Kapitel 8
Die Musik

Der Sound des Kalten Krieges

Marlene Dietrich, Hildegard Knef, Cornelia Froboess, Harald Juhnke, Reinhard Mey, Die Ärzte und Die Toten Hosen. Sie alle besingen den Wannsee. Und sie alle besingen eine Sehnsucht. Sie beschwören einen Ort, der für die Geschichte und Geschichten steht, der eine flirrende Chiffre für Berlin ist, für den Umbruch der Zeiten und den Wunsch nach Leben, Freiheit und natürlich den Sommer. Und selbst im leichtesten Song von Cornelia Froboess, die damals noch „Die kleine Conny“ hieß, in dem Schlager, eigentlich dem Kinderlied Pack die Badehose ein, kommt alles zusammen: „Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein // Und dann nischt wie raus nach Wannsee. // Ja, wir radeln wie der Wind durch den Grunewald geschwind // Und dann sind wir bald am Wannsee […]. // Pack die Badehose ein, nimm dein kleines Schwesterlein // Denn um Acht müssen wir zuhause sein.“

1951, als sie das Lied das erste Mal auf der Bühne sang, war Cornelia Froboess gerade sieben Jahre alt, der Zweite Weltkrieg war noch nah, Berlin eine Stadt in Trümmern, Deutschland war geteilt in zwei Staaten, und auch am Wannsee verlief die Frontlinie. In dem Lied entfliehen die Kinder nach Schulschluss der Stadt, der heißen Stadt im Sommer. Und man kann wohl sagen, dass die Deutschen, zumindest die Westdeutschen, mit dem ungemein populären Schlager in der unmittelbaren Nachkriegszeit auch ihrer jüngsten Geschichte entflohen. So einfach konnte das sein mit der richtigen Melodie.

Cornelia „Conny“ Froboess

Das Stück, das Gerhard Froboess, Cornelias Vater, ursprünglich für die Schöneberger Sängerknaben geschrieben hatte, war in jener Zeit purer Eskapismus. Und genau deshalb war der Song wohl so erfolgreich, kurz nach dem Krieg, mitten in der Schuld und deren Verdrängung. Die Schöneberger Sängerknaben wollten das Lied des Komponisten Froboess nicht, warum, das ist nicht bekannt, aber sie verpassten eine große Chance, so viel ist sicher. Cornelia Froboess wurde weltberühmt mit Pack die Badehose ein – und schon bald wurden die Zeilen, die so unpolitisch sein wollten, doch noch politisch. Warum? Weil der Wannsee eben immer mehr als ein See war, er war ein See im Epizentrum des Kalten Krieges, und dieser Krieg erwischte auch das harmlose Lied der Familie Froboess.

Der Autor Matthias Oloew hat 2008 im Berliner Tagesspiegel eindrücklich beschrieben, was dazu führte, dass schon ein Jahr nach dem Erscheinen des Originals von Cornelia Froboess eine bittere, satirische Fassung des Lieds in der DDR aufgenommen wurde. In einer Zeit, in der in Berlin zwar noch keine Mauer stand, aber der Osten russisch besetzt war und im Südwesten der Stadt, auch am Wannsee, die US-Armee stationiert war. Und deshalb geht der Song aus der DDR so: „Schließ die Badehose ein // Lass das Baden lieber sein // Denn der Ami schießt am Wannsee!“

Was war geschehen? Matthias Oloew beschreibt es im Tagesspiegel so: Am 5. August 1952, einem sehr heißen Tag, wird die sieben Jahre alte Karla Jäger zu einer Figur des Kalten Krieges. Das Strandbad ist voll, gut 17 000 Besucher sind gekommen und Karla Jäger planscht mit anderen Kindern im Wasser nahe des Ufers. „Sie hört nicht, was kommt. Niemand hört es. Sie spürt aber plötzlich einen stechenden Schmerz, hinten am Hals. Es tut sehr weh. Sie fasst hin und hat Blut an ihren Fingern. Weinend läuft sie zu ihrer Mutter, die sie in den Arm nimmt und tröstet. Ein Wespenstich vielleicht, denkt die Mutter, oder eine kleine Schnittwunde. An der Hand ihrer Mutter geht Karla zum diensthabenden Sanitäter. Der reagiert ungewöhnlich nervös. In Karlas Hals steckt eine Kugel, ein Infanteriegeschoss der US-Armee. Das weiß da noch niemand, aber die Schwimmmeister ahnen es. Sie setzen das Kind und seine Mutter in ein Motorboot und fahren auf die andere Seeseite ins Krankenhaus Wannsee.“1

