Der gepflasterte Dorfplatz liegt menschenleer und beschaulich im Schein der Mittagssonne. Es herrscht eine friedliche dörfliche Stille über Stolpe, bis plötzlich ein mächtiges Läuten vom Turm der Kirche einsetzt, die auf einer kleinen Anhöhe über dem Platz liegt. Es folgt ein Choral: „Lobe den Herrn“. Seit den 1930er Jahren verfügt die Kirche über ein in Berlin einzigartiges Spielwerk aus 18 Glocken, die von einer mächtigen eisernen Walze gesteuert werden. Auf ihr können in 240 Reihen mit 8640 Löchern Notenstifte eingeschraubt werden, die über die Uhr die Spielglocken anschlagen lassen. Passend zum Kirchenjahr werden die Choräle gewechselt, aber auch Papagenos Lied aus Mozarts Zauberflöte ist im Programm. Nur die beiden Lieder Lobe den Herrn und Üb immer Treu und Redlichkeit erklingen das ganze Jahr über. Damit beginnt das Glockenspiel jeden Morgen um acht Uhr. Es ist ein opulentes Klangerlebnis, das nicht recht zu der dörflichen Szenerie am Rande Berlins passen will.
Andererseits befinden wir uns am Ursprungsort jener Gemeinde, die heute unter dem Namen Wannsee einen weltweiten Klang hat. Da mag es dann doch wieder stimmen. Und so machen wir uns von hier aus auf, die Geschichte des Ortes Wannsee zu erkunden. Was sind seine Ursprünge, seine Brüche, seine Bedeutung, die doch weit über die Rolle eines hübsch gelegenen Vororts der Millionenmetropole hinausweist?
Wenn auf dem Dorfplatz unter einer prächtigen, uralten Eiche keine Autos parken würden, könnte man sich hier in das 19. Jahrhundert zurückversetzt fühlen. Die wichtigsten Häuser mit ihren Sandsteinfassaden aus dieser Zeit sind liebevoll restauriert, und in das alte Gasthaus, das in den 2010er Jahren lange leer stand, ist wieder eine Wirtschaft mit dem schönen und passenden Namen Zum grünen Baum eingezogen. Seit 1874 wird hier Gastlichkeit gepflegt. Das alte Schulhaus neben der Kirche wartet in einem prächtigen Blumengarten auf Besucher der Seniorengruppe, und schräg gegenüber hat ein Architektenbüro bei der Restaurierung seines historischen Gebäudes gezeigt, dass es nicht nur Neubauten entwerfen kann. Eine Tafel an der Mauer des Gasthauses nennt die Namen der Firmen und der Bürger des Initiativkreises, auf den die Sanierung des Platzes zurückgeht. Die gegenüber liegende, in den 1970er Jahren entstandene moderne Wohnanlage wird gnädig von den Blättern der auf dem Grundstück erhalten gebliebenen alten Laubbäume verdeckt. Wenn freitags die Händler des Wochenmarktes ihre Stände rund um die Eiche aufbauen, entsteht schnell wieder eine dörfliche Marktatmosphäre, wie sie vor 150 Jahren nicht so viel anders gewesen sein wird. Und wenn es dunkel wird, werfen die von Schinkel entworfenen Straßenlaternen ihren warmen Schein auf das Kopfsteinpflaster.
