterben. Doch alle Angesprochenen lehnen es ab. Sogar Admetos greise Eltern.

Dann geschieht etwas Unerwartetes. Admetos junge Frau Alkestis steht ohne Zögern auf, geht stolzen und entschlossenen Schrittes auf den verzweifelten Admetos und den diskret lächelnden Thanatos zu. An den Tod und den Todeskandidaten gewandt bekundet Alkestis, dass sie bereit ist, anstelle ihres Mannes zu sterben – aus Liebe, aus wahrer Liebe, wie sie sagt. Beide, Thanatos und der thanatophobe Admetos, hören gleichermaßen sprachlos und überrascht dieses unerwartete Angebot.

Sie nehmen Alkestis Opfer ohne Widerspruch an. Doch der Todesgott reagiert darauf mit etwas ebenfalls Erstaunlichem – er lässt sich Zeit damit, die Todeskandidatin mitzunehmen. Der Tod will noch warten. Wann er kommen wird, lässt er im Ungewissen. Wie es auch sein mag, die Jahre vergehen. Alkestis und Admetos sind trotz des Damoklesschwertes über ihren Köpfen glücklich miteinander. Schließlich folgt das Unausweichliche. Thanatos kommt, wie angekündigt, um Alkestis in den Hades mitzunehmen, in das Reich der Toten. Admetos, der inzwischen bitter bereut, Alkestis Aufopferung angenommen zu haben, will unbedingt mit seiner geliebten Frau zusammen sterben. Doch er darf es nicht.

Die Aufopferung der liebenden Ehefrau beeindruckt nicht nur Admetos und die Menschen, sondern auch Götter und Halbgötter. Ganz besonders angetan und beeindruckt ist der Halbgott Herakles, Sohn des Gottvaters Zeus, der schließlich für ein Happy End sorgt. Nachdem er Admetos Liebe und Treue zu Alkestis geprüft hat und bestätigt findet, holt er Alkestis aus dem Reich der Toten ins Reich der Lebenden zurück.281

Alkestis Aufopferung bewegte alle, wie erwähnt, zumal niemand ein Happy End erahnen konnte – auch Alkestis und Admetos nicht. Eine fantastische Frau, diese Alkestis, nicht wahr?! Denken wir Männer. Kein Wunder also, dass Euripides, ein Mann, für Alkestis solche Adjektive findet wie „die beste Frau“, „die Edle“, „die Liebende“, und dass das Volk – im Theaterstück repräsentiert durch den Chor – seine Bewunderung für diese „beste, edle, liebende Frau“ uneingeschränkt zum Ausdruck bringt.

Ich habe die Alkestis-Legende in einer viel ausführlicheren Form vielen Freundinnen und weiblichen Bekannten zugeschickt und einigen von ihnen anschließend die Frage gestellt: „Würdest du das auch für deinen Mann tun?“ Die Antworten fielen sehr unterschiedlich aus. Aber eine sehr gute Freundin hat sofort und ohne Zögern mit ihrer Antwort den zentralen Punkt von dem, was man als Alkestis-Syndrom bezeichnet, getroffen. Diese Freundin ist eine scharfsinnige, mit vielen Begabungen beschenkte Frau. Sie ist intelligent, gebildet, resolut, durchsetzungsfähig, politisch aktiv, besitzt zwei Universitätsdiplome – und sie ist emanzipiert und selbstbewusst. Sie hatte also alle Voraussetzungen für eine glänzende berufliche und politische Karriere. Mit anderen Worten eine Paradigma-Frau. Auf meine Frage also, ob sie sich auch wie Alkestis für ihren Mann geopfert hätte, antwortete sie ohne Zögern und sehr überzeugt: „Das habe ich doch längst getan. Ich habe freiwillig meine Ambitionen und meine Chancen auf ein eigenes aktives berufliches und politisches Leben zu Gunsten meines Mannes und unserer gemeinsamen Familie zurückgestellt. Das war meine Aufopferung für ihn!“ Und genau das ist es. Das ist das Alkestis-Syndrom.