Das Mädchen überlebt nach langen Wochen im Krankenhaus. Aber der Fall wird zu einem Politikum im Kalten Krieg. Denn schnell wird in der Stadt bekannt, dass die Kugel ein Querschläger ist, den amerikanische Besatzungssoldaten bei einer ihrer Schießübungen im Grunewald abgefeuert hatten. Es war auch nicht der erste Unfall dieser Art, die anderen waren nur nie an die Öffentlichkeit gedrungen. Jetzt ist das anders, und die DDR reagiert prompt, denn eine bessere Propagandageschichte als die von amerikanischen Soldaten, die auf ein Berliner Mädchen schießen, kann es aus Sicht der ostdeutschen Regierung kaum geben.

Der Tagesspiegel berichtet weiter: „Das Neue Deutschland macht aus dem verhängnisvollen Querschläger einen ‚Mordanschlag der US-Okkupanten‘, die B.Z. am Abend (nicht zu verwechseln mit der B.Z. aus dem Hause Axel Springer) will gar erfahren haben, daß der US-Geheimdienst das kleine Mädchen Karla abschirme und daß es keine Besuche empfangen dürfe.“2

Und deshalb wurde das Lied von Conny Froboess umgedichtet und mit guten Ratschlägen an die West-Berliner neu besungen von der Schauspielerin und Kabarettistin Gina Presgott: „Packt die Panzerwagen ein // Legt paar Steine noch mit rein // Und dann rin damit in’n Wannsee!“

Doch Politik und Propaganda sind häufig kurzlebig, schöne Erinnerungen und ein oft gehörtes Lied bleiben eher: Cornelia Froboess und Pack die Badehose ein sind legendär geworden, Gina Presgotts zornige Version aus Ost-Berlin ist längst vergessen.

„Das Private ist politisch.“ So lautet einer der bekanntesten Rufe der 68er-Generation, nicht nur in West-Berlin. Wenn man hört, wie oft der Wannsee politisch besungen und beschrieben wurde, könnte man auch sagen: „Der See ist politisch“. Selbst Harald Juhnke, der tragisch gute Entertainer der West-Berliner, der Politik nie ernst nehmen wollte, hatte das verstanden. In Juhnkes Hymne auf Berlin nach dem Mauerfall – Mensch Berlin (Was bist du groß geworden) – von 1999 übt er nicht nur handfeste Kapitalismuskritik und singt über moderne Raubritter und Wendehälse in der einst geteilten Stadt: „Mancher will sich die ganze Welt jetzt kaufen // und so mancher geht dabei K.O.“

Harald Juhnke beschreibt auch das neue Gefühl einer grenzenlosen Stadt am Wannsee: „Aus der Insel wurde wieder’n festes Land // Plötzlich gibt’s die Ostsee da im Norden // Und der Wannsee hat von beiden Seiten Strand.“ Von beiden Seiten Strand. Da wird die Berliner Lage nach dem Mauerfall zwar etwas überinterpretiert, denn ein größerer Teil der Wannseestrände lag auch im Kalten Krieg immer im politischen Westen. Aber Harald Juhnke, der in Berlin geboren wurde und den das Berliner Leben letztlich umbrachte, hat erstens natürlich immer recht, wenn es um seine Stadt Berlin geht. Und zweitens ist ein ganzer See in Freiheit etwas anderes als die kleine West-Berliner Freiheit, für die die meisten Ufer des Wannsees immer standen.

