Wir haben über die Landschaft und ihren Zauber geschrieben, über die Menschen und ihre Häuser, die sie am Wannsee in den vergangenen 150 und mehr Jahren gebaut haben, über Geschichte, die sich hier ereignet hat. Doch all das hätte es nicht gegeben ohne diesen See, der allem seinen Namen gegeben hat und die Insel Wannsee mit seinem Wasser umspielt. Das Wasser, es ist das entscheidende Element dieser Topografie. Die ersten Siedler nutzten es zur Ernährung, doch seit dem 19. Jahrhundert sind es vor allem zwei Gründe, die seine Anziehungskraft ausmachen: der Reiz seines Anblicks und die sportlichen Möglichkeiten, die es bietet.
Alle sprechen selbstverständlich von dem „See“, doch eigentlich ist er nicht mehr als eine große Bucht des nicht ganz so großen Flusses Havel. Der Große Wannsee also. Er ist etwa 2,5 Kilometer lang, einen guten Kilometer breit und bedeckt eine Fläche von 2,8 Quadratkilometern. An seiner tiefsten Stelle ist er neun Meter tief. Er hat einen Konkurrenten im Osten Berlins: Der Müggelsee ist auch schön gelegen und viel größer – aber an den Ruf, die Prominenz, das Mondäne des Wannsees reicht er doch nicht heran.
Man kann die um die Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommende, von Spandau ausgehende Lust am Segeln auf der Havel als harmlose Freizeitgestaltung betrachten, die sich am Treiben der königlichen Familie auf dem Wasser orientierte. In Potsdam ließen die Hohenzollern die Matrosenstation am Jungfernsee als Heimathafen ihrer Boote errichten, und an der Pfaueninsel entstand ein Schiffsschuppen für die Royal Luise, die der englische König seinem Cousin, König Friedrich Wilhelm III., 1832 schenkte. Ein originalgetreuer Nachbau der Miniaturfregatte liegt heute im Winter wieder in dem restaurierten Schuppen.
Doch die Entwicklung des Segelsports hatte auch eine andere als nur eine sportliche Dimension. „Diese Havelsegelei um Berlin wurde spannend und gesellschaftlich interessant, nachdem Preußen im Krieg gegen die damalige Seemacht Dänemark im Jahr 1864 bei den Düppeler Schanzen und auf der Insel Alsen die dänische Armee besiegt hatte“, schreibt Rolf Bähr in seiner Chronik des Vereins Seglerhaus am Wannsee. „Die Landmacht Preußen hatte ein maritimes nördliches Königreich geschlagen. Seekriegsführendes Material wie Schiffe, insbesondere auch Segelschiffe, wurde mit einem Male in Preußen populär.“1 Es war dieser deutschnationale Geist, der den Gründer Wilhelm Conrad seine Kolonie nach der den Dänen abgerungenen Insel Alsen nennen und die Statue des Flensburger Löwen als Trophäe am Wannsee aufstellen ließ. Und so hatte auch das Segeln auf dem See in dieser Zeit eine durchaus patriotische Note, zumal es vornehmlich von den herrschenden Schichten des Adels und des Großbürgertums betrieben wurde. Am Wannsee waren das vermögende Berliner Industrielle, Kaufleute, Bankiers und prominente Künstler. Ihre Villengrundstücke am West- und Ostufer besaßen zumeist auch Stege, von wo aus sie diese spannende neue Freizeitbeschäftigung betreiben konnten. Schon bald wuchs ihr Bedürfnis, die Segelkünste zu messen, Regatten zu organisieren, die Boote an einem gemeinsamen Platz zu halten und so eine Art maritimes Gesellschaftsleben zu entwickeln. Der erste Segelverein an der Havel entstand 1867 als Gesellschaft der vereinigten Segler der Unterhavel. Hier hatten noch die Kapitäne aus Spandau und Pichelswerder das Sagen, die den Wannsee eher als Ausflugsziel sahen.
