An einem regnerischen Novemberabend ist es ziemlich einsam in der Straße Am Sandwerder. Man passiert das Literarische Colloquium, das an diesem Abend still und dunkel daliegt, eine Ausnahme, wie wir später noch sehen werden. Die etwas düstere Vorortstimmung schwindet, wenn schon bald hinter einer hohen Hecke die Lichter einer hell erleuchteten Villa blinken und am Tor ein freundlicher Herr mit einer Liste in der Hand einen guten Abend wünscht. Ist der Name des Besuchers gefunden und abgehakt, läuft man die letzten Schritte zum Haus der American Academy, tritt durch die große Eingangstür und trifft auf eine Überraschung. Im Foyer haben sich schon Dutzende Gäste eingefunden, die einem Vortrag der amerikanischen Historikerin Mary Elise Sarotte lauschen wollen. Es herrscht eine angeregte, erwartungsfreudige Stimmung, ein deutsch-amerikanisches Stimmengemisch, ein fröhliches „Hallo, wie geht’s“ und „Hello, how are you?“.
Hier trifft sich die deutsch-amerikanische Community Berlins, die rund um die American Academy am Wannsee seit 25 Jahren ein reges interkulturelles, transatlantisches Geistes- und Gesellschaftsleben führt. Zentrum ist das Hans Arnhold Center, wie der Sitz der Academy offiziell heißt, in Erinnerung an den deutsch-jüdischen Bankier, der die damalige Villa Oppenheim 1927 für sich und seine Familie gekauft hatte. Er führte hier am Wannsee einen der wichtigsten Salons der deutschen Hauptstadt jener Jahre und brachte regelmäßig Künstler, Musiker, Intellektuelle und nicht zuletzt führende Köpfe aus dem Banken- und Wirtschaftsleben zusammen, wie es auch bei ähnlichen Gesellschaften in den Villen der Nachbarschaft war. Eines Abends spielte der berühmte Cellist Pablo Casals für die Arnholds und ihre Gäste.
Wannsee war zu jener Zeit ein beliebter Treffpunkt einer arrivierten Großstadtgesellschaft, meist liberal-konservativ, weltoffen, umtriebig und, nicht zu vergessen, oft auch deutsch- jüdisch. An diese Traditionen knüpft die American Academy an, mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Pflege der transatlantischen Beziehungen in Kultur, Politik und Wissenschaft.
Es gehört zu den nur am Wannsee so möglichen Besonderheiten dieses Ortes, dass man aus den Fenstern des Hauses bei Tageslicht in der Ferne eine andere, berühmt-berüchtigte Villa am gegenüber liegenden Ufer erkennen kann: Es ist jene, in der 1942 die Vernichtung der europäischen Juden organisiert wurde. Zu der Zeit war die Bankiersfamilie Arnhold längst in die USA emigriert, ihr Haus am Sandwerder hatte sich Hitlers Wirtschaftsminister und Reichsbankpräsident Walther Funk angeeignet (vgl. Kapitel 3). Ein gern gesehener Gast war Propagandaminister Joseph Goebbels, der fast in Sichtweite schräg gegenüber auf der Insel Schwanenwerder wohnte. Funk wurde 1945 in Nürnberg zu lebenslanger Haft verurteilt.
Villa der American Academy in Berlin (Blick vom Großen Wannsee)
Ausgerechnet die Erben und Nachkommen der damals vertriebenen Arnholds gehören heute zu den wesentlichen Finanziers der American Academy, auch so eine besondere Berliner Geschichte. 1953 erhielten sie die Villa zurückerstattet und verkauften sie später an die Bundesrepublik, die sie wiederum an die US-Armee verpachtete. Die Militärs nutzten die Villa am See als Erholungsstätte für die Soldaten und ihre Familien. Es wurde gefeiert, gebadet, gegrillt und einmal legte sogar Prince bei einem DJ-Wettstreit Platten auf.
Die Idee zur Gründung der Academy kam Richard Holbrooke, damals US-Botschafter in Berlin und Freund der Familie von Präsident Bill Clinton, als 1994 die letzten Soldaten der amerikanischen Berlin Brigade die Stadt verließen. Es ging darum, die nach dem Krieg zunächst zwischen West-Berlin und den USA entstandenen engen Bindungen zu erhalten und ihnen eine neue Qualität zu geben. Gemeinsam mit Henry Kissinger, Richard von Weizsäcker, Fritz Stern und anderen gelang das Projekt. Die American Academy hat stets ihre Überparteilichkeit betont, dennoch war sie in ihren ersten Jahrzehnten geprägt von Anhängern der Demokratischen Partei, von Emigranten aus dem Deutschland der Nazizeit und deren Familien, von Linksliberalen mit einer Neigung zu Deutschland. In den Regierungszeiten von in Deutschland besonders umstrittenen US-Präsidenten wie George W. Bush und Donald Trump war die Academy auch stets ein Hort dieser liberalen Community, manche verstanden sie als eine Art Gegenpol zu der offiziellen Botschaft der USA am Brandenburger Tor.
