Die beiden Blicke, die Assoziationen, sie sind verstörend. Der Blick vom Tor zum Eingang der Villa und der Blick von der Terrasse hinweg über den See. Natürlich sind die Blicke eigentlich harmlos, wenn man nicht weiß, was hier am Westufer des Wannsees geschah. Der Blick über einen schnurgeraden Kiespfad, der im mächtigen Portal der Villa mündet. Der Blick vom Garten über den See hin zur anderen Seite, wo der Sand des berühmten Strandbads hell am Ufer liegt.
Wer aber weiß, was sich hier in der Villa am Großen Wannsee im Januar 1942 zutrug, für den verschwimmt der lange Weg zur Tür des Hauses mit den bekannten Bildern der schnurgeraden Gleise, die zum großen Tor des Lagers Auschwitz führten, dem Weg in den Tod und die Vernichtung.
Wer weiß, dass in dieser Villa an einem Berliner Vormittag die Auslöschung der europäischen Juden mörderisch bürokratisch geplant wurde, der kann kaum fassen, dass die Täter das winterliche Strandbad sahen, wenn sie von ihren Akten aufblickten.
Noch heute, da das Haus zur Gedenkstätte wurde, ist das Nebeneinander der großbürgerlichen Fassade und der Abgrund des Massenmords kaum auszuhalten, wirken die violett blühenden Blumen vor dem Eingang in ihrer Farbenpracht so deplatziert wie die holländischen Kacheln drinnen in der Küche der Villa und der Kamin mit der kalten Asche im Erdgeschoss.
Die seeseitige Terrasse der Villa Marlier im Winter
Dabei ist die Erinnerung hier längst sauber sortiert und erklärt in einer guten Ausstellung, in einer Bibliothek im Obergeschoss und in den Gedenktafeln draußen an den Mauern. Alles, was man weiß über den Tag, an dem sich fünfzehn Männer der NSDAP, der Ministerien, der Geheimdienste und des Staatsapparats hier versammelten, um das unfassbare Verbrechen zu verabreden, den Völkermord zu organisieren – alles, was man darüber weiß, ist hier in der Gedenkstätte fassbar gemacht worden.
Seit 1933 hatte der Wannsee eine sinistre Anziehungskraft auf die neuen Machthaber ausgeübt. Joseph Goebbels und Albert Speer zogen an den See. Die Nationalsozialisten verlegten diverse ihrer Ämter und Organisationen in den Südwesten der Stadt. Hermann Göring ließ auf einem 500 000 Quadratmeter großen Gelände am Heckeshorn die neue Reichsluftschutzschule errichten. Deren Gebäude sind bis heute ebenso erhalten wie der dazugehörige Hochbunker, von dem aus während der letzten Kriegsmonate die Luftverteidigung Berlins kommandiert wurde. Auf der Insel Schwanenwerder bereitete die Reichsbräuteschule junge Frauen auf ihr Leben an der Seite von SS-Offizieren vor, während in der beschlagnahmten Villa Am Großen Wannsee 43–45 ein geheimes „Ostforschungsinstitut“ die Beherrschung der eroberten Gebiete insbesondere in der Sowjetunion vorbereitete. Die historisch fatalste Rolle aber spielte ebenjene Villa mit der Adresse Am Großen Wannsee 56–58, die der SS als Gästehaus diente.
Schulungsburg der NSDAP, Am Großen Wannsee 39/41
Reichsluftschutzschule der NSDAP
Das Haus wurde in einem anderen Krieg erbaut, nämlich gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs in den Jahren 1914 und 1915. Eine bittere Volte der Geschichte ist übrigens, dass es der gleiche Architekt entwarf, der auch die nahegelegene Villa des Malers Max Liebermann erbaute: Paul O. A. Baumgarten.
Das Berliner Unternehmerehepaar Marlier, das Baumgarten beauftragte hatte, wohnte hier allerdings nicht lange. Schon 1921 kaufte Friedrich Minoux die Villa von den Marliers. Minoux, politisch erzkonservativ, stand dem Stinnes- Konzern vor, der Mitte der 1920 Jahre einer der größten Arbeitgeber weltweit war. Das Haus war in seiner Größe und seiner exponierten Lage am See nie unauffällig, aber seine Geschichte war eigentlich nicht der Rede wert. Bis zum Jahr 1940. Da kaufte es eine Stiftung der SS mit dem Namen Nordhav.