Im Umfeld dieses Dorfplatzes, der nach dem Tod Kaiser Wilhelms I. 1888 in Wilhelmplatz umbenannt wurde, ließen sich die ersten slawischen Siedler nieder, wahrscheinlich lange vor der ersten urkundlichen Erwähnung von Stolpe 1299. Sie lebten vom Ackerbau und dem Fischfang in der Havel. Die Herkunft des Namens Stolpe ist umstritten, er bedeutet wohl so viel wie Pfahl oder Pfosten. Im Brandenburgischen gab und gibt es viele Orte mit diesem Namen. Sie liegen meist an Gewässern, an denen man Pfähle für Stege und zum Festmachen von Booten brauchte oder einen Palisadenzaun als Grenzbefestigung errichtete. Nach den Schilderungen des Großmeisters in der Erforschung brandenburgischer Geschichten, Theodor Fontane, ist dieses Stolpe das älteste heute noch existierende Dorf der Region. Es bestand durch die Jahrhunderte ohne bemerkenswerte Entwicklungen; der Dreißigjährige Krieg traf Stolpe dann besonders schwer. Es musste nicht nur verheerende Plünderungen der schwedischen und kaiserlichen Truppen ertragen, auch die Pest kostete viele Menschenleben. 1618 wurden in dem Dorf neun Bauernstellen gezählt, nach dem Krieg gab es nur noch einige Kossäten, Landarbeiter oder Fischer ohne eigenes Land.
Dann begann ein bescheidener Aufschwung, der Mitte des 18. Jahrhunderts einen bemerkenswerten Höhepunkt erreichte: 1764 beantragten die zehn Stolper Kossäten bei der königlich-preußischen Regierung, die von ihnen bearbeiteten Ländereien und die Fischereirechte als Eigentum übernehmen zu können. Fünf Jahre später entschied Friedrich der Große: „Die Stolper Bauern sollen freie Eigentümer sein.“ – 40 Jahre, bevor in Preußen die Leibeigenschaft aufgehoben wurde.1 Auf diesen Erlass gründet bis heute das Eigentumsrecht der Nachkommen der einstigen Stolper am Stölpchensee. Es wird von einer Eigentümergemeinschaft verwaltet, die Herrin über die Stege und Uferbefestigungen sowie die Angelrechte ist. Es ist eine in Berlin einmalige Konstruktion, die zahlreiche von staatlichen Stellen über die vergangenen 250 Jahre unternommene Eingriffsversuche überdauert hat. Und ein erster Hinweis darauf, dass die hiesigen Einwohner sich schon vor Jahrhunderten darauf verstanden, Privilegien zu erwerben und zu erhalten.
Im 19. Jahrhundert explodierte die Einwohnerzahl dann förmlich – von 139 im Jahre 1801 auf 1717 im Jahr 1895. Die meisten wohnten nun aber außerhalb des alten Dorfkerns. Der enorme Zuwachs resultierte vor allem aus der Gründung der „Colonie Alsen“, deren neue Häuser beiderseits der Königstraße entstanden. Sie ging auf eine Initiative des Berliner Bankiers Wilhelm Conrad zurück, der 1863 den Gasthof Stimmings Krug an der Wannseebrücke mit umfangreichem Landbesitz erwarb und den Plan entwickelte, auf dem zu Stolpe gehörenden bewaldeten Gelände eine höchst exklusive Villenkolonie entstehen zu lassen. Sein zunächst abenteuerlich anmutender Plan erwies sich als Volltreffer, denn er bediente das Bedürfnis zahlreicher vermögender Berliner, der expandierenden, immer enger und lauter werdenden Großstadt zumindest für die Sommermonate zu entfliehen und doch in der Nähe ihrer Geschäfte zu bleiben. Die Kolonie entwickelte sich zu einem außergewöhnlichen gärtnerischen und architektonischen Gesamtkunstwerk, auf dessen Entstehung und Bedeutung für das gesellschaftliche Leben Berlins wir im folgenden Kapitel ausführlich zurückkommen.
Das Jahr 1898 brachte einen entscheidenden Einschnitt. Das bisherige Dorf Stolpe schloss sich mit der auf seinem Gebiet liegenden Villenkolonie sowie einigen weiteren Ortsteilen wie Kohlhasenbrück, Steinstücken und der Pfaueninsel zum neuen Ort Wannsee zusammen. Das entsprach den Wünschen der wohlhabenden Neubürger um den Investor Wilhelm Conrad, die ihre ursprünglichen Sommerresidenzen zunehmend als ganzjährigen Wohnsitz nutzten. Wannsee hatte da doch einen ganz anderen Klang als Stolpe, zumal es noch 62 andere Orte mit diesem Namen in Deutschland gab, was im Post- und Reiseverkehr häufig zu Verwechslungen führte.