Die Academy ist schon immer ein Treffpunkt der wichtigsten politischen Akteure der transatlantischen Beziehungen, ganz im Geiste und im Sinne ihres Gründers Holbrooke. Der von ihr jährlich verliehene Henry-A.-Kissinger-Preis ist eine der renommiertesten internationalen politischen Auszeichnungen. Im Jahr 2023 erhielt Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Preis, die Laudatio hielt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, auch ein Preisträger. Für solche Anlässe mit großem geladenen Publikum verlässt die Academy oft die Villa am Wannsee und sucht sich eine repräsentative Örtlichkeit in Berlin-Mitte. Großzügige Sponsoren helfen dabei.
Seit 1998 haben hier an die 500 Wissenschaftler, Schriftsteller, Künstler und Journalisten mit einem Stipendium für einige Monate arbeiten und wohnen können. Vor allem bei Schriftstellern ist die Academy sehr beliebt, die meisten Bewerbungen kommen aus ihrem Kreis. Schon bei der feierlichen Eröffnung 1993 gehörte mit Arthur Miller einer der Großen der amerikanischen Literaturszene zu den Gästen. Susan Sontag war hier Ehrengast, später folgten Bestsellerautoren wie Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides oder Jonathan Lethem als Stipendiaten, und in manchen ihrer Bücher sind die Spuren ihres Berlin-Aufenthalts zu finden. Auch der viel diskutierte kritische Text über Angela Merkel und die Deutschen, den der Autor George Packer für das Magazin The New Yorker geschrieben hat, ist hier entstanden, und Packer hat hier an seinem aufsehenerregenden Buch über den Niedergang der amerikanischen Idee gearbeitet, Die Abwicklung.1
Die Academy bemüht sich darum, dass ihre Fellows kein Leben wie im Elfenbeinturm draußen am Wannsee führen, sondern sich in Berlin umtun. Das führt unmittelbar zur Belebung der politisch-kulturellen Szene der Hauptstadt, die wiederum auf die Arbeit der Stipendiaten zurückwirkt. Das bestätigt auch Mary Elise Sarotte, eine führende Historikerin zu Themen des Kalten Krieges und der Ost-West-Beziehungen, der an diesem Abend im November 2023 an die hundert Besucher lauschen. Sie war schon zwei Mal als Fellow hier, ihr neuestes Buch zur Geschichte der Nato-Osterweiterung hat sie am Wannsee konzipiert. Der Spiegel hat die Academy einmal als das wichtigste Zentrum amerikanischen intellektuellen Lebens außerhalb der USA beschrieben.
„Die Academy ist so, wie wir alle die USA sehen wollen: intelligent, eloquent, nicht engstirnig“, sagt Gary Smith, ihr langjähriger Präsident. Das mache auch einen Teil ihrer Anziehungskraft aus, weil jeder wisse, dass die USA in Wirklichkeit eben nicht so seien. Hier wird noch eine Debattenkultur gepflegt, die es in und zwischen den geschlossenen, verfeindeten Denkblasen der USA nur noch selten gibt. Und so sind in der Academy selbstverständlich immer auch einmal Konservative und Republikaner zu Gast, wenn vielleicht auch nicht gerade jene, die sich dem Trump-Lager zugehörig fühlen. Einmal im Jahr aber sind alle Ressentiments vergessen, und es wird groß gefeiert. Dann lädt die US-Botschaft am 4. Juli zur Feier des Unabhängigkeitstages an den Wannsee, und dann verwandeln 1300 Gäste Villa und Park in einen Ort rauschender Geselligkeit, wie es in den Sommern der 1920er Jahre manchmal auch gewesen sein mag. Der Höhepunkt ist am späten Abend ein Feuerwerk, das sich im Wasser spiegelt und den Wannsee leuchten lässt – und ein kulturelles Leuchtfeuer, das ist die American Academy allemal.
Monica Black, eine amerikanische Professorin für die Geschichte des modernen Europa, hat in ihrer Zeit als Fellow an der Academy Wannsee als „geistige Lebensform“ erlebt. Sie, die hier ein Buch über Deutsche Dämonen geschrieben hat, versteht nun wirklich etwas vom Mythos Wannsee.2
Sie beschreibt die Villa mit Blick auf deren Geschichte als ein Geisterhaus, in dem die Geister vieler Vergangenheiten fortlebten: „Diese Geschichte von Entwurzelung, Exil und nicht vollendeter Rückkehr, von unvorstellbarer Tragik, unwahrscheinlichen Ausrichtungen und Neuorientierungen, vermittelt den Eindruck eines geschlossenen Regelkreises, eines Anfangs, einer Mitte und eines Endes. Von der Demokratie zum Faschismus und retour. Die eigentümliche, auch ein wenig aus der Zeit gefallene Atmosphäre, die der American Academy am Wannsee ihr so reizvolles Fluidum verleiht, ist eine unmittelbare Folge dieser bewegten Geschichte eines deutschen Geisterhauses im 20. Jahrhundert. (…) Hitzeliebende Wüstenpflanzen, deren Heimat die beiden Amerikas sind, wachsen neben einem kalten klaren See in Deutschland. Arnhold und Funk. Goebbels und Prince. Kissinger und Sontag. Solche ungewöhnlichen Paare gedeihen am Wannsee.“3
Ein anderer Beleg für ihre These findet sich, Zufall oder nicht, nur ein paar Häuser neben der Academy, am Beginn der Straße Am Sandwerder. Hier residiert das Literarische Colloquium, ebenfalls ein weit über Wannsee hinaus strahlendes kulturelles Leuchtfeuer, ebenfalls eine Art Geisterhaus, wie Monica Black es beschrieben hat. Der Bauunternehmer und Gründer der Rüdersdorfer Zementwerke Robert Guthmann kaufte Anfang der 1880er Jahre das große Grundstück am Beginn der damaligen Friedrich-Karl-Straße auf der Haveldüne, 25 Meter über dem Wannsee.
