Kapitel 3
Die Villen

Wo alles angefangen hat –
Stimmings Krug und die Villa Alsen

Beginnen wir dort, wo alles angefangen hat – wo aber nichts mehr ist. Ein Rätsel? Nein, die Wirklichkeit in Wannsee Anfang der 2020er Jahre. Wir stehen am Ende der Wannseebrücke, Königstraße Nummer 3b–4. Hinter einem Drahtzaun breitet sich das Dickicht aus. Mannshohe verwilderte Büsche versperren den Blick auf den See. Es gibt zwei Tore in dem Zaun, die mit Fahrradschlössern gesichert sind und ins grüne Nichts führen. Hier ist schon lange niemand mehr durchgegangen. Ganz rechts aber ist eine Lücke im Zaun, provisorisch mit einem Baugitter gesichert, das an diesem Tag geöffnet ist. Am Eingang steht ein mobiles Toilettenhäuschen. Dahinter führt eine Rampe mit schadhaften Betonelementen steil hinunter zum Seeufer. Dort liegt eine kleine ungepflegte Wiese, über die man zwei Bootsstege erreicht. Der Blick zurück zeigt eine mit Büschen locker bewachsene Anhöhe, eine verwilderte Brache.

Nichts deutet darauf hin, dass dies ein bedeutender historischer Ort ist. Genau hier hat der Stolper Gastwirt Johann Friedrich Stimming 1794 ein neues Gasthaus errichtet, damals weit und breit das einzige Gebäude an der gerade fertiggestellten Chaussee, die das königliche Schloss in Berlin mit der Hohenzollernresidenz in Potsdam verband. Es war eine der in Preußen am meisten und von den wichtigsten Würdenträgern befahrenen Strecken, und so wurde Stimmings Krug in den folgenden Jahren eine der am besten besuchten Gaststätten im ganzen Land.

Hier konnten die Kutscher ihre Pferde wechseln, die in Richtung Potsdam noch den ordentlichen Anstieg am Schäferberg zu bewältigen hatten, es gab Fremdenzimmer zur Übernachtung, Speis und Trank und von der hinteren Veranda einen bezaubernden Ausblick über den Großen Wannsee. Dessen Ufer lagen in jenen Jahren noch völlig unberührt in der Natur, begrenzt von Schilf, Kiefernwäldern im Westen und den hellen Hügeln des Sandwerders im Osten. Schräg gegenüber dem Krug lag auf der anderen Straßenseite das Chausseehaus, wo der preußische Staat die Maut für die Benutzung von Straße und Brücke kassierte. Reisende mussten hier also ohnehin einen Halt einlegen, den konnte man dann gut zur Einkehr im Gasthaus nutzen.

Stimmings Krug war auch ein beliebtes Ausflugsziel für die Berliner und schließlich jener Ort, an dem Heinrich von Kleist mit seiner Gefährtin Henriette Vogel die letzte Nacht verbrachte, bevor er sich und seiner todkranken Begleiterin am 21. November 1811 ganz in der Nähe, auf der Anhöhe über dem heutigen Kleinen Wannsee, das Leben nahm. Ein für die Geistesgeschichte Deutschlands bedeutsames Ereignis, das zum Entstehen des „Mythos Wannsee“ beigetragen hat. Es gibt heute zwar einen Erinnerungsparcours, der von der Dampferanlegestelle zum Kleistgrabmal in der Bismarckstraße führt, doch der eigentliche Ausgangspunkt des letzten Weges des lebensmüden Paares, Stimmings Krug, bleibt ein anonymes, verwildertes Privatgrundstück ohne jeden Hinweis. Das ist umso unverständlicher, als dieser Ort auch für die weitere Entwicklung Wannsees von zentraler Bedeutung war.

Theodor Fontanes Visionen

1861 beschrieb Theodor Fontane in der Neuen Preußischen Kreuzzeitung mit schwärmerischen und geradezu prophetischen Worten die Schönheit und die Perspektiven dieser märkischen Landschaft anlässlich eines Ausflugs an den „Wannensee“:

„Unmittelbar an der Stelle, wo die Chaussee (die rasch wieder Wald einwärts biegt) die Südspitze des Sees berührt, erheben sich waldbekränzte Hügel zu beiden Seiten, von deren Kuppen aus man des prächtigsten Anblicks genießt. Wir wählen die Hügelgruppe zur Linken, sitzen, den Arm um eine Fichte gelehnt, die Füße über der Tiefe, wie in einem natürlichen Amphitheater und überblicken ein reiches Landschaftsbild, das durch die Chaussee-Linie, die sich hindurchzieht, in zwei beinahe gleiche Teile geteilt wird. Uns zu Füßen und weiter nach links hin dehnt sich das Stolper Loch, ein unterbundener Havelarm, der nun ohne Zirkulation und Leben daliegt – ein Teich wider Willen, dessen moroses Ansehen zu sagen scheint, daß er einst bessere Tage gesehn. Aber diese Trübe, die wir um seinetwillen beklagen, kommt der Landschaft zugute, und See und Röhricht und vor allem der Holzhof (am Ufer des Sees), auf dem die großen Holzsägen geschäftig auf- und niedergehen und mit ihrem melodischen Einklange die Stille unterbrechen, geben ein anziehendes Bild.

Ganz anders zeigt sich das Bild an der anderen Seite der Chaussee. Wenn hier zur Linken die enge Umgrenzung, die Stimmung des Bildes und seine Details einen Reiz schufen, so ist es drüben, jenseits des Weges, die Ausdehnung, die Fläche, der Raum. Es fehlen alle Details, fast fehlt auch die Stimmung; aber der Zauber der Farbe schmeichelt sich in unsere Sinne ein, und das weite tiefe Blau trifft unser Auge wie eine Erquickung. Von dem fernen jenseitigen Havelufer her (Fluß und See haben hier eine Breite von mehr als einer halben Meile) grüßen nur einige rote Dächer; diesseits aber legen sich die schönsten Waldpartien des Grunewalds wie ein weit gespannter Arm um den See herum. Der Grunewald auf diesem Uferstreifen zwischen Pichelsberg und dem Wannensee ist von ganz besonderer Schönheit. (…)

An dieser Stelle, auf dem Plateau am Wannensee (wenn unsere Wünsche in Erfüllung gehen), werden sich innerhalb einiger Jahre die Sommerwohnungen vieler unserer Residenzler erheben; hierhin werden die Villen verpflanzt werden, denen es an der Lisière des Tiergartens hin bereits zu städtisch zu werden beginnt. Zwei Fragen drängen sich auf: An welcher Stelle werden die Villen am besten sich erheben? Und zweitens (eine Frage, die vielleicht die erste sein sollte): Wird das Entstehen einer Villenstraße, die leicht zu einer Villen-Stadt, wie in England viele solcher Beispiele existieren, anwachsen könnte, nicht die Schönheit, die Frische dieser Waldgegend gefährden?“1

Schon in den Jahrzehnten zuvor hielten Maler den besonderen Reiz der Landschaft am Wannsee fest, wie Jens-Peter Ketels in seinem von Wolfgang Immenhausen herausgegebenen Buch Ein bürgerliches Arkadien in Wannsee anschaulich zeigt, beschreibt und dokumentiert.2 Dabei spielte gewiss auch die bis heute wirkende besondere Aura des Kleistgrabs eine Rolle, das seit 200 Jahren ein magischer Anziehungspunkt für Kunstschaffende aller Richtungen ist.