Die stürmische Entwicklung ging indes weiter: 1917 belief sich die Einwohnerzahl von Wannsee auf 5000 Personen. Wenig später wurden aus ihnen (wieder) Berliner: Aus ihrer Landgemeinde im brandenburgischen Landkreis Teltow wurde im Zuge des Groß-Berlin-Gesetzes 1920 ein Teil der deutschen Hauptstadt und ihres Bezirks Zehlendorf, der 2001 im neu gebildeten Bezirk Steglitz-Zehlendorf aufgehen sollte. Postalisch blieben die Berliner Neubürger allerdings noch eine Weile Brandenburger, wie der Heimatforscher Christoph Janecke in seinen Aufzeichnungen notiert hat: „Verrückte Welt! Das hat zur Folge, dass z. B. ein Brief an das zuständige, nah gelegene Berlin-Zehlendorfer Bezirksamt, Fernverkehrsporto in Höhe von 12 Pf. kostet. Schicken wir jedoch Post in die Stadt Potsdam oder nach Drewitz, also ‚nach außerhalb‘, bedarf es nur einer 8-Pf.-Briefmarke.“2
Bereits im 15. Jahrhundert dürfte die erste kleine Fachwerkkirche am Standort der heutigen Kirche entstanden sein. Mitte des 19. Jahrhunderts war sie dermaßen baufällig, dass die Potsdamer Aufsicht sie 1854 wegen Einsturzgefahr sperren ließ. Zuvor schon waren die Glocken gesprungen, was zu Unregelmäßigkeiten bei den Gottesdiensten führte – die wenigsten Stolper dürften damals Uhren besessen haben, wie Georg Brasch in seinem Wannseebuch anmerkt. Nun mussten die Gottesdienste im benachbarten Schulhaus stattfinden. Die Behörden planten einen bescheidenen Neubau, doch das passte König Friedrich Wilhelm IV. nicht, der nicht nur Landesherr, sondern auch Kirchenpatron in Potsdam war. Er war seit einer Italienreise als Kronprinz von der Sehnsucht besessen, sein Umfeld architektonisch nach diesem Vorbild zu prägen. In Stolpe sah er nun die Chance, ein solches Bauwerk mit einer optischen Fernwirkung in die brandenburgische Landschaft zu setzen. Er beauftragte den Schinkelschüler Friedrich August Stüler mit einem neuen Entwurf für die Kirche, der weitgehend seinen eigenen Vorstellungen und Skizzen folgte. Die erheblichen Mehrkosten wurden aus der königlichen Schatulle beglichen.
Kirche am Stölpchensee
Während das 1859 geweihte, gediegene Bauwerk damals in deutlichem Kontrast zu dem dörflich-ärmlichen Umfeld aus Bauernkaten, Fischerhütten und Wiesen stand, entfaltete es eine überragende architektonische Wirkung, die bis heute Bestand hat. Der Blick über den See auf Stolpe wird auch heute, über 150 Jahre später, noch von dem mächtigen Vierungsturm beherrscht, der auf eine Idee des Königs zurückgehen soll. Schon Fontane stellte anerkennend fest, „dass der Turm in der Landschaft eine gute Wirkung hat“. Dem konnten auch die modernen Bauten fragwürdiger architektonischer Qualität am Seeufer aus späteren Jahrzehnten nichts anhaben. Ähnliches gilt für die in der Umgebung von Wannsee liegenden Kirchen von Sacrow und Nikolskoe, die ebenfalls die Handschrift des königlichen Amateurarchitekten Wilhelm IV. tragen.