Er ließ eine weitläufige Villa im damals von den reichen Berlinern geschätzten Renaissancestil bauen, wie man ihn auch bei den Villen am Kurfürstendamm fand. Als die Bauarbeiter kamen, musste die Seglergruppe Lustige Sieben, einige der wohlhabenden Villenbesitzer aus der Nachbarschaft, ihr Quartier in einem Gartenhaus auf dem Grundstück räumen. Ihre damals auf die andere Seeseite vertriebene Gruppe gilt als Ursprung allen geselligen Seglerlebens am Wannsee; aus ihr entstand der dann der bis heute bestehende Verein Seglerhaus am Wannsee, der zweitälteste Deutschlands.
Guthmanns „verkleinerter Renaissancepalast“ (Georg Brasch) mit seinen Türmen, Zinnen und Erkern fand Bewunderer und Kritiker. Der West-Berliner Architekturpapst Julius Posener stellte später abschließend fest: „Bescheidenheit wäre das letzte Wort, das diese Villa bezeichnen könnte. Dies einmal akzeptiert, ist das Haus überzeugend.“
Die Guthmanns führten in den Jahren um die Jahrhundertwende und danach ein offenes Haus. Man traf sich mit prominenten Nachbarn, den Oppenheims, Wessels, Otzens und Gutschows, und pflegte das gesellschaftliche Leben des Berliner Großbürgertums. Bei ihnen verkehrten Bankiers, Industrielle und Künstler. Als 1898 die Villenkolonien Alsen und Wannsee mit Stolpe zu einer Landgemeinde zusammengeschlossen wurden, ließ sich Robert Guthmann zum ersten Gemeindevorsteher wählen. Wohl auch, um der weiteren Ansiedlung von Ausflugsgaststätten entgegenzuwirken. Ein Anliegen, das die Anwohner bis heute verfolgen, wie der Streit um das Gästehaus der Deutschen Bank am Sandwerder zeigt.
Villa Guthmann: Domizil des Literarischen Colloquiums Berlin
Nach dem Tode Guthmanns 1924 vermietete dessen Enkel und Erbe das Haus an den Bankier Ernst Goldschmidt, einen entfernten Verwandten des Dramatikers Carl Zuckmayer. Auf diese Weise kam der mittellose Zuckmayer 1925 zu einer Bleibe in der Villa, die er in seinen Erinnerungen so beschrieb: „Es war ein gräßlicher Kasten im Stil einer imitierten Ritterburg, aber es hatte einen Park mit Seegrund und ein großes achteckiges Turmzimmer, von dem man einen prächtigen Ausblick in die Landschaft hatte.“4 Hier schrieb er die Komödie Der Fröhliche Weinberg, die zum meistgespielten deutschen Theaterstück der 1920er Jahre wurde und für den Dramatiker den Durchbruch bedeutete, was auch dringend nötig war, denn: „Der Hausherr durfte nicht ahnen, wie meine finanzielle Lage bestellt war. Küche und Keller waren vorzüglich, die Zigarren standen offen zum Gebrauch. Wenn ich in die Stadt musste, lieh mir der Kammerdiener Paul das Fahrgeld. Auch versorgte er mich mit den von seinem Herrn nur einmal gebrauchten Rasierklingen und mit anderen notwendigen Artikeln.“5 So trug sich hier Jahrzehnte, bevor das Literarische Colloquium die Villa bezog, schon die erste Form von Literaturförderung zu.