Ketels und Immenhausen präsentieren in ihrem Bildband liebevoll neunzehn unsignierte und undatierte Aquarelle, die einer 2022 in Berliner Auktionshäusern aufgetauchten geheimnisvollen Mappe mit dem Aufdruck „Wannsee“ entstammen. Sie stellen die Vermutung an, dass der Berliner Bankier Karl Heinrich Wilhelm Conrad sie einst besessen und womöglich sogar in Auftrag gegeben hat. Die Aquarelle „zeugen von großer künstlerischer Qualität und deuten auf eine innige persönliche Beziehung des Künstlers zu dieser Landschaft und dem Anwesen seines Begründers hin“, heißt es im Vorwort.

Gottlob Theuerkauf, Die Villenkolonien am Wannsee, um 1888

Der Begründer, das ist der außerordentlich wohlhabende Bankier und Naturfreund Wilhelm Conrad, dem wir in Kapitel 1 schon begegnet sind. Conrad entdeckte etwa zur gleichen Zeit wie Fontane den besonderen Reiz des Wannsees. Er unternahm Ausflüge mit seiner Familie an den See, jagte wohl auch im Grunewald und verbrachte Wochenenden in Stimmings Krug. Als dieser nach dem Tod des ersten Gastwirts und mehreren Besitzerwechseln 1863 wieder zum Verkauf stand, griff er zu und erwarb das Anwesen, dazu 300 Morgen Land und das Chausseehaus. Doch der erfolgreiche Geschäftsmann, der zu den einflussreichsten Kreisen der Berliner Gesellschaft gehörte, hatte alles andere im Sinn als etwa das Ausflugslokal weiterzuführen, das seine besten Zeiten hinter sich hatte. Wilhelm Conrad verfolgte viel größere Pläne.

Ihm schwebte, ganz im Sinne von Fontanes Visionen, die Entwicklung einer Villenkolonie am Wannsee vor. Und er besaß das nötige Kapital, den Mut und die Tatkraft, das Projekt entschlossen anzugehen. Georg Brasch erinnert in seinem Wannseebuch genau daran: „Man muß sich klarmachen, was das heißen wollte zu einer Zeit, wo Berlin im Westen am Brandenburger und Potsdamer Tor aufhörte und Charlottenburg ein entlegener Vorort war, nach dem man Landpartien in Kremsern unternahm.“3

Eine Sommerkolonie für den Millionenclub

Conrad wie Fontane spürten den Zeitgeist, der die wohlhabenden Großstadtbewohner nach draußen, ins Grüne zog. Fort von der Hektik, dem Schmutz und dem Lärm der wachsenden Metropole Berlin, Entwicklungen, die zunehmend auch am Rande des Tiergartens zu spüren waren. Dort hatten sich die mit der Industrialisierung reich gewordenen Unternehmer und das städtische Großbürgertum seit der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts prächtige Anwesen bauen lassen. Auch Wilhelm Conrad wohnte dort in einer ansehnlichen Stadtvilla und kannte die Bedürfnisse seiner Nachbarn. Während in den Straßen am Tiergarten jedermann herumspazieren und mehr oder weniger neidische Blicke auf die Anwesen der Reichen werfen konnte, sann er auf eine höchst exklusive Kolonie in herausragender Lage, für die er sichere Interessenten in seinem Club von Berlin sah, dessen Vorsitzender er eine Weile war. Es handelte sich um einen elitären Männerclub von Industriellen, Bankiers und Politikern, aber auch von bekannten Künstlern und Wissenschaftlern mit größtem Einfluss auf die Geschehnisse in der Hauptstadt, im Volksmund auch „Millionenclub“ genannt.

Der Wannseechronist Brasch war noch im Jahre 1926 voller Verständnis für die Übertragung dieses exklusiven Konzepts auf die neue Villenkolonie: „Eine Uferstraße wurde nicht angelegt, und es wäre töricht, aus heutigem übersozialen Empfinden heraus dem Begründer von Wannsee daraus nachträglich einen Vorwurf machen zu wollen. Wer von ihm Gelände kaufte, um sich einen vornehmen schönen Sommersitz nach englischen oder italienischen Vorbildern zu schaffen, machte mit Recht Anspruch auf seinen Anteil an Ufer und Wasser. Spazierwege und Erholungsstätten für Berliner Ausflügler zu schaffen war nicht Sinn und Zweck der Gründung. Man suchte im Gegenteil Ruhe und Abgeschlossenheit.“4 Und so sind der Große und der Kleine Wannsee bis heute öffentliche Gewässer, die kaum öffentliche Zugänge zum Wasser kennen.

Mit dieser Philosophie im Kopf beauftragte Conrad den bedeutenden Gartenarchitekten Gustav Meyer mit dem Entwurf für eine Wohnparklandschaft nach Vorbildern aus London und Hamburg, wobei besonders der Stadtteil Uhlenhorst als Modell diente. Meyer war ein Schüler und Mitarbeiter von Peter Joseph Lenné, dem langjährigen General-Gartendirektor der preußischen Könige, der großen Anteil an der Gestaltung der heute zum UNESCO-Welterbe zählenden weiträumigen Potsdamer Park- und Schlösserlandschaft hatte. Während es sich bei dem Auftrag Conrads um ein höchst elitäres Projekt handelte, hatte sich Meyer in seiner Eigenschaft als erster „Städtischer Gartenbaudirector zu Berlin“ bereits einen Namen als Schöpfer der großen Volksparks wie Friedrichshain, Humboldthain und Treptower Park gemacht, die er ausdrücklich als öffentliche Erholungsgebiete für die breite Berliner Bevölkerung geplant hatte.