Das Land Berlin stellte die Kirche 1971 unter Denkmalschutz. „Wie von König Friedrich Wilhelm IV. gewollt, dominiert die Dorfkirche den Ort. […] Sie dominiert nicht nur, gleichsam einem Münster, über alle Alt- und Neubauten, sondern auch die Uferzone des Stölpchensees wird weithin von ihr beherrscht“, heißt es dazu in der Denkmaldatenbank. „Mit den umgebenden Natursteinmauern, Toren und Treppen entstand ein kleiner, landschaftsbezogener Pfarrbezirk, von dem ein eigener romantischer Reiz ausgeht.“3
Der Maler Philipp Franck hat einen anschaulichen Bericht über die Entwicklung Stolpes um die Jahrhundertwende hinterlassen. Als der damalige Lehrer der Königlichen Kunstschule zu Berlin im Jahre 1890 in Potsdam wohnte und oft mit dem Zug nach Berlin fuhr, habe er im Vorüberfahren zwischen den Bahnstationen Neubabelsberg und Wannsee auf der linken Seite durch eine Lichtung des Kiefernwaldes hindurch ein idyllisches Dorf an einem See gesehen, notierte er in einem Beitrag für das Wannseebuch von Georg Brasch.
Der Arzt und zeitweilige Gemeindevorsteher von Wannsee hat mit seinem als „Heimatbuch“ bezeichneten Werk 1926 ein erstes literarisch-künstlerisches Denkmal für seinen Ort gesetzt. „Es will den Begriff ‚Wannsee‘ in Wort und Bild umreißen“, schrieb er im Vorwort. „Denen, die Wannsee kennen, will es ihr Wissen und ihre Liebe vertiefen. Denen, die es nicht ernsthaft kennen, will es ein Mittler sein zu besserem Kennenlernen.“4 Und so wird uns dieses liebevoll gestaltete Buch, das ein von Max Liebermann gezeichnetes Titelbild schmückt, begleiten bei dem ganz ähnlichen Unterfangen dieses Werks, fast einhundert Jahre später.
Doch zurück zu Philipp Franck und seiner Beschreibung: „Alles atmete Frieden, kaum ein Mensch war zu sehen. Nur dann und wann strich ein kleiner Kahn lautlos über das Wasser, in dem ein Fischer schweigend ein Netz auswarf und wieder einzog. Das war das Dörfchen Stolpe.“5 Franck entschloss sich, dieses „Glück im Winkel“ näher kennenzulernen. Er stieg in Wannsee aus der Bahn und wanderte die Königstraße in Richtung Potsdam zurück, bis er an einem Meilenstein die Chausseestraße erreichte und links nach Stolpe abbog. So „gelangte man an der offenen Schmiede mit dem immer lodernden Feuer vorbei zu der vom Schinkelschüler Stüler erbauten alten Kirche. Blickte man von hier aus die Dorfstraße entlang, so sah man an beiden Seiten aneinander gereiht alte Fischerhütten stehen, alle mit großen Strohdächern gedeckt, im Frühling getaucht in Obstblüte und blauen Flieder. Der untere Rand der Dächer reichte bis zur Brusthöhe eines Mannes herab. Die Sonnenblumen reichten aber natürlich viel höher, so dass sie mit dem strahlenden Gelb sich von dem fahlvioletten alten Stroh gleich wirklichen Sonnen abhoben.“
Der Maler mit seinem wachen Blick für Farben, Formen und Stimmungen schwelgt über blühende Rosenstöcke, Veilchen, Iris und Feuerlilien, „die entzückendsten Blumen“ in den Bauerngärten. Dazu uralte Kastanien und Linden mit mächtigen Kronen und schließlich die Bienenhäuser unter den Fliederbüschen um das Schulhaus, „im Frühling war dies ein blaues Meer, das sich von der Kirche aus zu dem nahen Dorffriedhof fortsetzte“. Franck resümierte: „Ja, für den Maler war das alte Stolpe eine Fundgrube!“