Das Alkestis-Syndrom (bzw. der Alkestis-Komplex) ist die freiwillige Zurückstellung der eigenen Interessen des einen Partners, in der Regel des weiblichen, zu Gunsten des anderen, in der Regel des männlichen.282

Nun aber stellt sich auch die Frage, ob eine Alkestis-Bereitschaft bei einer Frau ein Positivum ist, als Zeichen von Erhabenheit, oder ein Negativum, als ein Zeichen der Ergebenheit. Man kann sich vermutlich auf folgende Antwort einigen: Wenn eine Alkestis-Bereitschaft bei einer Frau (oder auch bei einem Mann) aus Liebe entsteht, darf es weitgehend als Positivum bezeichnet werden. Erfolgt aber eine solche Zurückstellung der eigenen Interessen, weil es vom Mann oder von der Familie bzw. dem sozialen Umfeld verlangt wird, dann ist das ein Negativum – denn es beeinträchtigt die Autonomie der Frau, schränkt ihre Entscheidungsfreiheit ein und ist möglicherweise auch als Ergebenheit, als Subordination, zu werten. Natürlich kann es zwischen den beiden Konstellationen auch Überschneidungen geben.

Ist die Tatsache, dass das Alkestis-Syndrom und der Käfig des eigenen Geschlechts – im vorher dargestellten Sinne – vorwiegend bei Frauen anzutreffen sind, ein Zufall? Nein, sicher nicht. Unterschiedliche psychologische Konstellationen zwischen Mann und Frau spielen dabei eine Rolle; aber ganz besonders die sozialen. Die amtsschimmelfreie Benachteiligung der Frau – das ist die, die fern jeder noch bestehenden frauenunfreundlichen institutionellen Regeln liegt – ist nämlich noch gesellschaftliche Realität. Sie wird aufrechterhalten durch eine Vielzahl psychologischer und sozialer Faktoren, wie sie in vorherigen Abschnitten beschrieben wurden. Und führt damit zu den immer noch vorhandenen Schwierigkeiten für Frauen, sich aus dem Käfig des eigenen Geschlechts zu befreien.

Amelia Earhart, diese außergewöhnliche Frau ist aus dem Käfig ihres eigenen Geschlechts ausgebrochen. Aber noch nicht alle Frauen haben das geschafft.

Das Ende einer Suche und eine Aufforderung an die Gleichberechtigungspessimisten

Nicht nur die Frauen, die aus dem Käfig des eigenen Geschlechts nicht ausbrechen konnten, fanden wir am Ende unserer Suche unterhalb der Spitze der Pyramide, sondern all diejenigen Frauen, die nicht dort angekommen sind – obwohl sie eigentlich dort hingehören. Alle die, die auf dem Weg stehen geblieben sind. Blockiert stehen geblieben. Und so dürfen wir uns nichts vormachen: Der Käfig des eigenen Geschlechts ist nur einer der Blockierer. Inzwischen wissen wir, dass für seine Entstehung die Frau die geringste Verantwortung trägt. Die blockierenden und verflechtenden Konstellationen sind vorwiegend von einer männerdominierten Gesellschaft erschaffen und geprägt. Wir haben bei unserer Suche auch die anderen Blockierer kennengelernt. Das waren die übrig gebliebenen gynäkophoben Ängste, die veränderungsresistenten überlieferten Traditionen, die archetypischen Überbleibsel, manche geschlechtsspezifischen Prädispositionen oder von den Frauen erwartete maskuline berufliche Images. All das führt für Frauen zu dem, was Carel van Schaik und Kai Michel als „das Gefühl der gläsernen Decke“ bezeichnen: „… das Gefühl, durch unsichtbare Kräfte eingeschränkt zu sein in ihrer körperlichen wie geistigen Bewegungsfreiheit, überall an Grenzen zu stoßen. Frauen ist nicht alles möglich, was Männern möglich ist. Für das Spiel des Lebens gelten verschiedene Spielregeln. Schlimmer noch: die Karten sind gezinkt.“284

Gewiss, inzwischen konnten manche Frauen die Spitze erreichen. Doch immer noch blockieren Hindernisse für viele von ihnen, die die Voraussetzungen und den Anspruch darauf haben, das letzte Stück des Weges. Auch Folgendes ist gewiss: Die Jahrtausende andauernde maskuline Angst vor den Frauen, die Gynäkophobie, ist noch nicht austherapiert. Dennoch. Die Funde bei unserer Suche berechtigen zum Optimismus. So kann man mit ziemlicher Sicherheit die Aussage machen: Die Prognose der Gynäkophobie ist weitgehend günstig. Vieles spricht dafür, dass es gut weitergehen wird. Und dass es auch gut ausgehen wird. Für die Frau und für den Mann.