Dem von Conrad gewünschten landschaftsarchitektonischen Gesamtkunstwerk gab er im Zentrum die Form eines Hippodroms, einer oval angelegten Ringstraße, durch das die Königstraße als Längsachse verlief. Die Mehrheit der Grundstücke wies Größen zwischen 5000 und 12 000 Quadratmetern auf, einzelne hatten sogar bis zu 25 000 Quadratmeter. Sie wurden nach dem Clubprinzip vergeben: „Die Größe der Grundstücke, die besondere Erlesenheit, die Praxis einer Probewohnzeit, nach der erst über die endgültige Zuzugsmöglichkeit eines Interessenten entschieden wurde, verstärkte den Reiz für gut situierte Bürger, einen Sommersitz am Wannsee zu erwerben“, beschreibt Ketels das Vorgehen Conrads. „Die Lebensformen am Wannsee basierten also in umfassender Weise auf dem Prinzip selektiver Inklusion; in verschiedener Form wurde hier sogar eine Art Überexklusivität der Lage produziert.“5 Dazu gehörte auch wie selbstverständlich der Zugriff auf das Wasser in Form privater Stege an jedem Grundstück und eines Segelclubs für Kolonisten. „Das heißt, auch der öffentliche Raum wurde privat konstituiert.“

Situations-Plan von der Villen-Colonie Alsen, 1883

Wilhelm Conrad nahm persönlich die Auswahl der künftigen Kolonisten vor und ließ im Grundbuch genaueste Vorgaben für die Anlage der Grundstücke eintragen: „Ställe und kleinere Nebengebäude dürfen hart an der nachbarlichen Grenze errichtet werden, müssen aber nach der Straße zu ausgebildete Fassaden haben. Die nach dem Nachbargrundstück zu belegenen Wände solcher Stall- und Nebengebäude darf der Nachbar zur Berankung nutzen, ohne dadurch zur Unterhaltung der betreffenden Wände verpflichtet zu werden. Die einzufügenden Villen müssen wenigstens eine halbe Ruthe von der Nachbargrenze und von der Straße entfernt bleiben.“ So lautete eine Passage im Kaufvertrag mit dem Architekten Walter Kyllmann für das Grundstück Am Kleinen Wannsee 4.6

Conrad war nicht nur der Gründer der Villenkolonie, sondern auch ihr erster Bewohner. 1870 ließ er Stimmings Krug an der Königstraße abreißen und beauftragte die Berliner Architekten von der Hude und Hennicke mit dem Bau einer Villa im spätklassizistischen Stil. Gustav Meyer entwarf für das Seegrundstück eine phänomenale Gartenlandschaft mit diversen Nebengebäuden wie Gästehaus, Holzpavillon, Bootshaus und selbstverständlich einer Landungsbrücke. Haus und Garten waren das erste Anwesen der neuen Kolonie, das den Maßstab für die weitere Bebauung setzte. Mit seiner exklusiven Lage am Südufer des Sees bildete es einen markanten Auftakt des außergewöhnlichen architektonischen Reigens, der sich in den folgenden Jahren an den Ufern des Großen und des Kleinen Wannsees entwickeln sollte. Conrad nannte sein Haus Villa Alsen, auch das ein Hinweis darauf, dass es für die ganze Kolonie stehen sollte, der er den gleichen Namen gab. Der patriotisch gesinnte Geschäftsmann wollte damit den preußischen Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 rühmen, in dessen Verlauf die dänische Insel Als, zu Deutsch Alsen, erstürmt wurde. Sie gehörte fortan bis 1920 zu Deutschland.

Zeichen von Conrads ausgeprägtem Nationalismus war auch, dass er eine Kopie des Flensburger Löwen anfertigen ließ, eine ursprünglich von einem dänischen Künstler geschaffene Skulptur zur Feier des Sieges der Dänen über die Schleswig- Holsteiner in der Schlacht von Idsted 1850. Nach dem deutschen Sieg von 1864 ließ der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck die fast vier Meter hohe Skulptur aus Flensburg nach Berlin entführen, wo sie in der Kadettenanstalt in Lichterfelde aufgestellt wurde. Conrad platzierte seine Kopie auf einer Art Schanze auf einer „Schweiz“ genannten Anhöhe am Rande seiner Kolonie in der nach ihr benannten Straße zum Löwen mit weitem Blick über See und Landschaft. 1938 wurde der zwei Tonnen schwere Löwe an seinen jetzigen Standort am Heckeshorn direkt am Seeufer umgesetzt. Das Original gaben die Amerikaner 1945 an Dänemark zurück. Es steht im Garten des Zeughauses in Kopenhagen.

Skulptur Flensburger Löwe von Hermann von Bissen am Heckeshorn in Berlin-Wannsee

Wie der Bauboom der 1970er Jahre historische Substanz verdrängt

Genau 100 Jahre sollte Conrads Villa an ihrem historischen Ort stehen, inzwischen selbst ein Denkmal der Geschichte Wannsees. Doch das bedeutete noch lange nicht, dass sie auch unter Denkmalschutz stand. Nachdem die Erben Conrads den Besitz nach dessen Tod 1906 verkauft hatten, wurde das Grundstück neu parzelliert und die Villa ging durch diverse Hände, überstand mit leichten Schäden den Zweiten Weltkrieg und verfiel dann zusehends, bis sie 1970 abgerissen wurde. Kaum jemand scherte sich in diesen vom West-Berliner Bauboom geprägten Jahren um den Erhalt historischer Substanz. Die Vorsitzende des Vereins für Kultur und Geschichte in Wannsee, Hannelore Bolte, spricht rückblickend von einem unverantwortlichen Vorgang.

Villa Alsen, Aufnahme von 1954

Der Tagesspiegel widmete dem Abriss am 5. April 1970 immerhin einen kleinen Zweispalter mit durchaus kritischer Sichtweise: „In aller Stille verschwand jetzt aus Wannsee ein Stück Geschichte: die Villa Alsen in der Königstraße 3a, auf historischem Boden im vorigen Jahrhundert erbaut, wurde abgerissen. Auf dem Grundstück soll ein modernes Appartementhaus errichtet werden. Alteingesessene Wannseeaten betrauern den Abriss. Ja, sie gehen noch weiter. Sie machen dem Bezirksamt den Vorwurf, dass es das Alte mit Stumpf und Stiel ausrotte, ohne sich um die geschichtliche Bedeutung zu kümmern. Die Villa Alsen war nämlich der Grundstein des Zehlendorfer Ortsteils Wannsee.“

Der Autor verweist dann auf die noch ältere Bedeutung des historischen Orts und erinnert an die letzte Nacht Heinrich von Kleists und seiner Gefährtin Henriette Vogel in Stimmings Gasthaus vor ihrem Freitod – „auf dem Grundstück endete ein tragisches Kapitel der deutschen Literaturgeschichte“. Doch das sei für das Zehlendorfer Bezirksamt nicht Grund genug gewesen, die Villa stehen zu lassen. „Die Baufachleute lassen sich bei Fragen des Abrisses nur von architektonischer Bedeutsamkeit lenken. Und die sei nach Auskunft der zuständigen Bauabteilung nicht vorhanden gewesen. Das Gebäude stand nicht unter Denkmalschutz.“ Der Autor beschreibt eine Haltung im Bezirksamt, die sich auch 50 Jahre später offenbar erhalten hat, wie wir noch sehen werden.

Allerdings berichtete der Tagesspiegel am 17. April 1970 auch über denkmalschützerische Bemühungen: „In dem vom viel zitierten Villensterben in Berlin am meisten bedrohten Bezirk Zehlendorf ist jetzt mit den ersten Maßnahmen zur Bestandserhaltung begonnen worden. Viel könne die Verwaltung zwar nicht unternehmen, meinte gestern Baustadtrat Doktor Rothkegel dazu. Aber sie wisse jetzt doch wenigstens, um welche Bauten sie sich zu kümmern habe. Im Planungsamt des Bezirks liegt eine Liste der erhaltungswürdigen Gebäude vor.“

Diese von einer Arbeitsgruppe an der Technischen Universität unter Leitung des bedeutenden Architekturhistorikers Julius Posener erarbeitete Bestandsaufnahme von 180 Villen in allen Zehlendorfer Ortsteilen sei in drei Kategorien eingeteilt: unbedingt erhaltenswert, wünschenswert und Gebäude, über deren Erhalt man sich „freuen“ würde. Welche Bedeutung diese Liste für den Denkmalschutz letzten Endes hatte, ist unklar.