Die Werke des Impressionisten und Mitbegründers der Berliner Secession an der Seite Max Liebermanns künden davon: farbenfrohe Gemälde aus dem Leben der Bürger von Stolpe, ihrer Gärten, ihrer Kinder. Aber in dem Text für das 1926 erschienene Wannseebuch zog er eine ernüchterte Bilanz: „Wohin ist alle diese Herrlichkeit geschwunden? Das alte Dorf Stolpe ist nicht mehr.“ Die Hütten wurden abgerissen oder verloren ihre Strohdächer. „Die Bauern bauten sich hohe Häuser, mit geschmacklosem Stuck verziert. Sie konnten es sich ja leisten. Die neuen Häuser waren viel zu groß, sie drückten auf die Landschaft und machten den See klein.“ Die schönsten Bäume seien gefällt, ein malerisches Motiv nach dem anderen verschwunden, klagte der Künstler. „Heute ist das ehemalige Stolpe ein Vorort, wie Berlin viele aufzuweisen hat. Das Idyll von einst ist vorüber.“ Doch Philipp Franck ist kein Melancholiker: „Über dem großen Wannsee aber ziehen die Wolken in alter Pracht. Der Sport blüht. Die weißen Segel blähen sich. Die Rosen im Arnholdschen Garten leuchten. Andere Zeiten! Andere Herrlichkeit!“
Als diese Zeilen erschienen, war Philipp Franck längst selbst nach Stolpe gezogen, das inzwischen Wannsee hieß und von der feinen Villenkolonie Alsen geprägt wurde. Er lebte mit seiner Familie seit 1906 in einer bis heute erhaltenen Villa in der Hohenzollernstaße am Rande der Kolonie und malte nun auch das exklusive Leben in den Gärten der Reichen. Franck wohnte dort bis zu seinem Tod 1944, eine Berliner Gedenktafel an seinem Haus erinnert an ihn. Seine zweite Ehefrau, Martha, emigrierte nach dem Krieg nach England, wo sie zu ihrem Sohn und dessen jüdischer Ehefrau zog. Im Jahr zuvor hatte sie noch zwei dicke Mappen mit Aquarellen ihres Mannes vor Bombenangriffen in Berlin in Sicherheit gebracht, indem sie sie in die Obhut einer befreundeten Familie in Darmstadt gab. Deren Sohn brachte sie 1948 nach London und gab sie der Familie zurück.
Nicht weit entfernt von der Hohenzollernstraße liegt der Friedhof von Stolpe. Anders als in vielen Dörfern ist er nicht um die Kirche herum angelegt, sondern etwas oberhalb vom Dorfkern. Dort findet sich das Grab von Philipp Franck, das seit 2001 als Ehrengrab der Stadt Berlin gewidmet ist. Blumen, Büsche und Sträucher wuchern im Sommer 2023 auf dem Grab wild durcheinander und verdecken zum Teil die Grabplatten in der mannshoch aus Ziegeln gemauerten Anlage. Es sieht fast wie ein Gegenentwurf zu den sorgfältig gepflegten Gartenlandschaften der Villen Wannsees aus, die Franck so gern gemalt hat. Zwei plastisch gestaltete weiße Engel über einem grünen Fliesenschmuck bilden den optischen Mittelpunkt. Darunter sind zwei Marmorplatten mit den Lebensdaten von Philipp Franck und seiner ersten, 1902 gestorbenen Frau Katharina angebracht.
Ehrengrab des Malers Philipp Franck auf dem Friedhof in Berlin-Wannsee
Links und rechts davon, ein wenig zurückgesetzt, sind zwei weitere Marmortafeln in die Ziegelwand eingelassen: auf der linken Seite zum Gedenken an den Sohn Heinrich Franck (1961 gestorben) und seine jüdische Ehefrau Lotte Sarah Franck (1984), auf der rechten Seite für seine Enkelin Ingeborg Hunzinger (2009) und deren Sohn Gottlieb Franck (1962). Es ist das Grab einer Familie, in der sich über einhundert Jahre deutsch-jüdischer Kulturgeschichte in Ost und West wie unter einem Brennglas verdichten.