1934 erwarb der Ingenieur, Hochschullehrer und Unternehmer Paul Otto Rosin die Villa. Er musste sie aber schon vier Jahre später unter dem Druck der Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Abstammung weit unter Wert verkaufen und konnte dann nach England emigrieren. Das Anwesen gelangte in den Besitz der Kriegsmarine, die nächsten Hausgeister im Sinne von Monica Black. Die Marine etablierte dort eine geheime Versuchsstation zur Entwicklung eines Ein- Mann-U-Boots. Zu diesem Zweck wurde das Atrium zu jenem großen Saal ausgebaut, der heute noch als Veranstaltungsraum dient. So grotesk der U-Boot-Plan anmutet (der an diversen technischen Problemen scheiterte), so befremdlich wirkt auch der Briefwechsel zwischen dem Oberkommando der Kriegsmarine und dem Bezirksamt Zehlendorf über die Frage, ob die neuen Eigentümer beim Neubau eines Labors im Park eine 85-Meter-Schutzzone zum Seeufer einhalten.6
Nach dem Krieg wurde aus der Villa Am Sandwerder 5 das Casino-Hotel am Wannsee, in dem zunächst vornehmlich Gäste der amerikanischen Militärregierung abstiegen. Aber auch die Schriftstellerin und Kommunistin Anna Seghers wohnte hier nach der Rückkehr aus dem Exil in Mexiko 1947 für einige Monate, bevor sie auf Drängen der SED in den sowjetischen Sektor Berlins umzog. Der jüdische Alteigentümer Rosin erhielt 1953 das Anwesen zurückerstattet und verkaufte es an die Hotelpächterin. Da aber der Hotelbetrieb zunehmend unter Klagen der Nachbarn litt und das Gebäude immer reparaturbedürftiger wurde, bot sie die Villa dem Land Berlin zum Kauf an, das sie schließlich 1960 für 250 000 D- Mark erwarb. Wenn man die heutigen Grundstückspreise betrachtet, war das schon aus diesem Grund eine äußerst lohnende Investition. Allerdings hatte der Senat für die vielfältig vorgeschlagenen Nutzungen dieses Hauses – zur Debatte standen unter anderem eine „Trinkerheilanstalt“, ein Heim für 150 „Geisteskranke“ oder ein Volkshochschulheim – erst einmal keine Mittel zur Verfügung, und so stand es einige Zeit leer.
In diesem Zustand entdeckte der Lyriker und Germanistikprofessor Walter Höllerer das Anwesen bei einem Spaziergang. Er war auf der Suche nach einem Tagungsort für die Schriftsteller der Gruppe 47, die sich im Oktober 1962 in Berlin treffen wollte, und das Casino-Hotel erwies sich als ideal für diesen Zweck. Das Treffen vom 26. bis 28. Oktober 1962 war zugleich der Auftakt zur Entwicklung des Literarischen Colloquiums, einer einzigartigen Einrichtung zur Entdeckung und Förderung von Autorinnen und Autoren, ein wundervoller Ort zur Begegnung, zum Austausch, zur Anregung und zum Auftritt von Schriftstellern aus Deutschland und der ganzen Welt. Aus den bescheidenen Anfängen in einem heruntergekommenen Gästehaus in etwas abgeschiedener, aber exzellenter Lage ist die größte und bedeutendste Literaturinstitution im deutschsprachigen Raum und weit darüber hinaus geworden.7
Wie bei der American Academy nebenan waren auch hier Mäzene aus den USA die entscheidenden Geburtshelfer. Weil dem Senat für die Einrichtung des Literaturzentrums das Geld fehlte, stellte die Ford Foundation Anfang 1963 Spendenmittel zur Verfügung – allerdings unter der Bedingung, dass die laufende Finanzierung vom Land Berlin gesichert würde. So übernahm der Berliner Senat das LCB und blieb bis heute Hauptfinanzier des Hauses.
Förderlich für die Gründung des LCB war die angespannte politische Lage jener Jahre kurz nach dem Mauerbau. Der Kalte Krieg erlebte einen vorläufigen Höhepunkt, und neben der militärischen Hochrüstung führten beide Seiten auch einen Krieg um die Köpfe vor allem der heranwachsenden Generationen. Ein besonders prekärer Ort war West-Berlin, diese Insel inmitten der DDR. Viele Menschen und auch Unternehmen verließen die Stadt in Richtung Westen. Wenn sie nicht absterben sollte, musste man junge Leute hierherlocken. Die Amerikaner investierten Millionen in den Ausbau der unter ihrer Ägide gegründeten Freien Universität in Dahlem, und im britischen Sektor wurde die Technische Hochschule Charlottenburg zur Technischen Universität Berlin aufgewertet. Dazu legte die Ford Foundation ein Millionenprogramm für Künstlerprogramme und Kunstprojekte auf, aus dem die LCB- Gründung finanziert wurde. So entstand im Südwesten Berlins, in Dahlem und am Wannsee, ein neues geistiges Zentrum, das an die von den Nationalsozialisten zerstörten Traditionen anknüpfte. Das geschah zum Teil in genau jenen Gebäuden, in denen zuvor die Nazis ihr Unwesen getrieben hatten, wie in den Villen am Wannsee. Geisterhäuser, in denen nun die Ideen der liberalen Demokratie propagiert wurden, wie vor allem die Amerikaner sie nach dem Krieg insbesondere den jungen Deutschen nahebringen wollten.
Das LCB sollte ein Ort der Begegnung von Autoren, Kritikern, Übersetzern und Verlegern sein, sich aber auch der Öffentlichkeit präsentieren. Die Gästezimmer des einstigen Hotels erlaubten und erlauben verschiedene Residenzprogramme für Autoren und Stipendiaten aus dem In- und Ausland. In den ersten Jahren boten Günter Grass, Hans Werner Richter und Peter Rühmkorf Schreibwerkstätten an, an denen später erfolgreiche Autoren wie Peter Bichsel, Hubert Fichte oder Hans Christoph Buch teilnahmen. Öffentliche Lesungen, Diskussionen und Streitgespräche lockten von Beginn an viele Interessierte aus der Stadt an, die mit der S-Bahn nach Arkadien fuhren, wie ein Fotoband zum 50. Jubiläum des LCB hieß.