Skeptische Gleichwertigkeitsbejaher – und vor allem zum Pessimismus neigende Gynäkophile – werden sich vermutlich fragen: Dürfen wir tatsächlich so optimistisch sein? Trotz allem, was wir bei unserer Suche entdeckt haben? Also trotz der Neo-Gynäkophobie, trotz der Panik in der Mannosphäre und trotz der Einschränkungen, die der Käfig des eigenen Geschlechts vorhält? Trotz des „Patriarchats der Dinge“? Trotz der „Unsichtbaren Frauen“, von denen wir im Abschnitt „Der neue Spieler …“ zu Beginn dieses Kapitels schon gehört haben? Und trotz der Besetzung der Pyramidenspitze mehrheitlich und disproportional durch Männer?

Ja, trotz all dem! Es wird gut weitergehen und gut ausgehen. So lautet die Antwort der pragmatisch orientierten Prognostiker. Das schon Erreichte spricht dafür. Es haben nämlich revolutionäre Veränderungen stattgefunden. In der Tat, revolutionäre, ohne Übertreibung. Der uns gut bekannte Welthistoriker Yuval Noah Harari hat sicherlich recht mit seiner Feststellung, die er in seinem Werk „Homo Deus“ macht, dass nämlich „die größte Konstante der Geschichte ist, dass sich alles verändert“ (S. 111). Sicherlich. Doch galt das für die Geschichte der Frauen bis zu Beginn des vorigen Jahrhunderts kaum – das mussten wir bei unserer Suche nach den nicht an der Spitze angekommenen Frauen feststellen. Bis dahin war die einzige Konstante in der Geschichte der Frauen die weitgehend konstante Stagnation. Aber seitdem und vor allem seit dem Eintritt in das 21. Jahrhundert sind epochemachende Veränderungen in der vorher stagnierenden Frauengeschichte für jeden erkennbar. Die Geschichte der Frauen begann endlich, an die „konstante Veränderung“ der allgemeinen Geschichte anzuknüpfen. Und es läuft gut.

Der steigende Grad der gesellschaftlichen Akzeptanz der Gleichwertigkeit der Geschlechter spricht dafür.

Die Verschiebung des gesellschaftlichen Referenzrahmens zu Gunsten der Gleichberechtigung spricht dafür.

Die Wirksamkeit der Gynäkophobie-Desensibilisierung spricht dafür.

Die wachsende Sensibilisierung des Staates und der Institutionen gegenüber noch nicht ausreichender Geschlechter-Gleichberechtigung spricht dafür.

Und vieles andere mehr spricht dafür.

Der Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart bezogen auf den Status der Gleichwertigkeit der Geschlechter macht jeden Pessimismus befremdlich. Optimismus dagegen ist angesagt und gerechtfertigt. Als langjähriger Verlaufsforscher des Psychischen bin ich daran gewöhnt, auf Prädiktoren zu achten – auf Anzeichen also, die einen günstigen oder auch ungünstigen Verlauf voraussagen können. In Sachen Souveränität und Gleichwertigkeit der Frau sind die meisten Prädiktoren günstig. Trotzdem beurteilen manche die Entwicklung mit Skepsis bis hin zu ausgeprägtem Pessimismus. Repräsentativ dafür ist etwa die Skepsis des Sozialforschers und überzeugten Gleichberechtigungsbejahers Rolf Pohl. Seinen Pessimismus bekräftigt er noch einmal im Jahr 2019 in dem ausführlichen Vorwort der Neuauflage seines Buches „Feindbild Frau“. Skeptisch bis pessimistisch stimmen ihn „der aktuelle Stand der widersprüchlichen und ungleichzeitigen geschlechterpolitischen Entwicklungen sowie die Defizite im Mainstream der sie begleitenden politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Geschlechterdiskurse“ (S. I). Was von uns in der Zeit des Heute als hoffnungsvoller Paradigmenwechsel bezeichnet wurde, wird von ihm also eher pessimistisch beurteilt. Der Widerstand gegen bisherige Errungenschaften der Gleichberechtigung der Frau und deren Diffamierung sei demnach nicht nur das fanatische Aufbegehren einer Minderheit ewig gestriger Männer (und einzelner Frauen), deren restaurative Sehnsüchte das Rad der Geschlechterbeziehungen zurückdrehen wollen. Es sei nicht nur das Werk eines klerikalen Fundamentalismus, rückwärtsgewandter Familienideologien, Rechtspopulismus etc., sondern gehe bis tief in die Mitte der Gesellschaft, meint er (S. II). Es sei ein Faktum, dass wir trotz vielfältiger geschlechterpolitischer Modernisierungen nach wie vor in einer Gesellschaft mit männlicher Hegemonie und einer normativen Dominanz des Männlichen leben (S. IV). Und nicht zuletzt sieht er in der Entwicklung der Geschlechterverhältnisse sowie der mit ihnen einhergehenden einschlägigen Diskurse eine widersprüchliche Gemengelage aus Veränderungen, hartnäckigen Persistenzen und immer wieder in neuen Gewändern auftretenden Gegenbewegungen (S. IV).