Francks Sohn Heinrich war ein bedeutender Chemiker, der sich während der Naziherrschaft weigerte, sich von seiner jüdischen Frau zu trennen. Wegen „jüdischer Versippung“ verlor er 1937 seine Professur an der Technischen Hochschule Berlin. Die Familie überlebte den Terror im Windschatten eines Forschungsinstituts der Glasindustrie. Franck trat 1946 in Ost-Berlin der SED bei und wurde deshalb erneut von der nun in West-Berlin liegenden Technischen Hochschule entfernt. Er hatte fortan einen Lehrstuhl für Chemie an der Humboldt-Universität im Osten, Funktionen in der Akademie der Wissenschaften und war Abgeordneter der Volkskammer der DDR. Nachdem er 1961 in Pankow beigesetzt worden war, ließ ihn die Familie 2005 in das Grab in Wannsee umbetten – ebenso wie seinen Enkel Gottlieb, der sich 1962 das Leben nahm.
Als bislang Letzte wurde dort 2009 dessen Mutter Ingeborg Hunzinger beigesetzt. Diese 1915 geborene Tochter Heinrich Francks, die wegen ihrer jüdischen Mutter ebenfalls von den Nationalsozialisten verfolgt wurde und außerdem Kommunistin war, durfte ihr Kunststudium in Berlin ab 1939 nicht fortsetzen. Sie überstand das NS-Regime mehr oder weniger versteckt zunächst auf Sizilien und dann im Schwarzwald. Sie zog mit ihrem Mann, dem Kommunisten und Spanienkämpfer Adolf Hunzinger, 1949 nach Ost-Berlin, wo sie ihr Kunststudium fortsetzte. Nach dem Abschluss ließ sie sich in Rahnsdorf am Rande Berlins als freischaffende Bildhauerin mit eigenem Atelier nieder, das ein beliebter Treffpunkt einer kritischen intellektuellen Szene aus Ost und West wurde. Sie schuf zahlreiche Skulpturen für den öffentlichen Raum vor allem in Ost-Berlin. 1995 entstand das Werk Block der Frauen für das Denkmal zur Erinnerung an die Proteste in der Rosenstraße gegen die Inhaftierung von Berliner Juden im Winter 1943. Ingeborg Hunzinger war eine der bedeutendsten Bildhauerinnen der DDR, weigerte sich ungeachtet ihrer Mitgliedschaft in der SED aber, ihr angetragene Ehrungen wie den Nationalpreis der DDR anzunehmen. Sie halte das „ideologische Affentheater auf dem Gebiet der Kultur und die Bevormundung für unwürdig“, sagte sie später in einem Interview.6
Von der Öffentlichkeit wenig bemerkt ist der abgelegene Friedhof in Stolpe so zu einem Kristallisationspunkt der intellektuellen Auseinandersetzungen im Deutschland des 20. Jahrhunderts geworden. Das ist vor allem Rosita Hunzinger zu verdanken, einer Tochter Ingeborg Hunzingers mit einem ausgeprägten Sinn für ihre Familie und die Geistesgeschichte, die sie verkörpert. Sie hat dafür gesorgt, dass das Grab ihres Urgroßvaters in Wannsee zu einem Ort wurde, an dem die Familie wieder vereint wird. Es ist ein Beispiel dafür, dass es in Wannsee oft um mehr als um Lokalgeschichte geht. Hier spielen die größeren Zusammenhänge, die langen Linien eine Rolle. Und sie reichen immer weiter als auf den ersten Blick ersichtlich, wie sich auch hier zeigt.