Das LCB hatte sich von Anfang an darum bemüht, hier an der Nahtstelle zwischen Ost und West Begegnungsmöglichkeiten für Autoren aus beiden Welten zu schaffen. Mit dem Mauerfall 1989 aber öffnete sich das weite Reich der osteuropäischen Literatur ganz unverstellt, und umgekehrt. Heute finden hier jedes Jahr zwischen 120 und 150 literarische Ereignisse für die Öffentlichkeit statt. Wer die Webseite des LCB besucht, findet ein fast unüberschaubares Angebot an Veranstaltungen. Ein Höhepunkt für die Literaturszene der Hauptstadt und darüber hinaus ist das alljährliche Sommerfest des LCB im Haus und Park am Wannsee, das den großen Gesellschaften der Guthmanns vor über 100 Jahren am selben Platz kaum nachstehen dürfte. Auch hier ist also der Mythos Wannsee höchst lebendig, in immer wieder neuen Formen.
Dazu beigetragen hat auch jene Tagung der Gruppe 47, die am Beginn des Literarischen Colloquiums stand. Die Runde der einflussreichsten Schriftsteller der jungen Bundesrepublik beging mit ihrem Treffen am Wannsee 1962 ihr 15-jähriges Jubiläum zu einem Zeitpunkt, da sie aus heutiger Sicht „den Zenit ihres Renommees erreicht“ hatte, wie der Literaturwissenschaftler Jan Bürger feststellte.8 Äußeres Zeichen dafür war, dass Der Spiegel ihre Tagung mit einer Titelgeschichte begleitete: „Ob Clique oder Kumpanei, Autorenbörse oder Prüfstand der Talente, ob nihilistisch, links oder liberal – Tatsache bleibt, dass die Gruppe 47 heute Deutschlands literarische Metropole ist“, hieß es darin.9
So passte es, dass sich einige aus der Gruppe in einer Pause aufmachten, einen bedeutenden Ahnen zu besuchen: Heinrich von Kleist. Er war der erste der deutschen Literaten und Intellektuellen, der den besonderen Reiz des Wannsees entdeckt hatte. Er wählte einen Platz in seiner Nähe, um sich und seiner todkranken Gefährtin Henriette Vogel 1811 das Leben zu nehmen – und setzte damit einen Ausgangspunkt für den sich langsam entwickelnden Mythos Wannsee im Geistesleben der Deutschen. Ihre letzten Stunden in Stimmings Krug an der Wannseebrücke sind ausführlich dokumentiert, und ihr Grabmal am Ort der tödlichen Schüsse oberhalb des Kleinen Wannsees ist seit jeher ein Anziehungspunkt für Geistesverwandte wie für Touristen. Zu welcher Spezies nun genau die kleine Gruppe prominenter Schriftsteller zählte, die sich im Oktober 1962 dort versammelte, ist nicht wirklich zu sagen, außer natürlich, dass sie der gleichen Profession wie der Dichter angehörten. „Die Frage, woran wie noch anzuknüpfen wäre, bleibt an Kleists Grab am Wannsee so extrem wie intim“, schrieb der Feuilletonist Jens Bisky. „Manche halten hier nur kurz Rast bei einem kleinen Spaziergang um den See. Andere zitieren Prinz Homburgs Unsterblichkeitsmonolog zur Prüfung der Leistungen des eigenen Gedächtnisses. Nicht immer liegt ein dunkler Schatten über diesem Grab.“10
Das Grab von Heinrich von Kleist
Jedenfalls hatten Hans Werner Richter, Peter Rühmkorf, Alfred Andersch und Kollegen nur einen kleinen Spazierweg zu bewältigen, um das Grabmal an der Bismarckstraße zu erreichen. Sie besuchten einen Dichterkollegen, der, anders als sie, zu Lebzeiten wenig erfolgreich und am Ende mittellos und verzweifelt war. Kritische Kleistbiografen sehen in seinem Selbstmord eine letzte dramatische Inszenierung, die ihm schließlich neben dem erst post mortem erkannten Wert seines Werks zu dem Ruhm verhalf, den er zu Lebzeiten nicht erlangen konnte. Die ebenso düstere wie romantische Geschichte des Doppelfreitodes, der landschaftlich attraktive Ort ihres Geschehens und die denkmalgerechte Präsentation trugen dazu bei, dass Kleist untrennbar mit dem Mythos Wannsee verbunden ist.