Zwei Jahre später wurde die Villa dann endgültig zum Ort der Täter. Da hatte der Völkermord an den europäischen Juden mit dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 bereits begonnen. Dort „führten mobile Einsatztruppen der SS Massenerschießungen und – ab Dezember 1941 – Vergasungen von Juden durch. Auch Deportationen in den Zügen der Deutschen Reichsbahn fanden ab Oktober 1941 statt. Zum Zeitpunkt der Konferenz am Wannsee waren mindestens eine halbe Million Menschen ermordet worden.“1 Aber hier, am Wannsee, wurde in jenem Januar 1942 das große Morden bürokratisch endgültig besiegelt und organisiert.
Heute ist draußen an einem der Zäune ein Satz zu lesen, der auch für die deutsche Geschichte der Villa steht: „In der Gesellschaft der Täter wurde die Geschichte der Shoah aus einer vermeintlich objektiven Perspektive geschrieben. Dabei wurde die eigene familiäre und gesellschaftliche Verstrickung weitgehend ausgeblendet.“
Längst heißt die Villa Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, und das hört sich so an, als habe man hier seit dem Ende des Krieges schon immer der Opfer gedacht und einander historisch gebildet, den Ort als Mahnmal und Denkmal gesehen. Aber genau so war es eben nicht. Fünfzig Jahre mussten in Deutschland vergehen von der „Besprechung mit anschließendem Frühstück zum 20. Januar 1942 um 12 Uhr“, zu welcher der SS-Mann Reinhard Heydrich einlud, bis zum 20. Januar 1992, an dem die Gedenkstätte an diesem Ort eröffnet wurde.
Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz: Innenansicht der Ausstellung
Die Jahrzehnte dazwischen, der Kampf um die Villa am Wannsee, der Kampf zwischen denen, die für das Erinnern, und jenen, die für das Vergessen stehen wollten, diese Jahrzehnte illustrieren die deutsche Geschichte mehr, als man sich hätte ausmalen können.
Der 10. Oktober 1974 in Berlin-Charlottenburg ist so ein Tag, der sehr viel über Deutschland, den Wannsee und die Erinnerung an die Villa erzählt. An diesem Januartag springt ein schon älterer Mann, der 61-jährige Historiker Joseph Wulf, in der Giesebrechtstraße aus dem vierten Stock in den Tod.
Wulf hatte Auschwitz überlebt, das Lager, dessen mörderische Möglichkeiten schon auf der Wannseekonferenz eine Rolle gespielt hatten, und den Todesmarsch zu Kriegsende. Aber in den 1970er Jahren der Bundesrepublik, in einer Zeit, in der doch alle den Aufbruch suchten, sucht er, der Deutschland so oft überlebt hat, den Tod. Verzweifelt.
Heute trägt die Bibliothek in der Gedenkstätte am Wannsee seinen Namen. Aber in den 1960er und 1970er Jahren fühlten sich viele gestört von ihm und seinem Namen, von dem jüdischen Historiker Joseph Wulf und seinem Plan, aus der Villa der mörderischen Pläne eine Gedenkstätte zu machen. Denn damals sprach kaum jemand darüber, was hier geschehen war, wollte kaum jemand darüber sprechen. Das Protokoll der Besprechung vom Januar 1942 wurde in der Bundesrepublik erst in den 1950er Jahren veröffentlicht. Und der Berliner Tagesspiegel schrieb noch Mitte der 1960er Jahre: „Der Völkermord durch die Nazis hat ein deutsches Trauma hervorgerufen, das die ‚Verdrängung‘ psychologisch begreiflich macht.“2
Es ist im Nachhinein nur sehr schwer zu verstehen, was mit der Villa Am Großen Wannsee 56–58 nach dem Krieg geschah. Kaum zu glauben, dass hier hunderte Kinder im Park am See spielten und in den Etagenbetten lagen über jenem Saal, wo vor nicht langer Zeit die Deportation und Ermordung der europäischen Juden geplant wurde. Der West-Berliner Bezirk Neukölln nutzte das große Haus in guter Lage und guter Luft schon seit 1952 als Schullandheim für die Kinder aus den Hinterhöfen der großen Stadt. Bis zu hundert Mädchen und Jungen konnten hier übernachten, zehntausende haben hier ihre Freizeiten verbracht.
Tanzende Kinder im Garten des Schullandheims des Bezirks Neukölln
Und daran wollte über Jahrzehnte niemand rütteln, das wollte man sich von dem Historiker, der Auschwitz überlebt hatte, das wollte man sich von Joseph Wulf und all den anderen, die hier eine Gedenkstätte und kein Schullandheim sahen, nicht wegnehmen lassen.