Rosita Hunzinger gehörte Ende der 1960er Jahre zu einem Kreis von Jugendlichen aus bekannten Ost-Berliner Intellektuellen- und Funktionärsfamilien, die sich unter dem Schutz ihrer prominenten Namen gegen die staatlich verordnete geistige Konformität jener Jahre in der DDR zur Wehr setzten. Der Einmarsch der Armeen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei war für die Jugendlichen das Signal zu Protestaktionen. Noch am selben Abend schrieben sie „Duboek“ an Häuserwände. Am nächsten Tag stellten Hunzinger und ihre Freunde, darunter Thomas Brasch und Florian Havemann, rund 500 handgeschriebene Flugblätter mit Losungen wie „Warschauer Vertrag raus aus Prag!“ und „Hoch Duboek!“ her, die sie in der Nacht in Telefonzellen und Hausbriefkästen verteilten. Sie waren schon länger von der Stasi beobachtet worden. Nun wurden sie schnell festgenommen und im Oktober zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsentzug verurteilt, allerdings nach einigen Wochen freigelassen. Die Schriftstellerin Julia Franck, eine Ururenkelin des Malers, setzt in ihren Büchern heute die schöpferischen Traditionen ihrer Familie fort und thematisiert darin auch die tragischen Züge der von den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts geprägten Familiengeschichte. Von Zeit zu Zeit ist sie Gast im Literarischen Colloquium am Wannsee – und so schließt sich der Kreis.
Wolfgang Immenhausen sitzt an einem runden Holztisch im üppig blühenden Blumengarten seines Hauses an der Chausseestraße, wenige Schritte vom Friedhof entfernt. Ein entspannter Mann mit weißem Haar und verschmitztem Lächeln, der sich über das Interesse an der Familie Franck freut. Denn es ist ihm zu verdanken, dass der fast in Vergessenheit geratene Philipp Franck und sein Werk in den vergangenen Jahren wiederentdeckt wurden. Immenhausen gehörte 1995 zu den Mitbegründern der Max-Liebermann-Gesellschaft, der es gelungen ist, die denkmalgeschützte Villa und den Garten Liebermanns am Wannseeufer zu rekonstruieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Daraus ist ein weiterer kultureller Leuchtturm mit internationaler Ausstrahlung im Berliner Südwesten entstanden.
Die Geschichte von Stolpe und Wannsee, ihrer Maler und Bauherren, das sind Immenhausens Lebensthemen. Seit frühester Kindheit lebt er hier. Nebenan hatten seine Großeltern ab 1900 ein Handelsgeschäft für Kartoffeln, Getreide, Futter – Fourage nannte man das damals. Es war die Zeit des Aufbruchs in Wannsee, immer mehr reiche Berliner zogen in den mondänen Vorort mit seiner Kolonie Alsen. Man belieferte die „Kolonisten“ wie den Unternehmer und Philanthropen Eduard Arnhold, den Verleger Langenscheidt oder die Kunstmäzenin Cornelie Richter, aber auch Fuhrunternehmer und Droschkenkutscher wie Gustav Hartmann, der später als der Eiserne Gustav mit seiner Reise nach Paris Furore machen sollte. Das ging so über Jahrzehnte, zwei Kriege und den Mauerbau, bis Ende der 1970er Jahre seine Mutter das Geschäft schloss und den Hof ihrem Sohn überschrieb.