Eine Keimzelle der einzigartigen Entwicklung der folgenden Jahrzehnte am Wannsee ist genau auszumachen. Es sind die „Lustigen Sieben“, sieben segelbegeisterte reiche Männer, die sich ab 1879 in einem Gartenhaus auf dem späteren Grundstück von Robert Guthmann, dem heutigen Sitz des Literarischen Colloquiums, trafen. Dort tranken und tafelten sie nach ihren Segeltörns und planten Größeres. „Wir müssen uns gemeinsam Grundbesitz schaffen, der unsere Mitglieder zusammenhält“, riet Wilhelm Conrad, der zu dem Kreis ebenso wie der Maler Oscar Begas hinzustieß. Als sie das Haus aufgrund beginnender Bauarbeiten an der Villa Guthmann räumen mussten, fanden sie sich mit anderen zusammen und erwarben 1881 auf der anderen Seeseite aus dem Besitz Conrads günstig das Wassergrundstück Am Großen Wannsee 22, auf dem sie Stege, eine Scheune für die Boote und ein kleines Fachwerkhaus für ihre Treffen errichten ließen. Dort entwickelte die zunächst auf 30 Männer begrenzte exklusive Gemeinschaft ein reges Vereinsleben. Eine an einem Mast aufgezogene rote Laterne signalisierte den Mitgliedern, wenn abends noch etwas los war im Club.
So entstand der Verein Seglerhaus am Wannsee, der zweitälteste Segelclub Deutschlands und bis heute einer der prestigeträchtigsten, mit über die Jahrzehnte zahllosen internationalen Regattaerfolgen und Olympiasiegern. Er baute sich 1910 an gleicher Stelle ein prächtiges, bis heute erhaltenes und genutztes Clubhaus. Es war in jenen Jahren Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens am Wannsee, aber mit seinen Festen, Empfängen und Regatten auch ein Anziehungspunkt für die Eliten aus der Hauptstadt. Hier war der Ort, um zu sehen und gesehen zu werden, Kontakte zu knüpfen, Geschäfte und Bündnisse anzubahnen. Und damit ein wichtiger Schnittpunkt zwischen Sport, Politik und Wirtschaft, der seinen Anteil am Werden des Mythos Wannsee hatte.
Verein Seglerhaus am Wannsee: Vereinsheim
Das entscheidende Element dieser Entwicklung aber war das Wasser. Und somit war die Frage, wer Zugang zu diesem Wasser hatte, ebenfalls entscheidend. Die Koloniegründer sorgten dafür, dass ihre Mitglieder mit dem Kauf der Grundstücke samt Steganlage auch einen exklusiven Zugriff auf den Wannsee bekamen, der gleichwohl ein öffentliches Gewässer war. Aber man wollte hier keinen Ausflugsbetrieb für jedermann. Bis heute bildet die Ronnebypromenade, eine kleine Grünanlage an der Dampferanlagestelle unterhalb des S-Bahnhofs, den einzigen öffentlichen Zugang zum Großen Wannsee. Wer hier zu einem Seespaziergang starten will, muss erst einmal über zwei Kilometer meist ohne Blick auf den See an verschlossenen Grundstücken entlangwandern, bis er am Heckeshorn wieder ans Wasser kommt. Erst hier, am Ende der Bebauung, beginnt dann ein sehr schöner Wanderweg am Seeufer entlang Richtung Klein Glienicke.
Ungeachtet der exklusiven Anfänge hat sich der Wassersport am Wannsee in den vergangenen 120 Jahren zu einer breiten Massenbewegung entwickelt. Um den See herum gibt es heute 20 Segelvereine, zehn Ruderclubs und einige Taucherclubs. Auch der erste Windsurfclub der Welt ist nicht etwa in Kalifornien, auf Sylt oder an der Ostsee gegründet worden, sondern 1972 hier am Wannsee, gegenüber der Insel Schwanenwerder. Bis heute hat der Wind-Surfing-Verein Berlin dort seine Heimat mit der schwimmenden Surfstation Windanna.