Auf dem Grundstück an der Königsallee entstand nun ein mehrgeschossiges Appartementhaus im Betonstil jener Zeit, aus dem ein Hotel wurde, das ab Mitte der 2000er Jahre leer stand und verfiel. Ein Schandfleck in bester Lage am Ortseingang von Wannsee, auf einem in doppelter Hinsicht historischen Platz, dessen Bedeutung weiterhin niemand zuständiges zur Kenntnis nahm.

Das etwa 7000 Quadratmeter große Grundstück ging dann in den Besitz des Berliner Unternehmers und Mäzens Abris Lelbach über, der die Bauruine abreißen und große Pläne für eine „modernisierte Villenarchitektur“ entwickeln ließ. Aus einem Entwurfswettbewerb unter prominenter Beteiligung, aber auch des Bezirksamtes Steglitz, ging 2010 das Berliner Büro Bernd Albers als Sieger hervor. Dessen Entwurf sieht ein massiges Apartmentgebäude vor, das sechs Etagen hoch in den Wannseehimmel streben soll und weit über die benachbarten Bootshäuser und Villen hinausragen würde. Das Bezirksamt hatte in einem Vorbescheid entgegen dem Bebauungsplan die Errichtung dieses mehrgeschossigen Hauses genehmigt. Nun regte sich doch Protest in Wannsee. Es entwickelte sich ein über viele Jahre währender Rechtsstreit, der exemplarischen Charakter für das wachsende Bemühen vieler Bürger von Wannsee erhielt, das historische Ortsbild, soweit noch möglich, zu erhalten. Er sei daher hier ausführlich dargestellt.

Vor allem der Potsdamer Yacht Club (PYC), der seit 1907 mit seinem Clubhaus auf dem östlichen Teil des ehemaligen Conrad-Grundstücks ansässig ist, wollte einen solchen Angriff auf das Landschaftsbild nicht hinnehmen. Denn trotz aller Bausünden der vergangenen Jahrzehnte gilt am See immer noch eine Grundregel: Die sogenannte Traufhöhe neuer Gebäude soll nicht höher als die Baumwipfel liegen. Der Club klagte gegen die Pläne und bekam über drei Instanzen bis zum Bundesverwaltungsgericht recht, das 2018 wie die unteren Gerichte entschied: Die Genehmigungen des Bezirksamtes seien rechtswidrig und verstießen gegen den Bebauungsplan aus dem Jahr 1959. Die Entscheidung ist inzwischen als „Wannsee-Urteil“ als exemplarisch für ähnliche Streitfälle in die Rechtsgeschichte eingegangen.

Die Mitglieder des Yachtclubs und viele interessierte Bürger atmeten auf und dachten, die Sache sei nun erledigt. Doch der Investor Lelbach ließ nicht locker und reichte 2021 neue Baupläne für das Grundstück ein. Das Bezirksamt lehnte auch diese ab, da auch sie mindestens drei statt zwei Geschosse vorsahen. Doch im Jahr 2023 trat ein neuer Baustadtrat von der CDU in Steglitz-Zehlendorf sein Amt an und traf eine ebenso überraschende wie die Anwohner alarmierende Entscheidung: Er befreite die Pläne von den Vorgaben des Bebauungsplans und erklärte die Geschosszahl für „städtebaulich vertretbar“. Nun ging die Auseinandersetzung in eine neue Runde, der PYC legte Widerspruch gegen die Entscheidung ein und ist auch zu einer neuen Klage bereit, wie der Vorsitzende Benedikt Heüveldop bei einem Besuch am Wannsee versichert. „Sonst hätten wir ja die 50 000 Euro, die unsere Mitglieder für das bisherige Verfahren aufgebracht haben, umsonst ausgegeben. Das würde niemand verstehen“, sagt er.

Heüveldop führt den Besucher bis an das Ende eines der Bootsstege, von wo aus man einen guten Blick auf das Nachbargrundstück hat. Er verweist auf eine massive Aufschüttung, mit der Lelbach inzwischen neue Fakten geschaffen habe. Nun befinde sich die zu bebauende Fläche nicht mehr auf Ufer-, sondern auf Straßenniveau. Damit dürfte ein neues Gebäude etwa acht Meter über das Clubhaus des PYC hinausragen und das Landschaftsbild deutlich verändern. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Investor und ein Bezirksbaustadtrat ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts so einfach aushebeln können“, sagt Heüveldop, ein entspannter Mann in Jeans und Pullover, der so gar nicht dem Klischee der hochnäsigen Yachtbesitzer vom Wannsee entspricht. Er ist guten Muts, dass sein Segelclub sich weiter erfolgreich für den Erhalt des Landschaftsbildes am Wannsee engagieren wird. Immerhin nehmen die öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung zu. Nicht zufällig tagt der Verein für Kultur und Geschichte in Wannsee regelmäßig in den Räumen des PYC.

Anfang 2024 ließ sich noch nicht absehen, ob sich eine gütliche Einigung über eine künftige Bebauung dieses historischen Ortes mit Respekt vor seiner Geschichte und dem Landschaftsbild finden lässt oder ob eine neue Klagerunde beginnt. Es klingt fast wie Ironie, dass zu den Zwecken der von dem Investor eingerichteten Lelbach Stiftung die Förderung des Natur- und Umweltschutzes und der Landschaftspflege zählt. Laut Webseite ist das Kapital der Stiftung „vorrangig in Immobilien in städtebaulich interessanten Lagen mit historischem Hintergrund investiert“. Neben diversen anderen Objekten vor allem in der Potsdamer Altstadt ist dort auch das Grundstück an der Königstraße 3b–4 aufgeführt. Über das Aufstellen eines Klohäuschens ist das Engagement an diesem für Wannsee so bedeutsamen Ort freilich noch nicht hinausgekommen.

Märchenschlösser und rauschende Gesellschaften

Doch kehren wir zu den Anfangsjahren der Kolonie Alsen zurück. 1872 lebten 64 Bewohner vornehmlich während der Sommermonate in zwölf Villen, 1890 waren es bereits 189 Personen. Die Grundstücksgeschäfte von Wilhelm Conrad liefen bestens. Mit dem Ende der 1880er Jahre bezogen immer mehr Kolonisten ihre Villen als Hauptwohnsitz. Sie ließen sie nun mit Heizungen und Doppelfenstern ausstatten, um auch die strengen Berliner Winter komfortabel am Wannsee verleben zu können.