Die Fotos aus den 1970er Jahren zeigen die Neuköllner Kinder in der Wannseevilla mit ihren Erzieherinnen, ihren Lehrerinnen so unbeschwert, wie sich alle die Gegenwart nach der Vergangenheit wünschten. In den Beeten vor dem Haus blühten die Blumen. Charlottenburg, das Arbeitszimmer des Joseph Wulf in der Giesebrechtstraße, war weit weg. Und auch die Erinnerung. Über Wulfs Schreibtisch hing der Satz: „Erinnere Dich!!! 6 000 000.“3 Sechs Millionen. Die Opfer wachten über den Historiker. Für ihn gab es kein Vergessen.
Joseph Wulf in seiner Wohnung in der Giesebrechtstraße in Berlin-Charlottenburg, 27. August 1968
Wulf kam 1952 nach West-Berlin, im selben Jahr, in dem aus der ehemaligen SS-Villa am Wannsee ein Schullandheim wurde. Dort, wo er aus dem Fenster sprang, in der Giesebrechtstraße, erinnert heute eine Bronzetafel an ihn.
Die Erinnerung an die Täter, das Gedenken der Opfer, das alles war zäh in Berlin und in Deutschland, in den Jahrzehnten nach dem Krieg. Auch die Erinnerung an die Widerstandskämpfer, die einst am Wannsee lebten, die Erinnerung an die helle Seite, wurde lange vergessen. Dabei waren die Ufer des Wannsees auch ein Ort, an dem der Kampf gegen das Naziregime organisiert wurde. Die berühmteste Adresse ist die Tristanstraße 8, wo Claus Graf Schenk von Stauffenberg, der Hitlerattentäter, lebte. Seine Wohnung war ein Treffpunkt der Widerständler. Um wirklich vertraulich und abhörsicher über ihre geheimen Pläne sprechen zu können, gingen sie oft auf dem Wannsee segeln. Melitta von Stauffenberg, eine Schwägerin von Claus, stieß manchmal zu der Runde hinzu.
Tristanstraße 8 in Berlin- Wannsee mit der Wohnung der Brüder Berthold und Claus Graf Schenk von Stauffenberg, Aufnahme aus den 1960er Jahren
Aber auch der sozialdemokratische Pädagoge Adolf Reichwein, ein wichtiges Mitglied und Kontaktmann des Kreisauer Kreises zum kommunistischen Widerstand, lebte mit seiner Frau Rosemarie in Wannsee, wo sie geboren und aufgewachsen war. Sie gehörte selbst zu den im Kreisauer Kreis aktiven Frauen, einer von Persönlichkeiten aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten gebildeten Widerstandsgruppe, die Pläne zur demokratischen Neuordnung Deutschlands nach einem Sturz des Hitlerregimes entwickelte. Während Rosemarie Reichwein den Naziterror überlebte, wurde ihr Mann nach dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 verhaftet, zum Tode verurteilt und drei Monate später in Plötzensee hingerichtet. An ihn erinnert ein Stolperstein vor ihrem einstigen Grundstück in der Hohenzollernstraße 21, das heute mit einigen Reihenhäusern bebaut ist. Schräg gegenüber liegt das erhaltene Haus des Wannseemalers Philipp Franck, eines der wichtigsten Impressionisten um die Jahrhundertwende. Die Eheleute ruhen wie die Francks in einem Ehrengrab des Landes Berlin auf dem Friedhof an der Friedenstraße, dort wieder als Nachbarn vereint.
Der Erinnerung an den kommunistischen Widerstandskämpfer John Schehr und drei seiner Genossen dient eine Stele an der Königstraße unterhalb des Schäferbergs. Sie sollen dort in der Nacht vom 1. auf den 2. Februar 1934 „auf der Flucht“ von Gestapobeamten erschossen worden sein. Sie waren zuvor im KZ Columbiahaus inhaftiert.