Eine Art Gegenstück zum traditionsreichen Verein Seglerhaus findet sich jenseits der Brücke, wo der Kleine Wannsee beginnt. Hier liegt das stattliche Vereinshaus des Berliner Ruder-Clubs (BRC), der mit seinem Gründungsjahr 1880 genauso alt ist wie das Seglerhaus. Er verdankt seinen Sitz einem vom Rudersport begeisterten Unternehmer, dem Verleger und Druckereibesitzer Georg Büxenstein. Der Bewunderer des Kaisers Wilhelm II. überließ 1909 dem ursprünglich nahe der Oberbaumbrücke an der Spree beheimateten Klub das Grundstück mit der großen Villa, die der Verein als „eines der schönsten und repräsentativsten Klubhäuser Berlins“ beschreibt.2 Das Haus ist grundlegend modernisiert worden, doch die kunstvoll geschnitzte dunkle Holztäfelung ist ebenso erhalten wie das „Kaiserpreiszimmer“, in dem in Glasvitrinen die von den Hohenzollern gestifteten prachtvollen Pokale stehen; an den Wänden hängen große Ölgemälde der preußischen Monarchen. Auch dieser Klub mit seinen heute 700 Mitgliedern ist stolz nicht nur auf seine Geschichte, sondern auf eine lange Liste von Siegern bei nationalen und internationalen Wettbewerben.
Einen ganz anderen Charakter als der BRC mit seinen kaiserlichen Traditionen hat gleich nebenan der Schülerruderverband mit ebenso exklusiver Lage am Kleinen Wannsee und einer Geschichte, die bis in das Jahr 1903 zurückreicht. Hier rudern über 600 Schülerinnen und Schüler aus 30 Berliner Schulen, die solche Arbeitsgemeinschaften unterhalten. Ihre Boote lagern in zwei großen, sorbischen Speicherbauten nachempfundenen, über hundert Jahre alten Holzbootshäusern, finanziert von den Eltern der damaligen Gymnasiasten. Vom See aus sind in altertümlicher Frakturschrift gehaltene Inschriften an den Giebeln zu lesen, darunter: „Vom Wasser haben wir’s gelernt: Das Wandern“.
Das Wasser. An diesem Platz zeigt sich, dass neben den exklusiven Clubs der Reichen schon früh auch Breitensport am Wannsee betrieben worden ist. Hier, unterhalb des Kleistdenkmals, hatten und haben auch Kinder aus Familien, die sich keine eigenen Boote oder gar einen Liegeplatz am Wannsee leisten konnten, die Chance, den See und sein Wasser sportlich zu erobern.
Etwa zur gleichen Zeit entwickelte sich am gegenüberliegenden Ufer des Großen Wannsees eine völlig andere Wassersportkultur, die keinerlei Boote bedurfte. Berlin war um die Jahrhundertwende zu einer Industriestadt mit explodierender Bevölkerungszahl geworden. Hunderttausende lebten unter beengtesten Verhältnissen und schlimmen sanitären Bedingungen in düsteren Mietskasernen. Die zuvor beliebten Flussbadeanstalten an der Spree waren überfüllt und von Jugendbanden beherrscht, die Wasserqualität wurde angesichts zunehmend eingeleiteter Industrieabwässer immer bedenklicher. Aber mit der Eisenbahn ließ sich seit 1891 schnell eine ganz andere Welt erreichen: der Wannsee mit klarem Wasser, hellem Sandstrand und grünem Waldrand.
Bald tummelten sich an den sommerlichen Wochenenden der Jahre 1904/1905 tausende an einer Badebucht in der Nähe der Insel Schwanenwerder, die wiederum Anziehungspunkt für unzählige neugierige Spaziergänger wurde. Schließlich zeigten sich hier leicht oder auch gar nicht bekleidete Männer und Frauen gemeinsam in der Öffentlichkeit, das war schon eine Sensation in der wilhelminischen Welt.