Die Liste der Namen der Prominenten, die sich hier im Laufe der Jahrzehnte eine Villa zulegten, ist beeindruckend: Ob Maler wie Oscar Begas und Max Liebermann, die Verleger Fritz und Ferdinand Springer, Industrielle wie Franz Oppenheim und Arnold von Siemens oder der Kaufhausbesitzer Adolf Jandorf – die Kolonie wurde zum Wohnort der Berliner Elite. Allein fünf Präsidenten der Akademie der Künste, Anton von Werner, Carl Becker, Hermann Ende, Johannes Otzen und Max Liebermann, lebten im Laufe der Jahre in Wannsee und machten es ungeachtet – oder auch gerade wegen – seiner Ferne vom Berliner Zentrum vor allem in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu einem Ort glänzender gesellschaftlicher Begegnungen.

Dazu dienten ihre weitläufigen Villen und Parks, wie Georg Brasch sie nach einem Besuch in der Villa von Hermann Ende am Kleinen Wannsee 6 beispielhaft beschreibt: „Der Eingang liegt wie zu einem Märchenschloss über den efeuumsponnenen kleinen Gartenhof mit Säulen und Springbrunnen, Freitreppe und Terrasse. Und innen jeder Raum eine Überraschung, sei es durch einen Ausblick auf den See, einen lauschigen Erker, Vitrinen mit den schönsten venezianischen Gläsern oder ein besonders wirkungsvoll aufgestelltes Kunstwerk der Antike oder Renaissance. Dann durch Stuben hinab in den prächtigen Festsaal, der bequem Platz für 100 Personen bot und geheimnisvolle Stufen hinauf zu der in erster Abgeschlossenheit liegenden Bibliothek mit ihrem durch Kirchenfenster gedämpften Licht. Schließlich durch den geräumigen Wintergarten hindurch auf die große Garten Terrasse und herunter nach dem Ufer des kleinen Wannsees.“

Man kann sich vorstellen, welch rauschende Gesellschaften sich hier entfalten konnten. Viele der reichen und anspruchsvollen Bauherren zeigten dabei den Ehrgeiz, mit ihren Architekten immer noch prächtigere und eindrucksvollere Villen in die Seelandschaft zu bauen, die so nach und nach zu einem großbürgerlichen Gegenentwurf zum Arkadien der Hohenzollern in und um Potsdam wurde – oder zu dessen Erweiterung, ganz wie man will.

Nur wenige dieser Prachtbauten sind noch erhalten, darunter auch die an ein Märchenschloss erinnernde Villa Herz Am Großen Wannsee 52/54. Sie ist nach ihrem ersten Besitzer und Bauherren Paul Hertz benannt, der einer alten jüdischen Kaufmannsfamilie entstammte. Er ließ die Villa 1891/92 von Wilhelm Martens, einem Schüler von Martin Gropius, als Sommerwohnsitz bauen. 1926 kaufte der den Nazis nahestehende Schokoladenfabrikant Nelson Faßbender die Villa der Witwe Ida Herz ab. Zehn Jahre später veräußerte er das Anwesen an die nationalsozialistische Deutsche Arbeitsfront und erwarb dafür 1937 kostengünstig die „arisierte“ Villa des jüdischen Ehepaars Czapski in der Straße Zum Heckeshorn 1– 3, das mit knapper Not in die USA flüchten konnte. Es ist ein typisches Beispiel dafür, wie die Nationalsozialisten ab 1933 nach und nach Besitz von Wannsee ergriffen.

Villa Herz

Nach Kriegsende quartierte das Rote Kreuz Flüchtlinge in der Villa ein, es folgte ein Café der US-Armee. 1950 übernahm das Land Berlin das Anwesen, das nun als Gästehaus diente. Spätere Nutzer waren ein Jugenderholungsheim und ein Seglerverein. 1990 wurden Haus und Park als denkmalwert eingestuft und in Privatbesitz verkauft. Die Villa taucht häufiger als Kulisse in Film- und Fernsehproduktionen auf, darunter die Verfilmung von Edgar-Wallace-Krimis. Weitere erhaltene Anwesen in der näheren Nachbarschaft am Großen Wannsee sind die weithin bekannte Liebermann-Villa und die Villa der Wannseekonferenz sowie die von dem Architekten Alfred Messel erbauten Villen der Verlegerfamilie Springer und der Familie Oppenheim. Das weitläufige, mehrfach erweiterte Grundstück der Letzteren mit zahlreichen Nebengebäuden erstreckte sich zwischen den Straßen Am Großen Wannsee und Zum Heckeshorn. Auf dem inzwischen in mehrere Grundstücke neu aufgeteilten Gelände findet sich noch die eigentliche Villa mit der heutigen Adresse Zum Heckeshorn 38, die Sitz einer Montessorischule ist.

In den 1960er Jahren gab es eine Phase, da Wannsee durch den Mauerbau vielen als eine wenig attraktive Randlage galt. Das öffnete Chancen für den Zuzug ganz anderer Schichten, als der Gründer Wilhelm Conrad im Auge hatte. Ein gutes Beispiel dafür ist ein Gelände aus dem Besitz der Post ausgerechnet in der nach ihm benannten Conradstraße, im Kern der Kolonie Alsen. Hier schuf um 1965 der genossenschaftliche Wohnungsbauverein Neukölln einige bescheidene Mehrfamilien- und Reihenhäuser im sozialen Wohnungsbau. Sie tragen den anspruchslosen Stil jener Jahre, manche haben aber Blick auf den Wannsee. Die gut gepflegte Siedlung hat zwar nichts mit den architektonischen Traditionen der Umgebung gemein, aber man weiß aus anderen Beispielen, dass es auch sehr viel schlimmer hätte kommen können.

Der Kampf um die Villa Liebermann

Typisch für das Desinteresse der Berliner Behörden am Schicksal vieler Häuser aus der Kolonie Alsen nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Geschichte der Liebermann-Villa. Sie konnte nur dank des Eingreifens engagierter Bürger mit knapper Not gerettet und zu dem strahlenden Kulturdenkmal entwickelt werden, das heute Besucher aus aller Welt anzieht.

Die Villa Liebermann heute

Erst relativ spät, 1909, war es dem Maler Max Liebermann gelungen, eines der letzten Wassergrundstücke am Großen Wannsee zu erwerben. Er gehörte nun schon zur zweiten Generation in der Kolonie Alsen, deren Begründer 1899 gestorben war. Gemeinsam mit seinem Freund Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, machte Liebermann sich an die Planung von Haus und Garten. Als Architekt wirkte Otto Baumann, ein Schüler Alfred Messels, der schon verschiedene Villen in der Nachbarschaft entworfen hatte. Später entwickelte sich Baumann zu einem der von Hitler bevorzugten Architekten für repräsentative Nazibauten. „Gestern habe ich den ganzen Tag gebaut u über den Grundriß sind wir so ziemlich klar (ich bringe die Pläne mit). Nicht so über die Facade, die zu sehr nach einem Bauernhause aussieht: ich möchte ein Landhaus, das sich ein Städter gebaut hat. Wie überall ist das einfachste das schwerste“, schrieb Liebermann im Juli 1909 an Lichtwark, offenbar kurz vor einem Besuch in Hamburg.7

Bereits im Frühjahr 1910 war die Villa fertig, deren Fassade zur Straße von zwei mächtigen Muschelkalksäulen geprägt wird. Die Seeseite mit ihrer großen Terrasse wirkt schlicht und tatsächlich großstädtisch. Sie überlässt die Hauptrolle dem wunderschön gestalteten Garten, den Liebermann auf vielen Gemälden mit seiner ganzen Vielfalt und Farbenpracht dargestellt hat. Bis zum Tod des Malers verließen die Liebermanns nun für den Sommer ihr auch sehr attraktiv gelegenes Stadthaus am Brandenburger Tor und verbrachten einige Monate regelmäßig am Wannsee, in ihrem „Schloss am See“.