Der Wannsee bot manchen verfolgten und verzweifelten Menschen auch ungewöhnlichen Schutz, wie der Überlebende Josef Scherek später berichtete. Er musste sich nach der Ausbombung der elterlichen Wohnung verstecken, weil er als „Halbjude“ verfolgt wurde. „Ich nächtigte und wohnte unmittelbar nach der Ausbombung zunächst auf meinem Paddelboot am Wannsee, wo ich mich im Schilf zu verstecken suchte. Das geschah bis zum Eintritt des Frostes. Auf dem Paddelboot blieb ich bei jeglichem Wetter, waschen und rasieren musste ich mich im Freien. Wochenlang konnte ich trotz Kälte und Feuchtigkeit meines Quartiers kein warmes Essen zu mir nehmen. Ich ernährte mich meistenteils im Boot von Brot, rohen Mohrrüben und dergleichen.“ Dann nahm sich Lucie Strewe, eine stille Heldin aus Schlachtensee, seiner an und organisierte Verstecke für den Verfolgten.4
Heute erinnern viele Stolpersteine an die Wannseer Juden, die den Holocaust nicht überlebt haben. Das wäre zu Zeiten des Historikers Joseph Wulf noch undenkbar gewesen. Lange machte sich über dieses Schullandheim, in dessen Mauern Adolf Eichmann im Januar 1942 Protokoll führte, kaum jemand Gedanken. So ist im Tagesspiegel am 16. Oktober 1966 der sehr lapidare Satz zu lesen: „Die schreckliche historische Bedeutung einer Wannsee-Villa mit idyllischem Wassergrundstück (…) ist nach dem Kriege von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen worden.“5
Aber das änderte sich, als Joseph Wulf die deutsche und die Berliner Politik immer stärker dazu drängte, aus dem Haus am Wannsee ein Dokumentationszentrum für die hier geplanten Verbrechen zu machen. Seine Gegner argumentierten immer wieder mit dem großen Wert des Schullandheims. Es gebe kein anderes Haus, in dem man die Neuköllner Schüler unterbringen könnte, und diese seien schließlich die Zukunft, das andere die Vergangenheit.
Die Welt am Sonntag zitiert Klaus Schütz, den Regierenden Bürgermeister Berlins im November 1967 so: „Ich will ein Dokumentationszentrum. Ich will keine makabre Kultstätte.“6 Ein Dokumentationszentrum könne man doch überall in der Stadt errichten. Er wollte nicht am Ort der Geschichte an die Geschichte erinnern.
Aber selbst das Dokumentationszentrum ist bald nicht mehr gewollt. „Der West-Berliner Senat bekundete zunächst Interesse an dem geplanten Dokumentationszentrum. Doch dann weigerte er sich, die Villa am Wannsee zur Verfügung zu stellen. Der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz lehnt den Umzug des Schullandheims ab. Das Dokumentationszentrum soll an einem anderen Ort entstehen. Nach langen Verhandlungen scheitert auch dieser Plan an finanziellen und personellen Fragen.“ So fassen es die Ausstellungsmacher in der heutigen Gedenkstätte kurz und richtig zusammen.7
Die ganze Stimmung gegen Wulf und seine Pläne hatte die rechtsextreme National- und Soldatenzeitung bereits im Januar 1967 auf einen polemischen Punkt gebracht: „Sollen Berliner Kinder für NS-Verbrechen büßen?“8 Man könnte hier auch die Gegenfrage stellen: Sollte ein Auschwitz-Überlebender wie Joseph Wulf sich für seinen Kampf um das Gedenken von alten und neuen Nazis in der Bundesrepublik verhöhnen lassen? Aber das ist natürlich auch eine polemische Frage.
Ganz sachlich reagierte selbstverständlich die deutsche Politik in diesen Nachkriegsjahren auf Joseph Wulfs Wunsch, aus der Wannseevilla, in der der Holocaust organisiert worden war, ein Dokumentationszentrum statt eines Schullandheimes zu machen. Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier forderte Mitte der 1960er Jahre ganz einfach den Abriss der Villa: „Da kommt nur eins in Frage, nämlich das Haus abzureißen, so dass keine Spur von dieser Schreckensstätte übrig bleibt.“9 Der Schlussstrich mit der Baggerschaufel.
Joseph Wulf schreibt wenige Monate, bevor er sich in Charlottenburg aus dem Fenster stürzt, in einem Brief an seinen Sohn: „Du kannst Dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein, und die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“10 Wulf hatte achtzehn Bücher über das Dritte Reich und die Folgen geschrieben, eine Wirkung seiner Arbeit sah er nicht mehr.
Wulf erlebte noch, was im November 1972 geschah. In jenem Herbst enthüllen Heinz Stücklen, der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, und Heinz Galinski, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde West-Berlins, eine Gedenktafel neben dem Tor der Villa zur Straße Am Großen Wannsee. Das war nicht zu erwarten gewesen von der Neuköllner Bezirkspolitik, die ja eigentlich immer und immer wieder erklärte: Das ist und bleibt unser Schullandheim.