Das ging eine Weile ganz gut, doch das freie Baden in Flüssen und Seen war in Preußen verboten, und mit der Zeit fühlten sich die Villenbesitzer am Wannsee durch die Menschenmengen aus der Stadt in ihrer Ruhe belästigt. Also wurden Gendarmen zu Fuß, zu Pferd und mit dem Fahrrad in Marsch gesetzt, um dem Treiben ein Ende zu bereiten. Immerhin ging es hier auch um die öffentliche Moral und die Verteidigung der staatlichen Autorität. Doch der Zeitgeist im späten Kaiserreich war schon ein anderer. Es war eine Zeit, in der sich Arbeitersportverbände und Naturfreundegruppen, der Wandervogel und andere nicht mehr so vaterländisch gesinnte Organisationen bildeten und Rückendeckung von sozialdemokratischen Politikern erhielten. Das war auch am Wannsee so.
Der für den damals zum Landkreis Teltow gehörenden Wannsee zuständige Landrat Ernst von Stubenrauch von der SPD nahm sich der Interessen der nach Wasser, Luft und Sonne lechzenden Menschen an und warb im September 1906 in einem Brief an den Regierungspräsidenten in Potsdam darum, das Baden in der Bucht am Ostufer offiziell zu genehmigen. Nach einigem Hin und Her stimmte die zuständige Forstbehörde zu: „Wir haben im allgemeinen keine Bedenken dagegen erhoben, daß eine etwa 200 Meter lange Uferstrecke am Wannsee als öffentliche Badestelle bezeichnet wird, müssen uns jedoch für den Fall, daß hieraus schwerwiegende Unzuträglichkeiten entstehen sollten, jederzeit Widerruf vorbehalten.“3
Am 8. Mai 1907 schraubten Mitarbeiter der Forstverwaltung die beiden alten Schilder „Baden verboten“ am Seeufer ab und neue an: „Öffentliche Badestelle“. Damit begann die Geschichte des Freibads Wannsee, wie es zunächst heißen sollte. Der Erfolg war umwerfend. Am vierten Sonntag nach der Eröffnung zählte die Eisenbahndirektion bereits 220 000 Fahrgäste Richtung Wannsee, und es sollten noch mehr werden. Viele der armen Familien fuhren nur die Strecke vom Bahnhof Großgörschenstraße in Kreuzberg bis Schlachtensee und liefen auf Trampelfaden durch den Wald zum See, um die fünf Pfennig mehr bis zur Station Nikolassee zu sparen.
Selbstverständlich nahmen nun auch die Probleme zu: Die Leute hinterließen Abfall, es gab keine Toiletten, niemand kümmerte sich um die Ordnung. Also wurden Regeln geschaffen, von den Behörden erlassen, von Freiwilligen in neuen Badevereinen wie den Wannseaten organisiert und durchgesetzt. Es folgte eine Dreiteilung des Strandes in Abschnitte für Männer, Frauen und Familien, getrennt durch hohe Holzzäune; es entstanden Zelte und Holzhütten zum Umkleiden und mit Sanitäranlagen, die Polizei erließ Kleidungsvorschriften, die verpönte Dreiecksbadehose für Männer wurde verboten, für Frauen das Tragen eines Badeanzugs angeordnet, „der Schultern, Brust, Leib und die Beine etwa bis zum Kniegelenk bedeckt“.
Ein weiterer Versuch von Villenbesitzern, den von dem Freibad ausgehenden Lärm zu unterbinden, scheiterte indes. Einem Schreiben bezüglich „ruhestörenden Lärms im fiskalischen Familienbade Wannsee“ wurde von den Behörden 1911 kein Gehör geschenkt – obwohl zu den Unterzeichnern auch der prominente Maler Max Liebermann zählte, der eine Villa am westlichen Ufer des Großen Wannsees besaß. Zur gleichen Zeit schuf sein Kollege Heinrich Zille vergnügte Bilder vom prallen Strandleben im „Lido der Armen“ am anderen Seeufer. Das Ganze blieb eine Attraktion: Im Sommer 1912 wurden 500 000 Besucher gezählt. Dazu war das Bad nun ganzjährig geöffnet, im Winter strömten die Berliner in Massen zum Schlittschuhlaufen auf dem damals noch regelmäßig zufrierenden See.