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben der jüdischen Familie Liebermann, verbunden mit einem Berufsverbot für den Maler, der 1935 starb. Drei Jahre später gelang Liebermanns Tochter Käthe mit ihrem Ehemann und ihrer gemeinsamen Tochter Maria die Emigration in die USA, wie es in einer Chronik des Liebermann-Museums heißt.8 Ihre Mutter Martha entschied sich, in Berlin zu bleiben, wo sie mehr und mehr Opfer der immer schärferen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch das Naziregime wurde.

1940 griffen die Nazis im Zuge ihrer Aneignung von Reiz und Ruhm Wannsees auch auf dieses attraktive Anwesen zu. Sie zwangen Martha Liebermann, die Villa an die Deutsche Reichspost zu verkaufen, die dort ein „Lager für die weibliche Gefolgschaft“ einrichtete. Den viel zu niedrig angesetzten Kaufpreis musste sie auf einem Sperrkonto hinterlegen. Nach dem Zwangsverkauf wurde der Garten fast völlig zerstört und mit dem Park der benachbarten Villa des bereits verstorbenen AEG-Direktors Johann Hamspohn zusammengelegt. Der durch Liebermann gepachtete nördliche Teil des Grundstücks, auf dem er die Heckengärten hatte pflanzen lassen, wurde 1941 zugunsten eines direkten Zugangs zum See als Löschwasserweg für die Feuerwehr wieder abgetrennt.

Als die Gestapo am 5. März 1943 die 86-jährige Martha Liebermann zur Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt abholen wollte, gelang es ihr, eine Überdosis Schlafmittel zu nehmen. Sie wurde in das Jüdische Krankhaus in der Iranischen Straße gebracht, wo sie wenige Tage später starb.

In den letzten Kriegsmonaten diente die Villa am Wannsee als Lazarett und überdauerte den Krieg wie die meisten Anwesen in der Villenkolonie Alsen. Nach 1945 richtete das Städtische Krankenhaus Wannsee dort und in der benachbarten Villa Hamspohn die chirurgische Abteilung ein. Auch weitere Villen wurden für das Krankenhaus requiriert. Das ehemalige Atelier Liebermanns im ersten Obergeschoss wurde als Operationssaal genutzt, wofür das hohe Tonnengewölbe hinter einer abgehängten Decke verschwand, wie in der Villa ausgestellte historische Fotos zeigen.

Liebermanns nach New York emigrierte Tochter erhielt 1951 im Zuge eines sogenannten Wiedergutmachungsverfahrens das Anwesen zurück. Daraufhin schloss sie einen Pachtvertrag mit dem Krankenhaus. Sieben Jahre später verkaufte Maria White, die Enkelin der Liebermanns, das Grundstück an das Land Berlin, das es dem Bezirk Zehlendorf zur weiteren Nutzung als Krankenhaus übertrug. Ab 1971 verpachtete der Bezirk die Villa nach zwei Jahren Leerstand an den Deutschen Unterwasser-Club, der aus der Malervilla ein Vereinsheim für Taucher und Taucherinnen machte.

Das Wissen um die Vergangenheit des Anwesens als Residenz des Malers Max Liebermann begann zu schwinden. Erst in den 1980er Jahren gelang es, den in seinen Grundstrukturen erhaltenen Garten unter Denkmalschutz zu stellen. „Langsam konnte auch die Villa wieder mit Liebermann als Künstler in Verbindung gebracht werden“, heißt es in der Chronik des Museums. Und weiter: „Anfang der 1990er-Jahre existierte deutschlandweit noch kein Museum zu Liebermann und seinem Werk“, trotz seiner Bedeutung als einer der wegbereitende Maler des deutschen Impressionismus, langjähriger Vorsitzender der preußischen Akademie der Künste und Gegner der Nationalsozialisten.

Im Dezember 1992 veranstaltete der Kölner Kunstsalon Franke in den Vereinsräumen des Unterwasser-Clubs eine Liebermann-Verkaufsausstellung. Zum ersten Mal nach 1945 waren wieder Gartenbilder des Malers am Ort ihres Entstehens zu bewundern. 18 000 Besucher kamen in das ehemalige Sommerhaus, um seine Bilder zu besichtigen. Die Bild schrieb aus diesem Anlass über Liebermann: „Er ist einer der ganz Großen, die Berlin hervorgebracht hat. Aber die Stadt denkt nicht daran, es ihm zu danken.“9 Nicht eines der zum Verkauf stehenden Gemälde wurde von einem der Berliner Museen erworben.

1994 ließ das Landesdenkmalamt eine erste Untersuchung zum Bestand und zur Entwicklungsgeschichte des Liebermann-Gartens anstellen. Haus und Garten waren zu dieser Zeit als Künstlerrefugium nicht mehr wiederzuerkennen. Diese Umstände bewegten im Frühling 1995 fünfzehn Privatpersonen um die Historikerin Annette Ahme und den Wannseer Kunstfreund Wolfgang Immenhausen dazu, die Max-Liebermann-Gesellschaft zu gründen. Sie hatten vor allem ein Ziel: das ehemalige Sommerhaus Max Liebermanns als einzigen verbliebenen authentischen Ort seines Lebens und Wirkens wiederherzustellen und als Museum zu nutzen. 1997, zum 150. Geburtstag Max Liebermanns, beschloss der Berliner Senat endlich „die museale Nutzung der Villa, allerdings ohne Zusage finanzieller Mittel“, wie es in der Chronik heißt. Dank der Unterstützung vieler Privatpersonen und Institutionen gelang es, Villa und Garten ab 2002 zu restaurieren und für die Nutzung als Museum umzubauen. Seit Ende April 2006 sind Haus und Garten originalgetreu wiederhergestellt und für die Öffentlichkeit zugänglich. Zwei Jahre später erhielt die Liebermann-Villa den Europa-Nostra-Preis für herausragende Leistungen in der Erhaltung von Kulturerbe in Europa.