Die Welt war tatsächlich über Nacht eine andere geworden. Berlin und Brandenburg kamen am südlichen Ende des Wannsees wieder zusammen, Brücken wurden wieder Brücken und aus Sackgassen wurden neue Wege. Sagen wir es mit Harald Juhnke einfach so: „Jetzt muss ich neue Straßennamen lernen // Und kann auf alten Straßen wieder gehen. // Mensch Berlin, was bist du groß geworden // und nun sollst du wieder Hauptstadt sein.“

Bei aller Überraschung und der Überwältigung durch das Neue ist Harald Juhnkes Hymne auf Berlin jedoch immer ein Lied vom Glück des Mauerfalls und dem Ende eines langen Kalten Kriegs, der Berlin und auch den Wannsee so oft in schwarz-weiße Farben getaucht hatte. Das war vorbei und die Zukunft der Stadt lag vielversprechend da, für jedermann. Diese Neuerfindung einer offenen Stadt für alle trug einen optimistischen Ton, Aufbruch war der Grundton.

Ein Koffer in Berlin

Das war so ganz anders in einem noch viel berühmteren Lied über Berlin, das selbstverständlich auch den Wannsee besingt: Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin. Wir kennen die Versionen von Marlene Dietrich (1954) und Hildegard Knef (1963), den beiden Berlinerinnen, und sie haben eines gemeinsam. Sie sind getragen von Melancholie. Von schweren Gedanken über eine im Krieg untergegangene Welt, eine im Krieg untergegangene Stadt. Das Berlin der 1920er, der 1930er Jahre des vorigen Jahrhunderts: „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin // Deswegen muss ich nächstens wieder hin. // Die Seligkeiten vergangener Zeiten // Sind alle noch in meinem kleinen Koffer drin.“

Die Seligkeiten vergangener Zeiten. Sie lagen bei Marlene Dietrich Anfang der 1950er Jahre schon lange zurück, zumindest, was Berlin betraf. Sie war in Hollywood geblieben, da sie mit den Nationalsozialisten nicht künstlerisch paktieren wollte. Sie hatte ihre Geburtsstadt einst verlassen, um in den USA Karriere im Film zu machen, als sie aber 1939 ihre deutsche Staatsbürgerschaft zurückgab und dafür die amerikanische annahm, da tat sie das längst aus politischer Überzeugung. Sie war zu einer Exilantin geworden, die mehr als noch einen Koffer in Berlin hatte, die aber von vielen Deutschen in der Nachkriegszeit als „Vaterlandsverräterin“ beschimpft wurde, weil sie mit ihrer Kunst auf Seiten der Amerikaner in den Krieg gegen den Nationalsozialismus gezogen war. Wie muss es für die Dietrich gewesen sein, in jenen Jahren zu singen: „Ich hab’ noch einen Koffer in Berlin“? Mit diesen Zeilen: „Luna Park und Wellenbad, kleiner Bär im Zoo // Wannseebad mit Wasserrad, Tage hell und froh. // Werder, wenn die Bäume blüh’n, Park von Sanssouci // Kinder, schön war doch Berlin, ich vergess’ es nie.“

„Tage hell und froh“. So erinnerten viele, die aus Berlin vertrieben worden waren, den Wannsee. Auch wenn man damals längst wusste, was im Krieg in einer Villa am Wannsee beschlossen worden war. Der Wannsee war ja in der Musik und in den Liedern nie Wirklichkeit und geschriebene Geschichte, sondern oft Erinnerung und Traum. Und ein Gefühl, in dem man sich verlieren konnte, wenn Marlene Dietrich und Hildegard Knef die Sehnsucht nach einer Zeit artikulierten, die eine kurze war, die Zeit zwischen den beiden großen Kriegen in Berlin. Eine untergegangene Zeit.

„Doch ich häng, wenn ihr auch lacht, heut’ noch an Berlin.“

Neue Deutsche Welle am Wannsee

Interessant ist, dass auch später die Wannseesongs so schön aus der Zeit fallen konnten und harmlose Bilder in gar nicht harmlosen Zeiten heraufbeschworen. Besonders in der geteilten Stadt Berlin. 1981 war eines jener Jahre, die den Auftakt boten zum Höhepunkt des Kalten Krieges, zum nuklearen Wettrüsten zwischen Ost und West. Der Atomkrieg war eine reale Bedrohung, zumindest war die Furcht vor ihm durchaus berechtigt. Hinzu kamen Waldsterben, Smog und der Terror der RAF. Schwierige Zeiten.