Ein damals vom Spiegel veröffentlichtes Foto zeigt Richter, Rühmkorf und Andersch an dem von einem Gitter umzäunten Grabmal, das 1962 noch in dem von den Nationalsozialisten 1936 geschaffenen Zustand war. Die Nazis hatten versucht, Kleist für sich zu vereinnahmen, und tauschten den Grabstein aus, der Verse des jüdischen Dichters Max Ring trug: „Er lebte sang und litt / In trüber, schwerer Zeit / Er suchte hier den Tod / Und fand Unsterblichkeit.“ Der neue Stein zeigte ein Zitat aus Kleists Stück Prinz Friedrich von Homburg: „Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein.“ Zum 200. Todestag des Dichters wurden Grabanlage und Grabstein 2011 neugestaltet. Nun trägt der Stein auf der Vorderseite wieder die Worte Max Rings und dazu die Lebensdaten von Henriette Vogel, auf der Rückseite das Kleistzitat. Ein Besuch kurz nach dem Todestag im November 2023 zeigt, wie lebendig das Andenken ist. Kränze der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft und des Kleist-Museums aus Frankfurt (Oder) schmücken das Grab, dazu eine kleine Flasche Rotkäppchen-Sekt – zur symbolischen Aufheiterung in den düsteren Novembertagen dieses Jahres?
Hans Werner Richter mit Peter Rühmkorf (2. v. l.) und Alfred Andersch (r.) bei einer Tagung der Gruppe 47 am 1. Juni 1962 in Berlin
Das Treffen am Wannsee trug sich in einer politisch höchst angespannten Zeit zu. Die Kubakrise näherte sich ihrem Höhepunkt. Die noch von der Erinnerung an den erst gut 15 Jahre zuvor beendeten Zweiten Weltkrieg geprägten Europäer lebten mit der Angst, dass ein Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion drohen könnte. Innenpolitisch schien die Freiheit von Presse und Literatur in Gefahr, denn just an diesem Wochenende besetzte die Polizei die Hamburger Spiegel-Redaktion, nahm den Chefredakteur Rudolf Augstein und weitere Kollegen wegen Landesverrats fest und beschlagnahmte Materialien der Redaktion. Die Schriftsteller der Gruppe 47 formulierten umgehend eine Protestresolution. So erinnerte der als rauschendes Fest beschriebene Abschiedsabend der Literaten ein wenig an einen Tanz auf dem Vulkan, dem sich den Schilderungen zufolge besonders intensiv Alfred Andersch und Ingeborg Bachmann widmeten.11 Heute wissen wir, dass dies erst der Auftakt zu Jahrzehnten lustvollen Arbeitens und Feierns Am Sandwerder Nummer 5 war.
Kehren wir noch einmal zurück in die Zeit nach dem ersten Weltkrieg, in die 1920er Jahre. Als Zeitungen, Magazine und der Kinofilm zu Massenmedien wurden, entstand eine ganz neue Art der Prominenz, die die breite Öffentlichkeit interessierte: Filmschauspieler. Wer zur Welt dieser neuen Stars gehören wollte, musste am Wannsee wohnen, das war keine Frage. Neben der prächtigen Lage hatte das auch einen praktischen Vorteil: Man wohnte im Grünen und konnte ebenso schnell in die Glitzerwelt der Berliner Kaufhäuser, Restaurants, Kinos und Theater gelangen wie nach Babelsberg, wo die großen UFA-Filme produziert wurden.
Heinrich George und Berta Drews, Gustav Fröhlich und Lída Baarová, Heinz Rühmann und Hertha Feiler, Paul Verhoeven und Doris Kiesow hießen einige dieser damals prominenten „Traumpaare“ des deutschen Kinos, die in den 1920er und 1930er Jahren an den Wannsee zogen und dem Ort noch einmal eine ganz neue Aura verliehen. Sie waren Teil der Legende der tollen Zwanziger in Berlin und führten in ihren Häusern am Wannsee ein privilegiertes Leben fernab der Unruhen und Umbrüche der Weimarer Republik. Die aufziehenden düsteren Wolken des Nationalsozialismus, der Judenverfolgung und der Kriegspropaganda ignorierten sie.
Wie günstig manche dieser Stars an ihre Wassergrundstücke gekommen waren, kümmerte sie offenbar wenig. „Als Paul [Verhoeven] vom Eigentümer, einem Herrn Lessing, durch das Wannsee-Haus geführt wurde, (…) muss meinen Eltern allein schon durch den Namen Lessing klar gewesen sein, dass dieser Mann Jude war und lieber selber in dem Haus geblieben wäre, als es zu verkaufen“, zitiert Anja Klabunde seinen Sohn Michael.12
Heinz Rühmann konnte 1938 das Haus Am Kleinen Wannsee 15 für einen um 40 Prozent reduzierten Preis von der aus Berlin vertriebenen jüdischen Familie des KaDeWe-Gründers Adolf Jandorf kaufen. Es brannte im Krieg ab. Die Versuche seiner Witwe Helene, den Grundstückswert erstattet zu bekommen, lehnte das Landgericht Berlin 1952 mit kaum verhohlenen antisemitischen Formulierungen ab.13
Heinz Rühmann mit Ehefrau Hertha Feiler beim Wellenreiten auf dem Wannsee, 1939
Nach dem Krieg war Berlin ebenso zerstört wie die deutsche Filmindustrie, und die Babelsberger UFA-Studios lagen nun in der DDR. Als sich die Westdeutschen wieder für Stars und Sternchen zu interessieren begannen, hatte sich die Szene großenteils nach München verzogen und statt des Wannsees zählte nun eine Adresse am Starnberger See. Einige aber hielten auch Berlin die Treue. Dazu zählte das erste Traumpaar des westdeutschen Films, Nadja Tiller und Walter Giller. Sie lebten in Wannsee – bis sie Ende der 1950er Jahre doch dem Luganer See den Vorzug gaben. Auch Götz George, Sohn des berühmten Heinrich George, blieb in der Nähe seines Elternhauses, das am Kleinen Wannsee lag, nicht weit entfernt vom Kleistgrab. Er wohnte nun in der Terrassenstraße am Schlachtensee und pendelte zwischen Berlin und seinem zweiten Wohnsitz auf Sardinien.