Wannsee ist im Großen und Ganzen ohne größere Kriegsschäden geblieben. Dennoch hat die Zeit zwischen 1933 und 1945 insbesondere in der Kolonie Alsen fatale Spuren hinterlassen. Die Nationalsozialisten nahmen viele der luxuriösen Wohngebäude für ihre Organisationen in Beschlag, nachdem sie ihre ursprünglichen jüdischen Besitzer in die Emigration verjagt oder in Konzentrationslager verschleppt hatten. Reichssicherheitsdienst, Auswärtiges Amt, Reichspost, NS-Frauenschaft und auch die NSV-Gauschule wurden die neuen Bewohner und bestimmten das Bild am Wannsee; sogar eine Reitbahn der SS fand auf dem Gelände der Villa Oppenheim Platz. Berühmtestes Beispiel ist die ehemalige Villa Marlier, die 1942 als Gästehaus der SS zum Schauplatz der Wannseekonferenz wurde. Nach dem Krieg wurden dann allein sechs prominent am Wannsee liegende Villen in Kliniken umgewandelt und später oft an Wassersportvereine weitergegeben. Das alles veränderte das Leben in der Gegend nachhaltig.

Derweil blieb das Bezirksamt Zehlendorf bis in die jüngste Zeit seiner ignoranten Haltung gegenüber dem Erbe der Kolonie Alsen treu. 2021 scheiterten die Bemühungen von Anwohnern und Architekturexperten, die Conrad-Villa Nr.  3 in der Straße zum Löwen 1 zu retten. Das 1891 als Mietvilla für die Sommermonate gebaute Haus war das älteste erhaltene der Kolonie. Doch die Denkmalbehörden lehnten den Schutz vor dem inzwischen erfolgten Abriss mit der Begründung ab, es habe im Laufe der Jahrzehnte zu große Veränderungen an dem Gebäude gegeben, es sei somit nicht mehr im Originalzustand. Aber welches Haus ist nach 130 Jahren Nutzung noch im Originalzustand? Fotos zeigen, dass die Villa trotz einiger Um- und Anbauten durchaus noch ihre eigentliche Struktur behalten hatte.

Es gibt also auch heute noch Tendenzen, wie sie Jens-Peter Ketels im Schlusskapitel seines Buches vor allem für die 1970er Jahre attestiert: Es „setzte sich aufgrund der damaligen Prämissen der Wunsch nach Neubebauung und Verdichtung wie im ganzen Berliner Stadtgebiet durch, was zu einer grundlegenden Veränderung der Landschaft um den Wannsee und letztlich zum heutigen eng bebauten Erscheinungsbild mit sehr viel kleinteiligerer Struktur führte.“ 1984 stellte der damalige Vorsitzende der Zehlendorfer Wählergemeinschaft Unabhängiger Bürger (WUB), Stefan Reisner, fest: „Die heutige Spekulation schafft keine Kunstwerke wie die Alsen-Kolonie, sie reißt ab. Und Ahnungslosigkeit, eine geschichtslose Cleverness, der pure Umstand werden oft zur Ursache von nicht wiedergutzumachenden Zerstörungen.“ Als exemplarisch für diese Praxis führt Ketels den Umgang mit der Villa Alsen an und kommt zu dem Ergebnis: „Das von Wilhelm Conrad geschaffene ‚Paradies‘ ist untergegangen.“10 Gewiss war dieses „Paradies“ ein höchst elitäres Projekt. Doch gleichzeitig schufen die Gründer, ihre Landschaftsplaner und Architekten ein städtebauliches Gesamtkunstwerk, das zu schützen und zu erhalten eine kulturhistorische Leistung gewesen wäre.

Der Blick vom anderen Ufer:
Die Villen Am Sandwerder

Wenn man nun auf das andere Ufer des Wannsees schaut, das schon Fontane einst als das am besten geeignete Baugebiet für eine Villenkolonie ausgemacht hatte, fällt der Befund auch nicht so niederschmetternd aus. Dieses Gelände an der heutigen Straße Am Sandwerder bietet wegen seiner höheren Lage auf der Haveldüne einen noch besseren Blick über den Wannsee mit der Insel Schwanenwerder bis hinüber nach Kladow. Es gehörte ursprünglich zum Rittergut des Prinzen Friedrich-Karl von Preußen, der 1864 als Oberbefehlshaber den Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg errang, in dessen Verlauf die Düppeler Schanzen und die Insel Alsen an Deutschland fielen. Aus diesem Grund nannte er sein Rittergut fortan Düppel.

Ihn verband mit dem Gründer der Villenkolonie Alsen, Wilhelm Conrad, nicht nur die nationale Begeisterung über diese Eroberungen. Der Prinz ließ nach dem Vorbild Conrads seinen Besitz am Wannsee parzellieren und ab Mitte der 1870er Jahre als Baugrundstücke an reiche Berliner Investoren verkaufen. Anders als die Kolonie am Westufer entwickelte sich die Bebauung an der damaligen Friedrich-Karl-Straße auf dem Sandwerder nicht aufgrund einer geschlossenen Planung, sondern nach und nach. Dabei entstanden ebenfalls herausragende Villenbauten mit weitläufigen Parkanlagen, die sich bis hinunter an das Seeufer erstrecken. Ihre Türme und Terrassen lugten ebenso wie die der Kolonie Alsen hier und da aus den Bäumen am Ufer hervor und bildeten so eine perfekte Ergänzung des Landschaftsbildes rund um den See. Viele der Villen sind erhalten und stehen heute als Ensemble gemeinsam unter Denkmalschutz.

Das Landesdenkmalamt beschreibt die Lage so: „Die Wassergrundstücke Am Sandwerder 1/41 bilden mit ihren vornehmen Wohnsitzen und ausgedehnten Gartenanlagen ein einmaliges Ensemble von herausragender städtebaulicher, architekturgeschichtlicher und gartenkünstlerischer Qualität.“ Kennzeichnend sei „die zurückgezogene, von der Straße kaum einsehbare Lage der prächtigen Villen und Landhäuser. (…) Hoch über dem Wannsee, mit weitem Abstand vom Ufer zeigen sie repräsentative, auf Fernsicht konzipierte Fassaden.“ Hervorgehoben werden auch die entlang der Straße errichteten Remisen, Pförtner- und Gärtnerhäuschen. „Ab 1874, über einen Zeitraum von rund 60 Jahren entstanden, sind viele unterschiedliche, zumeist aber konservative Baustile vertreten.“

Das Landesdenkmalamt fährt fort: „Parallel zur baulichen Entwicklung hat sich zwischen der Straße Am Sandwerder und dem Seeufer eine einzigartige Gartenlandschaft entwickelt; einige der herausragenden Anlagen sind bis heute ohne eingreifende Veränderungen überliefert.“ Diese sind freilich für die Öffentlichkeit kaum zugänglich. „Die Gärten […] dokumentieren die Entwicklung der Gartenkunst für diesen Zeitraum – vom Landschaftspark bis zum architektonisch gestalteten Garten – und gehören damit zu den bemerkenswertesten Anlagen Berlins.“11