Aber was dann geschieht, lässt wahrscheinlich auch Heinz Galinski wieder sehr an der deutschen Gesellschaft zweifeln. Die Tafel wird mit Parolen beschmiert und schließlich gestohlen. Und was machen die Deutschen, die Berliner? Sie lassen nicht etwa eine neue Tafel am Tor anbringen. Der Mut reicht gerade noch so weit, eine Tafel direkt an der Villa anzuschrauben, hinter den hohen Toren. Wo sie kaum noch jemand sieht.
Doch die Zeiten ändern sich. Langsam. Anfang der 1980er Jahre, Joseph Wulf hat sich da schon längst umgebracht, gibt der Bezirk eine neue Tafel in Auftrag, eine Kopie der alten, und lässt sie wieder draußen am Tor anbringen. Der Text lautet heute noch immer: „In diesem Haus fand im Januar 1942 die berüchtigte Wannsee-Konferenz statt. Dem Gedenken der durch nationalsozialistische Gewaltherrschaft umgekommenen jüdischen Mitmenschen.“
Das ist alles nicht falsch. Aber eine Ausstellung in der Villa weist 2020 auf entscheidende Punkte hin, die auf der Tafel noch unerwähnt blieben: „Wer an der Konferenz teilgenommen hatte und was auf ihr besprochen worden war, darüber gibt die Tafel keine Auskunft. Zudem verschweigt sie die Tatsache, dass die ‚jüdischen Mitmenschen‘ systematisch ermordet worden waren.“11 Und genau diese systematische Ermordung war ja hier organisiert worden – auf einer „Besprechung“, wie Reinhard Heydrich das Treffen der Mörder genannt hatte. Wer nach dem Krieg der Zusammenkunft den seltsam wissenschaftlich und geradezu harmlos klingenden Namen „Wannseekonferenz“ gegeben hat, ist auch nicht klar. Auf der Tafel am Tor wird das Wort „Konferenz“ kommentarlos übernommen.
Und doch: Die 1980er Jahre verändern bald vieles in der Villa Am Großen Wannsee 56–58. Richard von Weizsäcker, der sich in diesem Jahrzehnt noch oft und eindrucksvoll mit der nationalsozialistischen Geschichte der Republik auseinandersetzen wird, ist zum 40. Jahrestag der Wannseekonferenz, am 20. Januar 1982, als erster Regierender Bürgermeister West-Berlins bei einer Gedenkveranstaltung in der Villa zugegen. Weizsäcker weiß um die Widersprüche und Gegensätze im Berliner Süden, er ist ein begeisterter Schwimmer in den Seen hier und er kennt die Geschichten ihrer Ufer gut, auch die dunklen. Nicht zuletzt aus der Biografie seines Vaters, der im Dritten Reich Staatssekretär im Auswärtigen Amt war und später wegen der Mitwirkung bei der Deportation französischer Juden nach Auschwitz als Kriegsverbrecher verurteilt wurde.
Am 1. September 1986, Richard von Weizsäcker ist da schon Bundespräsident, steht wieder ein Regierender Bürgermeister West-Berlins in der Villa am Wannsee. Es ist ein historischer Tag, als Eberhard Diepgen neben Heinz Galinski, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, eine improvisierte Pressekonferenz gibt. Aber wie so oft bei eher improvisierten Pressekonferenzen in Berlin fällt an diesem Tag ein entscheidender Satz: Das Schullandheim des Bezirks Neukölln wird in eine Gedenkstätte umgewandelt.
Mehr als ein Jahrzehnt nachdem Heinz Galinski hier die Gedenktafel eingeweiht hatte, die dann geschändet und gestohlen wurde, ist nun klar: Das Schullandheim ist Geschichte und die Villa wird endlich mit ihrer Geschichte verbunden.
Im Jahr 1988 beginnen die Umbauarbeiten, das Haus steht jetzt unter Denkmalschutz. Und im Januar 1992, zum 50. Jahrestag der Wannseekonferenz, geschieht das, woran Joseph Wulf nicht mehr hatte glauben können: An den Ufern des Wannsees wird endlich eine Gedenkstätte eröffnet. Zur Eröffnung sagt Eberhard Diepgen: „Heute geben wir diesen Ort seiner Geschichte zurück.“12
Die erste Ausstellung, die an diesem 20. Januar 1992 in der Villa eröffnet wird, ist eindrucksvoll: Große Schwarz- Weiß-Fotos zeigen die Opfer des Holocausts. Es ist nicht möglich, sich diesen Bildern zu entziehen. Und doch ist die Eröffnung nur halb so eindrucksvoll wie die erste Ausstellung.