Nicht weit davon lebte Günter Pfitzmann, der mit TV- Serien wie Praxis Bülowbogen in den 1970er und 1980er Jahren zu einem der populärsten deutschen Fernsehstars wurde. Ein wenig repräsentierte er später auch die West-Berliner Provinzialität, die nach dem Mauerbau das einst so mondäne Wannsee überschattete. Seine Karriere begonnen hatte er aber als Gründungsmitglied des Berliner Kabaretts Die Stachelschweine.
Ein Held verschiedener TV- und Kabarett-Serien war zu jener Zeit auch Dieter Hallervorden, nachdem er 1960 mit einer Bewerbung bei den Stachelschweinen gescheitert war und darauf die eigene Kabarettgruppe Die Wühlmäuse gründete. Er lebte in den 1980er Jahren auf der Wannseeinsel Schwanenwerder. In hohem Alter machte er sich um das Berliner Kulturleben verdient, indem er das traditionsreiche Schlosspark Theater übernahm und als Theater ohne eigenes Ensemble führt, dabei aber auch selbst noch häufig auf der Bühne steht.
Heinz Rühmann aber, einer der wenigen prominenten Schauspieler, die vor, während und nach der Nazizeit ihre Karriere pflegen konnten, hielt sich nach dem Krieg fern von Wannsee, wo er bis 1945 gewohnt und gute Beziehungen zu Joseph Goebbels und seiner Frau auf Schwanenwerder unterhalten hatte. Erst 1958 besuchte der Star des Kinofilms über den Hauptmann von Köpenick wieder seinen alten Wohnort, um Haus und Hof seines nächsten Kinohelden, des Droschkenkutschers Gustav Hartmann, in Augenschein zu nehmen. Als Eiserner Gustav ist dieser zu einem der bis heute verehrten Berliner Originale geworden, und die populäre Darstellung durch Rühmann hat daran keinen geringen Anteil. Als der Film herauskam, waren die spektakulären Ereignisse, durch die Hartmann einst berühmt geworden war, schon 30 Jahre her und über Naziverbrechen und Weltkrieg fast in Vergessenheit geraten.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass mit Rühmann einer aus der Reihe der Reichen und Schönen, die in den 1920er Jahren den Ruhm Wannsees in die Welt trugen, nun eine der Personen spielte, ohne die das mondäne Leben dieser feinen Leute gar nicht denkbar gewesen wäre – die Dienstboten, die einfachen Leute aus Wannsee, die es ja auch gab. Hartmann war in heutigen Begriffen eher eine Art Dienstleister. Er hatte 1885 mit 26 Jahren das erste Fuhrunternehmen in Wannsee gegründet und sich bald einen Namen gemacht. Er war der „Eiserne Gustav“, der bei Wind und Wetter, Eis und Schnee von sieben Uhr früh bis zum letzten Nachtzug zuverlässig mit seiner Pferdekutsche vor dem S-Bahnhof Wannsee stand. Die Kundschaft wusste das zu schätzen – es waren die Villenbesitzer aus der Kolonie Alsen, die Siemens, Liebermanns, Oppenheims, Langenscheidts, mit allen war er gut bekannt. Die Geschäfte liefen gut, Hartmann hatte bald mehrere Droschken und diverse Kutscher im Einsatz und konnte sich um die Jahrhundertwende ein Haus mit Remise, Ställen und drei Etagen an der Alsenstraße bauen lassen. Es ist bis heute gut erhalten, und genau dort schaute sich Heinz Rühmann 1958 um.
Nach dem Ersten Weltkrieg ließen die Geschäfte freilich nach, denn nun kamen Automobile in Mode und boten als Taxis bald eine bequemere Möglichkeit, von hier nach da zu kommen. Die 1920er Jahre mit all ihren Verrücktheiten, Rekorden und Sensationen brachten Gustav Hartmann schließlich auch auf eine verrückte Idee: Er wollte mit seiner Kutsche von Berlin nach Paris fahren, mit Ende 60 sein Kutscherleben mit einem Knalleffekt beschließen. Bei aller Droschkennostalgie war Hartmann ein gewiefter Mann. Er verkaufte seine Geschichte vorab an die BZ am Mittag, ein Massenblatt aus dem Ullstein Verlag. Er bekam 1000 Mark Vorschuss, ein Reporter würde ihn begleiten und regelmäßig exklusiv über die Reise berichten.