Dass die gegenwärtige Lage widersprüchlich erscheint, ist gut nachvollziehbar, aber prognostisch kaum relevant. Widersprüchlichkeiten sind in Verlaufsprozessen nicht fremd. Ist es denn nicht normal, dass ein Antagonismus entsteht, wenn neue Interessen auf alte prallen? Wäre es nicht eine Utopie zu erwarten, dass die jahrtausendealten maskulin-hegemonialen Strukturen lächelnd das Zepter an ihre Erzfeindin, die Geschlechter-Isokratie, weiterreichen? Oder wie Alice Schwarzer im Herbst 2021 richtigerweise schreibt, dabei Bezug nehmend auf Simone de Beauvoir: „5000 Jahre Patriarchat lassen sich eben nicht in 50 Jahren beheben“ (S. 7). Möge Alice Schwarzer mir verzeihen, wenn ich eine leichte Modifikation vornehme: „Zweimal 5000 Jahre Androkratie lassen sich eben nicht in 50, 100 und auch nicht in 150 Jahren beheben … Aber beheben schon.“

Es mag stimmen, dass die Lage widersprüchlich ist. Aber die Relevanz der vermeintlichen Widersprüchlichkeiten ist abhängig von dem Blickwinkel, aus dem sie betrachtet werden. Und so kommt es dazu, dass gesagt wird: „Deutschland ist keine moderne Gesellschaft, was die Gleichstellung betrifft“, wie es die Soziologin Jutta Allmendinger noch im Jahre 2022 tat.285 Aber „wir haben wahrscheinlich noch nie so viel über Diskriminierung, Mütter-Burnout und Geschlechterquote geredet. Und das ist gut so“, meint der Soziologieprofessor Martin Schröder (S. 8), obwohl es den Frauen nie so gut gegangen sei wie jetzt. Was ebenfalls gut so ist, meinen wir.

Meinungen wie, die Lage sei widersprüchlich; Deutschland sei keine moderne Gesellschaft, was die Gleichstellung betrifft; es handele sich auf eine in neuen Gewändern auftretende Gegenbewegung zur Gleichberechtigung etc., sind Meinungen, die respektvoll behandelt werden müssen. Aber es gibt auch eine andere Perspektive. Die des Vergleiches. Und des Respekts vor den Fakten. Das ist die Aufforderung an Sie, liebe Gleichberechtigungs- und Gynäkophilie-Pessimisten: Vergleichen Sie doch! Berücksichtigen Sie und respektieren Sie dabei die Fakten!