Warum? Weil die deutsche Politik ganz offensichtlich noch immer kein besonderes Interesse an der Wannseevilla und ihrer Geschichte zeigt. Michael Kallenbach scheibt dazu am 24. Januar im Jewish Chronicle: „German Leaders stay away from Wannsee Villa opening.“13
Helmut Kohl, der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, ist nicht zur Eröffnung gekommen, Richard von Weizsäcker, der vergangenheitsbewusste Bundespräsident, seltsamerweise auch nicht, Bundesinnenminister Rudolf Seiters ist zwar da, bleibt aber im Publikum sitzen und sagt nichts. Die einzige Spitzenpolitikerin, die redet, ist Rita Süßmuth, Bundestagspräsidentin und Christdemokratin.
Wahrscheinlich hat sie ein Gespür dafür, dass viele Deutsche jetzt bereit sind, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Am 9. Juli 1992 vermeldet die Jüdische Wochenzeitung: „Die Berliner Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz erlebt einen Besucheransturm.“14 Das ist eine gute Nachricht.
Und für alle, die mit der Geschichte der Wannseevilla ein wenig vertraut sind und sich an Joseph Wulfs verzweifelten Kampf um eine Gedenkstätte erinnern, für die gibt es zehn Jahre später, im Dezember 2012, eine noch bessere Nachricht. In der Villa wird eine neue Sonderausstellung eröffnet. Sie heißt „Meine eigentliche Universität war Auschwitz“ und ist: eine Ausstellung über das Leben und das Werk des Historikers Joseph Wulf anlässlich dessen 100. Geburtstags.
Noch einmal gut vier Jahre später, zum 25-jährigen Jubiläum der Gedenkstätte, wird in der Villa die Sonderausstellung „Ausgeblendet. Der Umgang mit NS-Täterorten in West-Berlin“ eröffnet. Ein besserer Ort für dieses Thema, ein besserer Ort als das Haus Am Großen Wannsee 56–58 zum Beleg für die jahrzehntelange Ausblendung der Geschichte ist wohl kaum denkbar.
Wie präsent die Wannseevilla und ihre Geschichte heute im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist, zeigte sich im Januar 2024. Da wurde bekannt, dass im vorangegangenen Herbst Rechtsextremisten in einer Villa an einem See bei Potsdam über Möglichkeiten zur Deportation von Ausländern und Deutschen mit ausländischen Wurzeln beraten hatten. Auf den ersten Blick ist die Ähnlichkeit der nur wenige Kilometer auseinanderliegenden Häuser frappierend, hier wie dort waren Rassisten am Werk, und so wurde in der Öffentlichkeit schnell die Verbindung zur Wannseekonferenz gezogen. Bei den folgenden Massendemonstrationen gegen Rechtsextremismus war diese Assoziation stets gegenwärtig.
Es gibt manche Linien, die aus der dunklen Vergangenheit der Nazidiktatur am Wannsee bis in die Gegenwart reichen. Dazu gehört die Affäre um ein Grundstück am Stölpchensee, das einst der jüdischen Familie Wolffsohn gehörte. Es ist schon anhand der bekannten Fakten eine unglaublich klingende Geschichte, und dabei sind noch gar nicht alle Zusammenhänge enträtselt. Klar ist so viel: Der Berliner Kinounternehmer und Verleger Karl Wolffsohn erwarb in den 1920er Jahren ein großes Gelände am bewaldeten südöstlichen Ufer des Stölpchensees, auf dem die Villa Ring stand. Das Grundstück mit der Adresse Kohlhasenbrücker Straße 40/41 wurde wie Wolffsohns übriger Besitz, darunter große Kinos, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach und nach seinem Eigentümer entzogen und „arisiert“. 1939 gelang ihm mit seiner Familie die Flucht nach Palästina. Sein Enkel Michael, der spätere prominente deutsche Historiker, wurde 1947 in Tel Aviv geboren.
1949 kehrte die Familie nach Deutschland zurück und erstritt 1954 die Rückgabe zumindest eines Teils ihres von den Nazibehörden geraubten Besitzes, darunter auch das Grundstück am Stölpchensee. Allerdings gab es eine Auflage: Sollten die Stadt oder der Bezirk an dieser Stelle eine öffentliche Grünanlage schaffen wollen, sei das Grundstück an die öffentliche Hand zu verkaufen und zu räumen, hieß es in dem Bescheid. Hintergrund waren offenbar Überlegungen, in dem von der DDR umschlossenen West-Berlin neue Naherholungsflächen zu schaffen.