Heinrich Zilles Berliner Strandleben, 1912
Doch dann kam der Erste Weltkrieg, viele Männer mussten an die Front und die Frauen in die Fabriken, der Spaß war erst einmal vorbei. Das Freibad verfiel, bis es in den 1920er Jahren eine große Renaissance erlebte und schließlich die moderne Form erhielt, die wir heute noch sehen. Der Wannsee gehörte jetzt zu Groß-Berlin und 1924 übernahm die Stadt die Anlage. Der Achtstundentag für die Beschäftigten, die Arbeitslosigkeit der vielen anderen erlaubten mehr Muße und steigerten das Bedürfnis nach erschwinglicher Entspannung von den Mühen der Großstadt in der Natur.
Dies war die Zeit des fortschrittlichen Berliner Stadtbaurats Martin Wagner. Der Architekt und Anhänger der Neuen Sachlichkeit ließ in Berlin moderne, menschengerechte Großsiedlungen wie Bruno Tauts Hufeisensiedlung in Berlin-Neukölln entstehen. 1928 legte er gemeinsam mit dem Architekten Richard Ermisch einen anspruchsvollen Entwurf für ein zeitgemäßes „Weltstadtbad“ mit großen Seeterrassen, Wandelgängen, Freitreppen und einem Restaurant am Wannsee vor. Für alle Ideen reichte das Geld nicht, aber dennoch entstand bis 1930 eine eindrucksvolle moderne, massentaugliche Anlage, eine hell verklinkerte Stahlskelettkonstruktion mit horizontalen Fensterbändern, ebenso formschön wie zweckmäßig durchgestaltet. Der brandenburgische Sandboden wurde mit feinerem Ostseesand aufgeschüttet und das Ganze erhielt nun den Namen Strandbad Wannsee. Mit seinem über 1000 Meter langen Strand ist es bis heute das größte Freibad an einem Binnensee in Europa.
Strandbad Wannsee, von Heckeshorn aus gesehen
Man kann den Bau am Ostrand des Wannsees als ein politisches Statement einer offen gestalteten Gesellschaft gegenüber dem elitären Konzept der Villen am anderen, dem Westufer, verstehen. Er war ein architektonisches Symbol für den demokratischen Aufbruch der Weimarer Republik. Nun besaß auch diese Seite des Sees einen spektakulären, mondänen Auftritt, und zwar für alle, und fügte sich so in die Gesamterzählung vom Mythos Wannsee. Eine Berliner Gedenktafel würdigt am Strandbad Ermisch und Wagner und ihr Werk: „Es gehört zu den bedeutenden Zeugnissen der Architektur der Moderne in Berlin.“
Die Berliner liebten das neue Strandbad. Nach der Rekordzahl von 1,3 Millionen Besuchern im ersten Jahr pendelte sich der Andrang in den folgenden Jahren bei einer Million ein. Die Attraktion am Wannsee spiegelte das Lebensgefühl einer neuen Zeit wider, das Bedürfnis vor allem einer jungen gebildeten Generation nach einer neuen Ästhetik, eben der Neuen Sachlichkeit. Ein ikonisches Beispiel dafür ist der 1930 erschienene Stummfilm Menschen am Sonntag einer Gruppe junger Filmenthusiasten um den später in den USA als Regisseur berühmt gewordenen Billy Wilder. Der Film zeigt das unbeschwerte Wochenende zweier junger Paare beim Baden, Faulenzen, Flirten und Streiten. Wesentliche Szenen entstanden 1929 und 1930 am Wannsee. „Wir wollen (…) ein Kino der frischen Luft, der echten Menschen, der realistischen Schauplätze“, schrieb Wilder in einem Essay über das Filmprojekt.4 Es entstand eine flirrende Sommergeschichte über das Lebensgefühl der Berliner Ende der 1920er Jahre, die in den Kinos zu einem großen Erfolg wurde.