Wenn Sie es tun, werden Sie feststellen, dass heute die Mehrzahl der Studierenden Studentinnen sind.286 Bis vor wenigen Jahrzehnten noch bildeten sie eine studentische Minorität. Vor gar nicht allzu langer Zeit waren sie sogar echte Hörsaal-Exotinnen. Und kurz davor gab es gar keine Studentin. Denken Sie doch an die Geschlechter-Proportionalität, die wir zu Beginn unserer Suche nach den nicht an der Spitze angekommenen Frauen fanden, was die Medizin betraf. Die Mehrzahl der Medizinstudierenden ist heute weiblich, wie wir festgestellt haben. Aber wie viele Medizinstudentinnen gab es denn vor noch wenigen Jahrzehnten? Sie waren die Minderheit. Und noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert gar keine. Wir fanden auch – erwartungsgemäß – dass die Ärztinnen in der Ärzteschaft mittlerweile die Mehrheit ausmachen. Aber wie viele Ärztinnen waren es vor noch wenigen Dekaden? Wieder nur die Minderheit. Und bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts durften gar keine Ärztinnen an deutschen Universitäten ausgebildet werden. Kein Zweifel! Natürlich ist es bedauerlich, dass zu Beginn unserer Suche nur knapp ein Viertel der Führungspersonen weiblich war. Auch kein Zweifel! Aber noch vor wenigen Jahren gab es gar keine Direktorin in der Universitätsmedizin. Und die, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht einmal hätten studieren dürfen, machen heute über ein Viertel der Professorenschaft an deutschen Universitäten aus, wobei der Anteil der Professorinnen in den Geisteswissenschaften mit über 40 Prozent sich allmählich dem Gleichstand nähert.287 Lassen Sie uns nochmals das Statistische der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts, was Deutschland betrifft, aus dem Abschnitt „Der schrecklichste der Schrecken …“ des 9. Kapitels in Erinnerung rufen (auch hier, ohne Sie mit den von Jahr zu Jahr leicht variierenden genauesten Prozentangaben zu belasten):

• Über zwei Drittel der Medizin-Studierenden sind Studentinnen.

• Über zwei Drittel der ärztlich Approbierten sind weiblich.

• Deutlich über die Hälfte der promovierten Ärzte sind Ärztinnen.

Und das ist gut so!

Aber eine große Baustelle verlangt dringend nach ihrer erfolgreichen Fertigstellung, so bald wie möglich. Trotz der gerade genannten Zahlen gilt nämlich in der Geschlechterproportion der Medizin heute noch auch das Folgende:

• Etwa zwei Drittel der oberärztlich tätigen Mediziner sind Männer.

• Mehr als zwei Drittel der medizinischen Habilitationen bleiben Männersache.

• Über 80 Prozent der Klinikleitenden sind Männer.

• Über 80 Prozent der Lehrstühle in der Medizin sind von Männern besetzt

Und das ist nicht gut so! Weder gerecht noch akzeptabel! Allerdings nur, solange es den Wünschen, Bestrebungen, sozialen Zielen und Erfüllungsidealen der Frauen widerspricht. Denn es geht nicht darum, Proportionalität und Gleichstellung zu erreichen, kostet es was es wolle – selbst dann, wenn es den Bedürfnissen der Frauen nicht entspricht. Wo die Situation aber den Wünschen, Bestrebungen, sozialen Zielen und Erfüllungsidealen der Frauen widerspricht – wo sie also weder gerecht noch akzeptabel ist – da ist sie dringend korrekturbedürftig. Und die Korrekturen sind seit einigen Jahrzehnten in vollem Gange. Noch vor gar nicht so langer Zeit gab es gar keine Professorinnen an deutschen Universitäten. Die erste ordentliche Professorin in Deutschland wurde nämlich erst im Jahr 1947 berufen, wie wir aus dem Abschnitt „Der schrecklichste der Schrecken …“ des 9. Kapitels wissen, und zwar im Fach Philosophie. Die Tendenzen sind unverkennbar steigend – zu Gunsten der Frauen. Und übertragbar. Übertragbar auf andere Bereiche der Wissenschaft, auf die Wirtschaft, die Politik, die Kultur und vieles andere. Wenn Sie vergleichen, werden Sie sicherlich auch bestätigen, was wir schon im Abschnitt „Der Rahmen, in dem wir eingeschlossen sind“, ebenfalls im 9. Kapitel festgestellt haben: Die ersten Ärztinnen, die ersten Professorinnen, die ersten Regierungschefinnen und die sonstigen ersten „-innen“ sind inzwischen Geschichte. Und die „-innen“ von heute sind in den meisten Bereichen sozialen Lebens Normalität und keine Fantasiegebilde mehr. Wenn Sie das „Gestern“ mit dem „Heute“ vergleichen, werden sie mit Sicherheit zu dem Schluss kommen: Was gestern in Sachen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter exotisch wirkte, ist heute fast die Normalität.