Erst einmal genoss aber die Großfamilie Wolffsohn die Sommerfrische am Stölpchensee, sogar die Verwandten aus Israel kamen dazu in den Berliner Südwesten, wie Michael Wolffsohn sich in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk Kultur erinnert.15 Die Villa war im Krieg zerstört worden, aber es gab einen Bungalow, in dem er viele seiner Sommerferien in den 1950er und 1960er Jahren verlebte. 1965 lautete dann der Bescheid aus dem Zehlendorfer Rathaus: Die Grünanlage soll kommen. Die Wolffsohns mussten verkaufen, konnten das Grundstück aber erst einmal weiter als Mieter nutzen. Sie räumten es Mitte der 1970er Jahre und kümmerten sich nicht weiter darum.
2016 veranstaltete Michael Wolffsohn ein deutsch-israelisches Familientreffen in Berlin aus Anlass des 100. Gründungsjahrs der Gartenstadt Atlantic am Berliner Gesundbrunnen, die einst seinem Großvater gehört hatte und inzwischen von ihm übernommen und saniert worden war. Bei der Gelegenheit organisierte er auch einen Ausflug an den Stölpchensee, um einmal zu schauen, was aus dem einstigen Grundstück geworden sei. Die Familie war schockiert: Sie traf an der Kohlhasenbrücker Straße auf einen Urwald – von einer öffentlichen Grünanlage keine Spur. Michael Wolffsohns Kommentar: „Wie nennt man so etwas? Betrug. Betrug an meiner Familie, deutsch-jüdischen Rückkehrern.“ Zumal schon der Rückkaufpreis lachhaft gering gewesen sei.
Auf ihre empörte Nachfrage erhielten die Wolffsohns 2017 die Auskunft aus dem Rathaus Zehlendorf, dass man Mitte der 1970er Jahre eine Grünanlage geplant habe. Doch erst 1986 seien die Gebäudereste auf dem Gelände abgerissen worden.16 Gut informierte Wannseebürger bargen vorher noch wertvolle Einbauten und Flügeltüren aus der einstigen Villa Ring. Nun sollte das Grundstück „park- oder waldartig angelegt werden“, teilte die Bezirksbürgermeisterin Cerstin Richter-Kotowski (CDU) mit.
Doch es geschah: nichts. Allerdings ging 2011 das Gelände vom Bezirk auf die Berliner Forstverwaltung über, samt aller Zuständigkeiten, was die Sache noch komplizierter werden ließ. 2019 schließlich beschloss die Bezirksverordnetenversammlung auf Antrag der CDU, auf dem Grundstück solle ein „informativer Naherholungspunkt“ mit einer Aussichtsplattform über den See errichtet werden, dazu eine Bank und eine Informationsstele zur Geschichte des Geländes und seiner Eigentümer.
Mittlerweile hat sich die FDP-Bezirksverordnete Katharina Concu der Sache angenommen und in mehreren Anfragen genaue Aufklärung über die Vorgänge um das Grundstück gefordert, vor allem mit Blick auf den erzwungenen Verkauf 1965. „Die Antworten legen nahe, dass der Bezirk seine Rolle beim Erwerb des großen Ufergrundstücks hinterfragen und historisch vollumfassend aufarbeiten lassen muss“, teilte sie im Juli 2023 mit.17 Sie hat einen ganz neuen Aspekt in die Geschichte gebracht, nämlich die Rolle des damaligen Bezirksbürgermeisters Willy Stiewe (CDU).
„Konkret geht es darum, zu verstehen, warum unter dem Vorwand einer Grünanlagenerrichtung – die nie erfolgte – eine jüdische Familie nach erfolgreicher Restitution zum Verkauf ihres Grundstücks gedrängt wurde und welche Rolle der damalige Bezirksbürgermeister von Zehlendorf Willy Stiewe dabei spielte“, teilte Concu im Juli 2023 mit. Sie mahnte, dass sich das Bezirksamt seiner braunen Vergangenheit in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik bewusst werden müsse: „Wenn bei der Beantwortung meiner Anfrage (…) Stiewe als einfacher Journalist abgetan wird, zeigt dies entweder, dass man die Augen vor der Wirklichkeit verschließen möchte oder in Sachen Aufarbeitung noch Nachholbedarf besteht.“18
Im Nationalsozialismus war Willy Stiewe elf Jahre Chefredakteur der Neuen Illustrierten Zeitung gewesen. Studien aus dem Jahr 2008 zeigten, dass er der bedeutendste zeitgenössische Fachautor zum Pressefoto im NS-Staat gewesen sei, schrieb die FDP-Politikerin. Als Bildredakteur sei er unter anderem für die NSDAP-Zeitschrift Illustrierter Beobachter tätig gewesen und habe unter anderem 1941 antisemitische Pressebilder aus Kellergewölben im Ghetto Lublin veröffentlicht, die er als vorbildlich charakterisierte. Wikipedia kennzeichnet Stiewe als „wichtigsten Theoretiker der NS-Bildpropaganda“.