Wenige Jahre später konnte man erkennen, dass dies auch eine Art letzter filmischer Aufschlag des Freigeistes und der Moderne der Weimarer Republik war, bevor die Nationalsozialisten das Land in ihren reaktionären Griff nahmen. Auch im Strandbad Wannsee waren die Vorboten bald zu spüren. Wie überall versuchten die Nazis auch dort, den öffentlichen Raum zu beherrschen, wobei ihnen das Strandbad wegen der modernen Architektur und der Freizügigkeit des dort gepflegten Umgangs besonders verhasst war. Sie erschienen mit Abzeichen der Hitlerjugend auf den Badehosen und suchten ab 1930 die offene Konfrontation mit Anhängern der Sozialdemokraten und Kommunisten. Es kam zu Rangeleien auf dem Strandgelände, zeitweise stationierte die Polizei zwei Wagen des Überfallkommandos vor dem Bad. Nach der Machtübernahme Anfang 1933 geriet der langjährige engagierte Direktor des Strandbades, der Sozialdemokrat Hermann Clajus, schnell ins Visier der Nationalsozialisten. Er nahm sich am 18. März in seinem Büro am Wannsee das Leben, um sich seiner drohenden Entlassung und Festnahme zu entziehen. Eine Gedenktafel erinnert an ihn.
Wie an vielen Orten, so sollten auch im Strandbad Juden bald aus der Öffentlichkeit vertrieben werden. Das erste 1935 angebrachte Schild mit der Aufschrift „Juden ist das Baden und der Zutritt verboten“ mussten die städtischen Behörden auf Weisung des Auswärtigen Amtes 1936 wieder entfernen, um einen schlechten Eindruck auf ausländische Besucher der Olympischen Spiele zu vermeiden. Das Aufspüren und Verjagen jüdischer Besucher übernahmen daraufhin freiwillige SA-Mitglieder in Badekleidung. Auf einer Sitzung des Magistrats im Juni 1937 wurde erneut über das Thema beraten. Stadtmedizinalrat Leonardo Conti erklärte dort laut einem Protokoll: „Ich bin selber der Ansicht, dass wir diesen Zustand der Ausschaltung der Juden aus den Badeanstalten allmählich verschärfen sollten. (…) Ob es bei Wannsee ratsam ist? Wannsee wird sehr viel von Ausländern besucht. Wannsee ist also der kritische Punkt.“5 Ab 6. Dezember 1938 wurde es Juden dann überall verboten, Badeanstalten und Freibäder zu besuchen. Den neuen Geist im Strandbad demonstrierten die Nationalsozialisten derweil auch durch gymnastische Massenübungen.
Während des Zweiten Weltkriegs ging der Badebetrieb weiter, obwohl auf dem Gelände ab 1943 auch eine Luftwaffenhelferkompanie und Einheiten der Organisation Todt stationiert wurden. Und doch kamen im letzten Kriegssommer 1944 noch einmal über 400 000 Besucher. Die aus der Luft gut sichtbare Anlage im Südwesten der Stadt diente den anfliegenden Bomberpiloten der Alliierten als Orientierungspunkt und blieb weitgehend unbeschädigt.
Nach Kriegsende beschlagnahmten erst einmal amerikanische Truppen das Strandbad, doch bald kamen auch die Berliner aus ihrer zerstörten Stadt wieder, um ein wenig Erholung am Wasser zu genießen. Die Wannseebahn war eine der ersten Linien, auf der die S-Bahn schon im Sommer 1945 wieder verkehrte. Bis zu 40 000 zogen an manchen Sommertagen ins Strandbad. So wurde der Strand auch zu einem beliebten Ort, an dem sich junge deutsche Frauen und amerikanische Soldaten kennenlernen konnten. Und schließlich klang ab 1951 Conny Froboess mit ihrem Schlager Pack die Badehose ein … mit einer eindeutigen Aufforderung aus den Radios.