Wir schauen uns einige Beispiele genauer an. Gleich am Anfang der Straße steht mit der Hausnummer 5 die prächtige Villa Guthmann, in der heute das Literarische Colloquium zu Hause ist. Sie gehörte einst Robert Guthmann, Besitzer des größten Kalksandsteinwerks Europas bei Königs Wusterhausen. Nur wenige Meter weiter erhebt sich mit der Hausnummer 9 die imposante Villa Otzen, die sich der Architekt und spätere Präsident der Akademie der Künste Johannes Otzen 1882/83 nach eigenen Entwürfen bauen ließ. Sie nimmt nach dem Urteil des Landesdenkmalamtes eine herausragende Stellung unter den Villenbauten Berlins ein. Die Gesellschaftsräume gelten mit ihrer originalen Ausstattung als einzigartiges Zeugnis großbürgerlicher Wohnkultur des ausgehenden 19.  Jahrhunderts. Einiges von dem glänzenden Berliner Gesellschaftsleben, das sich in den Villen am Sandwerder zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 entwickelte, blitzt heute bei den Veranstaltungen und Gartenfesten des Literarischen Colloquiums wieder auf. Wir stellen dieses kulturelle Leuchtfeuer am Wannsee mit seiner weit über Berlin hinausreichenden Strahlkraft an anderer Stelle ausführlich vor.

Wenige Häuser weiter, Am Sandwerder 17/19, steht das 1886 ebenfalls von Johannes Otzen für den Industriellen Franz Oppenheim und seine erste Frau Else, eine geborene Mendelssohn, entworfene Anwesen. Der aus einer bedeutenden jüdischen Familie stammende Oppenheim spielte eine wichtige Rolle beim Aufbau der deutschen chemischen Industrie und gehörte der Leitung des Fotokonzerns Agfa sowie der I.G.  Farben an. Nach dem Tod seiner ersten Frau 1904 heiratete Oppenheim Margarete Wollheim, eine bedeutende Kunstsammlerin jener Zeit. Sie ließen sich am Heckeshorn, nun auf der anderen Seite des Wannsees, eine weitläufige Villa von dem Architekten Alfred Messel bauen, die als Villa Oppenheim in die Geschichte eingegangen und ebenfalls erhalten ist.

Ein Haus als Spiegel der Geschichte

Das Haus mit der Adresse Am Sandwerder 17/19 kaufte 1927 der jüdische Bankier Hans Arnhold und ließ es zu einem modernen Wohnsitz seiner Familie umbauen. Dabei verschwanden alle neugotischen Elemente des ursprünglichen Baus. Die historische Struktur aber mit den beiden Torhäusern – in einem lebte der Gärtner, im anderen der Kutscher bzw. Chauffeur – blieb erhalten. Die beiden Gebäude imitieren den Stil der Villa und rahmen die Zufahrt, die auf einem kleinen Vorplatz mündet. Diese typische Torsituation wiederholt sich auf den benachbarten Grundstücken.

Von nun an spiegelte dieses Anwesen viel von der bewegten deutschen Geschichte der folgenden Jahrzehnte. In den späten 1920er Jahren führten die Arnholds ein offenes Haus, in dem sich regelmäßig Künstler und Intellektuelle aus dem Kulturleben der Weimarer Republik mit den bekanntesten Bankiers und Industriellen trafen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten mussten die Arnholds aus Deutschland flüchten und ließen sich schließlich in New York nieder. Ihr Haus eignete sich die Deutsche Reichsbank an und überließ es 1938 dem Journalisten und zeitweiligen Pressesprecher Adolf Hitlers, Walther Funk, als dieser Wirtschaftsminister und später Reichsbankpräsident wurde. Er gehörte zu jener Schicht der Nationalsozialisten um Joseph Goebbels, die sich bemühten, das einst pulsierende bunte gesellschaftliche Leben in Wannsee unter braunen Vorzeichen fortzusetzen. Nach 1945 wurde er im Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt, aus der er 1957 entlassen wurde.

Nach dem Krieg benutzte die US-Armee die Villa als Offiziersklub und später als Freizeitzentrum, das bis in die 1990er Jahre zu einem lebendigen Treffpunkt der amerikanischen Community in Berlin wurde. Die Familie Arnhold hatte ihren Besitz Anfang der 1950er Jahre zurückerhalten und später an das Land Berlin verkauft, das ihn wiederum an die Amerikaner verpachtete. Nach dem Fall der Mauer und dem Abzug der US-Truppen aus Berlin entstand die Idee, hier eine Institution zur Pflege der deutsch-amerikanischen Beziehungen anzusiedeln. Daraus ist die American Academy entstanden, ein Zentrum des transatlantischen intellektuellen Austausches, das an die besten Traditionen des weltläufigen Geisteslebens in Wannsee vor dem Naziregime und dem Zweiten Weltkrieg anknüpft. Wir kommen darauf an anderer Stelle zurück.

So wie einst die Reichsbank, so besitzt auch die Bundesbank ein prächtiges Anwesen am Wannsee; ob sich da manche vielleicht an alte Zeiten erinnert haben? Im Jahr 1965 kaufte die damalige Landeszentralbank Berlin das Anwesen Am Sandwerder 29–31, ein über 16 000 Quadratmeter großes Doppelgrundstück. Der südliche Teil des Parks ist als eingetragenes Gartendenkmal geschützt, auf dem anderen befinden sich eine Villa und ein Bootshaus aus den 1890er Jahren, die der Bundesbank als Gästehaus dienen. Der 2017 bekannt gewordene Plan, auf dem Grundstück einen Neubau mit 1500 Quadratmetern Nutzfläche für Veranstaltungen und Seminar zu errichten, stieß auf heftigen Widerspruch einiger Nachbarn. Die Nachbarn befürchteten ein „veritables Schulungs- und Konferenzzentrum mit Ganzjahresbetrieb“, ein „Strandbad de luxe für Bundesbeamte“, wie es im Juli 2020 im Tagesspiegel hieß. Sie klagten gegen die Baugenehmigung, was einen jahrelangen Rechtsstreit auslöste.12

Das Gericht entschied schließlich, die Baugenehmigung so zu belassen, ihr aber einige sehr genaue Bestimmungen hinzuzufügen: Es darf nur ein Sommerfest pro Jahr mit maximal 300 Teilnehmern geben, und zwar an einem Sonnabend von 14 bis 19 Uhr. Auf Bootssteg und Liegewiese dürfen sich maximal 20 Personen tummeln. Sonderveranstaltungen darf es zwei bis dreimal monatlich geben, höchstens bis 22 Uhr und nie parallel zu Seminaren. Die Anwohner waren aber auch damit nicht einverstanden und legten erneut Einspruch ein, den das Oberverwaltungsgericht im August 2023 endgültig abwies.

So hat sich in den bald 150 Jahren ihrer Existenz trotz aller Umbrüche eines nicht geändert in der Villenkolonie Wannsee: das Nebeneinander des Wunschs nach Diskretion und Exklusivität einerseits und die Anziehungskraft für Kulturschaffende, Politiker und Wissenschaftler aus aller Welt andererseits, diesen besonderen Ort am Berliner Wannsee für kreatives Arbeiten, Meinungsaustausch und die Entwicklung neuer Ideen zu nutzen.