Natürlich gibt es auch in den abendländischen Gesellschaften noch Diskriminierungen. Nicht nur für Frauen. Aber auch für Frauen. Doch zur Wahrheit gehört auch, dass es trotzdem den Frauen in der ganzen abendländischen Geschichte nie so gut ging wie jetzt. Die gynäkophoben Ängste waren nie so abgeschwächt wie in unseren Tagen. Wobei wir gleichzeitig erkennen müssen, dass diese Feststellung keineswegs die Notwendigkeit von weiteren frauenfreundlicheren Entwicklungen ausschließt. Und noch mehr als das. Die Dringlichkeit der Etablierung einer flächendeckenden gynäkophilen Kultur bleibt ungeachtet davon omnipräsent.

Nichtsdestotrotz kann man doch zweifellos feststellen:

Was gestern in Sachen Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter exotisch wirkte, ist heute fast die Normalität. Und morgen aller Voraussicht nach eine Selbstverständlichkeit.

Das lassen alle seriösen Prognosen bezüglich Verlauf und Ausgang der Angst vor der Gleichberechtigung der Frau, der Gynäkophobie, annehmen. Schon vor Jahren dokumentierten Studien bei Männern eine ständig wachsende mehrheitliche Wertschätzung der Gleichberechtigung der Geschlechter sowie eine immer größer werdende Zustimmung zu den wesentlichen Zielen der offiziellen Gleichstellungspolitik. Spätestens seit Beginn der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts wird das festgestellt.288 Darüber hinaus bestätigen Studien seit derselben Zeit, dass die gleichberechtigungsverneinende Männerbewegung in Deutschland eine verhältnismäßig kleine Gruppe geworden ist, auch wenn ihre Versuche, politische Wirkung zu erzielen, nicht zu unterschätzen sind. Es werde von ihnen versucht, politisch Andersdenkende – teilweise massiv – einzuschüchtern, wichtige Institutionen der Gleichstellungsarbeit anzugreifen und zu delegitimieren sowie Geschlechterdebatten in den Medien zu stören bzw. zu dominieren.289 Trotz solcher Störfaktoren werde die Gleichstellungspolitik von der deutschen Bundesregierung zu Beginn der dritten Dekade dieses Jahrhunderts als „Motor für nachhaltige Entwicklung und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft“ betrachtet.290 Niemand will bestreiten, dass krisenhafte Situationen, vor allem wenn sie global auftreten, autoritäre Bestrebungen verstärken und den Liberalismus schwächen können. Der Beginn des 3. Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts hat uns leider, mehr oder weniger unerwartet, mit Krisen außerordentlich belastet; genannt seien hier Pandemie, Flüchtlingsströme, Krieg, Sanktionen und Gegensanktionen. Insofern ist es wohl möglich, dass autoritäre Bestrebungen dadurch Verstärkung finden. Man kann auch nicht ausschließen, dass „der autoritäre Backlash291 ganz wesentlich darauf abzielt, Frauen herabzuwürdigen, ein bestimmtes altmodisches Bild von Geschlechterverhältnissen zu transportieren bzw. die traditionelle Geschlechterrolle restaurieren zu wollen“, wie Susanne Kaiser befürchtete (S. 236). Aber trotzdem. Die Gründe und die Mechanismen, die dazu geführt haben, dass heute der soziale Referenzrahmen günstig für das Erreichte und für das Erreichbare ist, sind stabil, robust und weiterhin wirksam. Alles in allem lässt sich doch sagen: Der Vergleich des in der Zeit des „Heute“ Erreichten sowie seiner aktuellen Dynamik, seines Tempos und seiner Wirksamkeit mit den Zuständen in der nicht allzu fernen Vergangenheit rechtfertigt nicht nur die Vorhersage einer günstigen Prognose, sondern auch die Annahme, dass das 21. Jahrhundert das Zeug hat, das Fundament für eine umfassende gynäkophile Kultur zu legen. Die androkratischen Strukturen früherer Epochen boten die Möglichkeit dieses Fundaments nicht. Sie machten dadurch die Perspektive der Etablierung einer gynäkophilen Struktur zu einer Chimäre, zu einer Illusion also, zu einem unerfüllbaren Wunsch. Das 21. Jahrhundert jedoch bietet diese Möglichkeit, bietet diese Perspektive. Ja, es wird voraussichtlich sehr lange dauern, bis die Vollendung Wirklichkeit wird, aber die Voraussetzungen dafür sind da.