Wolfgang Immenhausen, inzwischen Schauspieler am Berliner Grips-Theater, entdeckte nun seine Wurzeln wieder. Die Rückkehr auf den kopfsteingepflasterten Hof mit Wohnhaus, Wirtschaftsgebäuden und Scheune, Abenteuerspielplatz seiner Kindheit, führte sein Leben in eine neue Richtung. Er beschloss mit zwei Freunden, die alte Fouragehandlung des Großvaters, in der er aufgewachsen war, unter neuen Aspekten wiederzubeleben. Es entstand Mutter Fourage, inzwischen seit Jahrzehnten eine ökologische, kulturelle und kulinarische Oase, die Besucher aus ganz Berlin und dem Umland anzieht. Es gibt ein Café, einen Hofladen, eine Gärtnerei, eine Galerie, Veranstaltungen und Feste – ein Ort der Kommunikation, Begegnung und des Genusses wie kein zweiter in Wannsee und weit darüber hinaus. Und es gibt kaum jemanden, der die Entwicklung Wannsees in den letzten 150 Jahren so genau kennt wie Wolfgang Immenhausen. Ihm ist es auch zu verdanken, dass 2010 ein Neudruck des lange vergriffenen Wannseebuchs von Georg Brasch erschienen ist.
Viele Stolper seien zunächst sehr gegen die Ende des 19. Jahrhunderts betriebene Vereinigung mit der Villenkolonie Alsen und die Bildung der neuen Gemeinde Wannsee gewesen, erzählt er in seinem Garten. Am Ende hätten sie den Schritt aber gewagt, und das sei dem ganzen Ort sehr zugutegekommen. „Die reichen Kolonisten haben ja dann ihre Steuern in den gemeinsamen Haushalt gezahlt, und so ist Wannsee bald zu einer der solventesten Gemeinden Deutschlands geworden. Außerdem waren die Millionäre damals oft auch Wohltäter wie Eduard Arnhold, der nicht zuletzt die Villa Massimo in Rom gestiftet hat, die bis heute ein wunderbarer Ort der Künstlerförderung ist.“7 Aber man habe lange darum gekämpft, zu einem Ort zusammenzuwachsen, noch heute bilde die quer durch Wannsee verlaufende Königstraße eine Art Grenze zwischen der einstigen Kolonie und dem alten Dorf Stolpe.
„Noch bis in die 1930er Jahre war es so, dass Stolpe das Reservoir an Arbeitskräften und Handwerkern bildete, die dringend gebraucht wurden, um die Villen zu bauen. Die Frauen wurden als Haushaltshilfen benötigt, und um im Sommer die Gärten zu pflegen – bei Liebermann waren es beispielsweise drei, vier Frauen aus dem Ort, die hier bei uns nebenan wohnten. Ein ganz wichtiger Begegnungsort aber war die Schule – hier gingen die Kinder der von Siemens zur Schule, die Kinder von Goebbels, die Kinder vom Schmied und vom Arbeiter, und alle trafen sich in der Conrad-Schule. Auch heute ist es noch so, dass das Gemeindeleben überwiegend im alten Stolpe stattfindet, auf der anderen Seite merkt man davon wenig. Das hat auch mit den Nazis zu tun, die da ihre ganzen Institutionen hatten, nach dem Krieg zogen dann Krankenhäuser und Kinderheime in die Villen, da gab es nur noch ganz wenige Urbewohner.“
In Stolpe ist das anders. Noch heute finden sich auf dem Friedhof an der Friedensstraße Grabstellen, die das Gedächtnis an die ersten Familien in Stolpe wie Behrend, Hönow, Schuchardt oder Zinnow und ihre Nachkommen lebendig halten. Und auch das älteste erhaltene Haus von Wannsee steht hier, im Grünen Weg nahe dem Pohlesee, romantisch verborgen hinter einer dichten Laubhecke. Sein mittlerer Teil war eine Holzkate mit Strohdach und Lehmwänden und ist wohl mindestens 350 Jahre alt. Neben seinen Wohnräumen betreibt der Hauseigentümer hier eine Galerie mit angeschlossenem Verlag, die sich vor allem der Architektur- und Stadtplanungsgeschichte Berlins widmen. Wie viel besser stünde es noch um Wannsee, wenn alle historischen Gebäude hier mit solchem Respekt behandelt würden. Warum das nicht der Fall ist, zeigen wir im folgenden Kapitel.