So knüpfte das Strandbad fast nahtlos an seine Rolle als Sehnsuchtsort am Wannsee an, die es vor dem Krieg schon hatte. Der Schriftsteller Michael Krüger hat in seinem 2022 erschienenen Essay den 1950er Jahren am Wannsee eine großartige Erinnerung gewidmet: „An Sonntagen im Sommer fuhr man, wenn man etwas auf sich hielt, ins Strandbad Wannsee. Das Strandbad war Ostsee und Nordsee in einem. (…) Das Wasser, das in meiner Jugend nur von wenigen angeberischen Motorbooten aufgepflügt war, in denen die von uns verachteten (in Wahrheit natürlich beneideten) Neureichen ihre Muttis spazieren fuhren, schwappte träge an das immer von blendend weißem Sand gesäumte Ufer.“
Am Strandbad, 2005
Krüger beschreibt liebevoll die Segelboote, die wie entfernte Träume blinken, und die Ausflugsschiffe, die damals noch wirklich Dampfer waren. „Alles Schreckliche, Chaotische, Zwanghafte, was unser Leben bestimmte, von der Schule bis zur Politik, von den sozialen Unterschieden bis zu den Kleiderordnungen, schnurrte hier zusammen zu einer einzigen bewegten Plastik, in der Eis am Stiel geschleckt und Brause getrunken wurde, und wer wenig Geld hatte, brachte seinen Brausepulverwürfel mit (…). So etwa musste, wenn es denn überhaupt eines gab, das Paradies aussehen.“6
Und so war dieser Ort – gut 20 Jahre, nachdem Billy Wilder und seine Freunde hier ihren Film gedreht hatten, und nach einem auch an diesem Wasser organisierten Völkermord der Deutschen – wieder einer, der das Lebensgefühl einer neuen Generation, einer neuen Zeit spiegelte.
Doch auch diese neue Zeit ging irgendwann über das alte Strandbad hinweg. Das Interesse sank in dem Maße, wie sich immer mehr Berliner an die Strände Italiens und Spaniens aufmachten und der Reiz der weiten Welt gerade in der eingemauerten Stadt West-Berlin umso größer wurde. Die einmaligen Anlagen am Wannsee begannen zu verfallen, bis der Senat schließlich, gerade noch rechtzeitig vor dem 100. Jahrestag 2007, die denkmalgerechte Sanierung des Strandbades in die Wege leitete. So stehen heute an heißen Sommertagen wieder Hunderte Schlange vor den Kassenschaltern im historischen Eingangsgebäude mit seinen reizenden Schmuckelementen in der Ziegelmauer, wie den kleinen Fischmotiven. Das Strandbad ist wieder zum meistbesuchten Berlins geworden, obwohl manche Gebäudeteile wie das legendäre Restaurant Lido noch immer auf die Restaurierung warten.
Ein Detail in der Fassade des Strandbades
Den besonderen Reiz des Wassers vor der Kulisse des Strandbades haben inzwischen aber auch ganz andere Protagonisten als die alltäglichen Badegäste entdeckt. Schon in den 1980er Jahren kam das Kulturleben an den Strand, als der 75. Geburtstag mit Matrosenchor und Händels Wassermusik gefeiert wurde. Als West-Berlin 1988 Kulturstadt Europas war, gastierte das Bildhauersymposium „Wasserlinie“ im Strandbad. Hundert Tage lang schufen sechs international renommierte Steinkünstler unter den Augen der Badegäste Skulpturen, begleitet von Ausstellungen und Jazzworkshops.
Im selben Jahr geriet die Inszenierung Inferno und Paradies mit Bildern aus Dantes Göttlicher Komödie zu einem Riesenspektakel auf dem Wasser und dem Strand, mit hunderten Ruderern, die als Leuchtkäfer über den See schwebten, Wasserfontänen und einer überdimensionalen Leinwand, auf die der Mond projiziert wurde. In den Jahren 2011 und 2012 gab es den Versuch, am Wannsee Opernfestspiele nach dem Vorbild von Bregenz am Bodensee zu etablieren. Die beiden Inszenierungen – die Zauberflöte durch Katharina Thalbach und Carmen durch Volker Schlöndorff – auf einer Seebühne am Strandbad waren sehr erfolgreich, doch scheiterte die Fortsetzung an bürokratischen Hindernissen und Problemen mit dem Naturschutz.