Nach 1945 wurde er als bloßer Mitläufer entnazifiziert, trat der CDU bei und wurde 1955 Bezirksbürgermeister in Zehlendorf. Das Amt bekleidete er zehn Jahre und erhielt zum Abschied das Große Bundesverdienstkreuz. Auf die Frage nach Stiewes Rolle beim Erwerb des besagten Grundstücks erhielt Concu vom Bezirksamt folgende Antwort: „Zusammenhänge zwischen Willy Stiewe und seinen Arbeiten während der NS-Zeit als Journalist und dem Erwerb des genannten Grundstücks im Jahr 1965 durch das Bezirksamt Zehlendorf sind dem Bezirksamt nicht bekannt.“ Für die Antwort zeichnete der zuständige Stadtrat Patrick Steinhoff von der CDU. (Er ist uns bereits im Kapitel 2 im Zusammenhang mit dem Konflikt um die Bebauung des Grundstücks Königstraße 3 begegnet.)
Doch Concu war nun erst recht alarmiert und äußerte einen schweren Verdacht: „Als treuer Anhänger des NS-Regimes wird Willy Stiewe nach 1945 seinen Hass auf Juden mit Sicherheit nicht abgelegt haben.“ Sie habe die Vermutung, „dass die persönliche Einstellung Stiewes dazu führte, dass der Bezirk zwischen 1955 und 1965 mit Nachdruck den Erwerb des Grundstücks der jüdischen Familie Wolffsohn am Stölpchensee verfolgte“. Dabei könnte die vermeintlich zu errichtende Grünanlage am Seeufer nur als Vorwand gedient haben.
Wolffsohn ließ ebenfalls nicht locker. „Es geht mir nicht um Rache, Rückgabe, Bauen – nein, ich will, dass der Staat sich zu seiner damaligen Unglaubwürdigkeit bekennt, indem er heute glaubwürdig sagt, tut uns leid, wir erinnern daran“, sagte er dem Deutschlandfunk Kultur. „Das muss kein großes Denkmal werden, aber es ist eine Frage der ethischen Pietät.“
Immerhin erinnert nun eine Stele an Karl Wolffsohn und den Konflikt um das Grundstück am Stölpchensee. An einem regnerischen Dezembernachmittag 2023 enthüllte Michael Wolffsohn bei einer kleinen Zeremonie am Waldesrand das Denkmal. Die Präsidentin des Abgeordnetenhauses und Vertreter des Bezirksamtes betonten dabei, wie wichtig die anhaltende Aufklärung über die Verbrechen des Nationalsozialismus sei. Wolffsohn hielt eine versöhnliche Rede, erinnerte allerdings noch einmal, dass es sich beim Verhalten des Bezirks um einen „doppelten Betrug“ gehandelt habe: an seiner Familie und an den Bürgern Berlins. So setze eine staatliche Institution ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel. „Daher ist die Causa Stölpchensee keine Causa Wolffsohn, sie trifft und betrifft die Ethik der Berliner und bundesdeutschen Staatlichkeit.“ Das sei in Zeiten heftiger Angriffe auf die Demokratie eine ernste Angelegenheit. So hatte es auch schon der Autor des Deutschlandfunk-Beitrags, Wolf-Sören Treusch, kommentiert: Bei dieser Affäre handele es sich nicht um eine Provinzposse. „Sie zeigt, wie schwer sich deutsche Behörden tun glaubwürdig zu agieren, gerade auch, wenn es dabei um jüdischen Besitz geht.“19
Und so nehmen auch die Peinlichkeiten kein Ende: Die Stele steht entgegen dem Beschlusses nicht auf dem ehemaligen Grundstück Wolffsohn mit Blick über den See, sondern einige hundert Meter entfernt an der Kohlhasenbrücker Straße. Der Grund: Für das Grundstück ist inzwischen die Forstverwaltung zuständig, für den Straßenrand der Bezirk.