Und so ging es am 2. April 1928 in der Alsenstraße los: Eine Blaskapelle begleitete den Eisernen Gustav mit seinem Fuchswallach Grasmus auf den letzten Metern aus Wannsee hinaus in die weite Welt. Schon nach wenigen Tagen war das Gespann berühmt, eine rollende Sensation, wie Hartmanns Biograf Gunnar Müller-Waldeck es beschrieb.14 Der Kutscher aus Wannsee wurde zu einem Massenereignis. In Dortmund säumten 150 000 Menschen die Straßen, als er in die Stadt einfuhr. Französische Zeitungen griffen die Geschichte auf, sodass sich sein Triumphzug auch nach dem Grenzübertritt fortsetzte. Als er bei Verdun die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs erreichte, besuchte er ein französisches Gefallenendenkmal, nahm den weißen Zylinder seiner Kutscheruniform ab und verneigte sich. Hier wurde der Subtext seiner Reise deutlich, die nach 50 Jahren deutsch-französischer Feindschaft mit zwei Kriegen den Charakter einer Friedensfahrt annahm und damit den Zeitgeist traf. So erlebte er auch in Paris nach zwei Monaten auf dem Kutschbock einen triumphalen Empfang und wurde zehn Tage lang gefeiert, bevor er sich mit seinem Pferd auf den Heimweg machte.
Der Eiserne Gustav: Gustav Hartmann in Paris, 5. Juni 1928
Die politische Dimension der Reise wurde in den Medien erkannt. „In der Ära deutsch-französischer Verständigungspolitik bleibt Gustav Hartmann ein Gipfel“, schrieb der Dramatiker Ernst Toller 1929 in einem Essay über die Rückkehr Hartmanns nach Berlin.15 Erich Kästner widmete ihm ein Gedicht: „Was wollen Völker mit Genies? / Wir Völker wollen Gustavs haben, / Die langsam, aber sicher traben!“ schrieb er unter dem Titel Die Gustavs. Damit ehrte der Schriftsteller den Eisernen Gustav und seinen Namensvetter Gustav Stresemann. Dem damaligen Außenminister war 1926 zusammen mit seinem Amtskollegen Aristide Briand der Friedensnobelpreis verliehen worden.
Hartmann hatte an seiner Droschke die schwarz-rot-goldene Fahne drapiert, was in der politisch aufgeheizten Stimmung daheim als Bekenntnis des populären Volkshelden zur Weimarer Republik verstanden wurde, sehr zum Missfallen der nationalistischen Rechten. Der Schriftsteller Hans Fallada, der Hartmanns Reise zum Anlass für seinen 1938 erschienenen Roman Der eiserne Gustav nahm, wurde von Joseph Goebbels persönlich gezwungen, sein Manuskript um ein Hitler-freundliches Schlusskapitel zu erweitern, den „Nazi-Schwanz“, wie Fallada es nach dem Krieg spöttisch nannte.
Das Buch wurde dann 1979 Grundlage für eine erfolgreiche Fernsehserie, die Wolfgang Staudte mit Gustav Knuth in der Hauptrolle drehte, nun schon 50 Jahre nach den Ereignissen. Sie festigte noch einmal die Rolle dieses Droschkenkutschers aus Wannsee im kollektiven Bewusstsein als Berliner Original neben dem Hauptmann von Köpenick und Heinrich Zille. Seit dem Jahr 2000 erinnert ein Denkmal an Gustav Hartmann. Es steht an der Potsdamer Straße in Schöneberg, ein Abschnitt der historischen Reichsstraße 1, die als Königstraße auch Wannsee durchmisst und auf welcher der Eiserne Gustav 1928 in Richtung Paris aufbrach.
An den Aufregungen jener Jahre gemessen, ist Wannsee heute ein ruhiger und beschaulicher Ort, dessen prominente Einwohner die Diskretion schätzen. Und so richtige Leinwandstars hat Deutschland heute nicht mehr zu bieten. Umso mehr feiern die Boulevardmedien es, wenn Hollywood sich plötzlich einmal an die Vorzüge des Wannsees erinnert und etwa in Gestalt des inzwischen wieder entzweiten Traumpaares Angelina Jolie und Brad Pitt, genannt Brangelina, dort Station macht wie im Herbst 2008. Für drei Monate mietete sich die Familie mit ihren sechs Kindern in einer leerstehenden Villa Am Sandwerder ein – „mit einer Entourage von 14 Sicherheitsleuten, zwei Nannys und drei Köchen“, wie die Zeitschrift Gala zu berichten wusste.16 Es habe sich um ein 12 000 Quadratmeter großes Anwesen gehandelt, zu dem drei prächtige Gründerzeitvillen mit 2800 Quadratmetern Wohnfläche und 20 Zimmern, ein eigener Bootssteg sowie ein Hubschrauberlandeplatz gehörten, zu haben für eine Miete von 30 000 Euro im Monat. Brad Pitt stand in dieser Zeit in Babelsberg für den Film Inglourious Basterds des Regisseurs Quentin Tarrantino vor der Kamera. Der erzählt die Geschichte einer Gruppe jüdischer Soldaten, die 1941 im besetzten Frankreich auf ein Himmelfahrtskommando gegen die Nazis geschickt wird. Und so schließen sich in Wannsee immer wieder die Kreise.