Niemand kann bestreiten, dass die Lage der Frauen auch in Deutschland, in Europa und im ganzen Abendland noch ausbaufähig ist. Die Baustellen sind gut sichtbar für jeden Menschen guten Willens. Noch im März 2023 verwendete die UNO dafür in ihrem entsprechenden Bericht – in Bezug auf die ganze Welt unabhängig vom Grad der Liberalität des politischen Systems, Toleranz der herrschenden Religion, des Bildungsniveaus etc. – alarmierende, drastische Worte: Die Gleichstellung sei derzeit noch 300 Jahre entfernt.292 Trotz der unbestreitbaren Erfolge bleibt also noch viel zu tun. Auch im Abendland, auch in Deutschland. Bezeichnend dafür ist etwa folgender Widerspruch in ein und derselben „Erfolgsmeldung“ von Juni 2022:293 „Das Weltwirtschaftsforum bescheinigt Deutschland Fortschritte bei der Geschlechtergleichstellung. Managerposten werden allerdings weiter vor allem von Männern besetzt.

Wir müssen davon ausgehen, dass es auch in Zukunft noch zahlreiche Gynäkophobiker bzw. Neo-Gynäkophobiker geben wird. Dennoch, alle Prädiktoren zusammen genommen geben keinen Anlass dafür anzunehmen, dass die Zukunft wieder von Gynäkophobikern geprägt, geschweige denn von ihnen gelenkt und beherrscht werden wird.

Vergessen wir auch Folgendes nicht: Die Stabilität des Erfolges kann nur gemeinsam von Frau und Mann erreicht werden. „Eine Geschlechtergerechtigkeit kann nur gemeinsam erreicht werden. Gemeinsam mit Partnern, mit der Wirtschaft, mit dem Staat und dessen Politikern. Getragen von einer Kultur, die diesen Entwicklungen nicht entgegensteht oder sie sogar untergräbt“, wie Jutta Allmendinger richtig feststellt (2021, S. 16 f.). Und sie sagt weiter, das Ziel, Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern herzustellen „darf nicht Aufgabe der Frauen allein sein, wir alle profitieren von einer gerechten Gesellschaft. Wir alle müssen uns dafür einsetzen. … Letztlich geht es nur gemeinsam“ (S. 107). Es gemeinsam schaffen. Das ist „spannend“, meinen Lisa Jaspers und Naomi Ryland. Wir auch. Sie schließen den Prolog ihres Buches „Unlearn Patriarchy“ mit den Sätzen: „Unlearn Patriarchy bedeutet Freiheit und Gerechtigkeit für alle. Und das schaffen wir nur gemeinsam. Den Weg dorthin kennen wir nicht, aber wir spüren, wir erahnen, wir fühlen ihn. Und das ist genau das Spannende.

Ja, ohne Zweifel! Gemeinsam. Nur gemeinsam können Mann und Frau eine gynäkophile Kultur und eine Geschlechter-Isokratie etablieren. Es kann nur das Ergebnis einer gegenseitigen respektvollen Haltung von Frau und Mann sein – einer gemeinsamen Haltung. Aber haben uns diesen Weg, den „wir spüren, wir erahnen, wir fühlen“, Lady Ragnell und Ritter Gawain nicht schon gezeigt?

Lady Ragnell: „Was wir Frauen uns von allen Dingen am meisten wünschen, ist Souveränität!“

Ritter Gawain: „Niemand darf, Frau, über dein Schicksal entscheiden, sondern nur du alleine!“

Lady Ragnell: „Das ist der Schlüsselsatz, der mich aus dem Fluch vollständig und für immer befreit!“

* So wie wir es im Abschnitt „Hass, eine toxische Emotion …“ des 2. Kapitels kennengelernt haben.