So bleibt das legendäre alljährliche Spektakel „Wannsee in Flammen“ Mitte September die einzige Gelegenheit, zu der sich der See in eine nächtliche Arena verwandelt. Dann versammeln sich mit Einbruch der Dämmerung Dutzende voll besetzter Fahrgastschiffe aus Berlin und Potsdam auf der funkelnden Wasserfläche und beginnen langsam wie ein großes Karussell zu kreisen. Musik klingt über den See, überall sitzen und feiern Menschen auf den Stegen und Terrassen ebenso wie in dem bis Mitternacht geöffneten Strandbad, es ankern unzählige beleuchtete Boote vor den Ufern. Alle warten auf das Feuerwerk, das am späteren Abend von einem Ponton in der Mitte des Sees aus gezündet wird und eine spektakuläre Lichterschau an den Himmel zaubert. Das Lichterfest läutet das Saisonende ein.
Sommersaison am Wannsee, das bedeutet heute ein oft unübersehbares Gewimmel aus Motorbooten und Segelschiffen aller Größen, Ruderbooten, Flößen, Tretbooten, Ausflugsdampfern und der zwischen Wannsee und Kladow verkehrenden Fähre. Dazu viele Menschen an dem oft überfüllten Strandbad und den wenigen sonstigen Badestellen. Mittendrin die Boote der Wasserschutzpolizei und der DLRG, die oft mehr als genug damit zu tun haben, die Ordnung auf dem Wasser und an den Ufern einigermaßen aufrechtzuerhalten. Vandalismus, Belästigungen und Grenzüberschreitungen nehmen hier wie überall zu, und wenn Sommerhitze, Alkohol und andere Drogen im Spiel sind, kann es gerade auf dem Wasser auch gefährlich werden.
So freuen sich alle Freunde des Wannsees, wenn im Spätherbst die Stille zurückkehrt, die meisten Boote gut verpackt in ihren Winterlagern ruhen und die natürliche Schönheit des Sees wieder ganz zutage tritt. Nur die Fähre behält das ganze Jahr über ihren Rhythmus bei, fährt zur vollen Stunde vom Anleger in Wannsee in 20 Minuten über den See nach Kladow und zur halben Stunde wieder zurück. Seit 1892 gibt es diese Verbindung. Nur ganz selten war sie seither unterbrochen, meist wegen Eisgangs und einmal sechs Wochen zum Ende des Zweiten Weltkriegs, als der Wannsee zum Kampfgebiet wurde.
Im Jahr zuvor war noch Melitta von Stauffenberg mit der Fähre unterwegs gewesen, genau genommen am 16. Juli 1944. Die Schwägerin von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der vier Tage später eine Bombe in der Nähe Hitlers explodieren ließ und im Vertrauen auf dessen Tod den dann scheiternden Umsturz des Regimes auslöste, war auf dem Weg über das Wasser zur Wohnung der Stauffenberg-Brüder Claus und Berthold in der Tristanstraße in Nikolassee. Dort trafen sich einige der Verschwörer ein letztes Mal vor dem Attentat mit Stauffenberg. Wie Melitta, die Testpilotin bei der Luftwaffe in Gatow war, in ihrem Tagebuch festhielt, hatte sie selbst geschossene und ausgeweidete Kaninchen dabei, die sie an diesem Abend für die Männer in der Tristanstraße zubereitete. Es wurde spät, und als Claus’ Bruder Berthold sie zur letzten Fähre brachte, konnte sie wegen Überfüllung nicht zusteigen und verbrachte die Nacht in der Stauffenberg-Wohnung. Da waren es nur noch drei Tage bis zum Attentat.7
Es ist ein für sich genommen banales Vorkommnis und doch eng verknüpft mit einem der großen historischen Ereignisse der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, dessen das Land noch heute jährlich gedenkt. So erweist sich der Wannsee immer wieder als ein Ort dieser Geschichte, sein Wasser als ein Element des Mythos Wannsee.