Aber man musste das nicht so empfinden, Anfang der 1980er in der Mauerstadt. Berlin bot damals eben auch ein ganz anderes Lebensgefühl, eine besondere Freiheit, die Bands wie Ideal, Sängerinnen wie Nina Hagen und Sänger wie Rio Reiser in ihren Songs aufscheinen ließen. Und es gab auch die Arglosigkeit vieler Bands der Neuen Deutschen Welle, die mitten in weltpolitisch harten Zeiten völlig unpolitisch waren. So wie die Berliner Gruppe UKW, die mit einem ihrer kleinen Songs, Sommersprossen (1982), dem Wannsee ein Denkmal der Leichtigkeit setzt: „Durch den Grunewald zum Badestrande // Wir beide radeln Hand in Hand // die Havelberge auf und ab // Sommerzeit bringt uns auf Trab. // Im Strandkorb dann am Wannseestrande // vermeidet Creme den Sonnenbrand // Schau, Tina, deine zarte Haut, voll Sommersprossen, wo man nur schaut.“

Auf diese Reime muss man erst einmal kommen. Aber selbst bei der leichtesten aller Wannseehymnen von UKW schwingt noch etwas Zeitgeist mit an den Ufern Berlins: „Komm lass uns jetzt ins Wasser gehen // Sport hält uns alle fit uns schön.“ Das war wichtig in der Bundesrepublik, und im Strandbad Wannsee konnte sogar jeder längst so sein, wie er wollte. Das war das Versprechen Berlins. Innere Freiheit in einer von außen gefangenen Stadt.

Weiter geht es so: „Nach hübschen Mädchen Ausschau halten // Beim Sonnenbad am Radio schalten. // Auf den Terrassen obendrauf // trifft Helmut seinen schönen Klaus.“ Ganz so seicht lief die Neue Deutsche Welle am Wannsee dann doch nicht aus, wie sollte sie auch an diesen Ufern?

Auch nicht bei den Ärzten und den Toten Hosen, den beiden Bands, die seit Jahrzehnten Standards setzen, die einen aus Berlin, die anderen aus Düsseldorf. Und die sich beide des Wannsees angenommen haben. Interessanterweise geschieht das bei den Berliner Ärzten beiläufiger als bei den Toten Hosen aus dem Rheinland.

Bei den Ärzten ist der Wannsee versteckt, sehr gut versteckt im Song Westerland, der im Jahr 1988 herauskam, also auch noch zu Mauerzeiten, als zwischen Sylt und Berlin noch die DDR lag. Und der Wannsee ein Ort war, an dem man sich herausträumte aus Berlin: „Jeden Tag sitz ich am Wannsee und ich hör den Wellen zu. // Ich lieg hier auf meinem Handtuch, doch ich finde keine Ruh. // Diese eine Liebe wird nie zu Ende geh’n // Wann werd’ ich sie wiedersehen?“

Der Wannsee als der Traum vom Meer in der eingemauerten Stadt. Als Nordseeersatz für die West-Berliner. Die an der Havel und der Spree nicht glücklich wurden: „Wie oft stand ich schon am Ufer // Wie oft sprang ich in die Spree // Wie oft mussten sie mich retten // Damit ich nicht untergeh’?“ Und wieder dieser Traum vom Meer: „Manchmal schließe ich die Augen // Stell mir vor ich sitz’ am Meer // Wann denk’ ich an diese Insel // Und mein Herz, das wird so schwer. […] // Oh ich hab solche Sehnsucht // Ich verliere den Verstand // Ich will wieder an die Nordsee // Ich will zurück nach Westerland.“

Ein Jahr später wollten dann alle nach Berlin, wo schließlich und endlich die Mauer gefallen war, auch in der Nähe des Wannsees. Und wo Harald Juhnke die neue Zeitrechnung von der großen, wiedervereinigten Stadt besang.

Wannsee ich dich endlich wieder?

Als Berliner hatten Die Ärzte natürlich eine engere Bindung zum Wannsee, aber die Toten Hosen – Campino und seine Düsseldorfer Band – setzten dem Wannsee das größte musikalische Denkmal. Zwar spät, im Jahr 2007, aber wirklich gut. Der Refrain ist ein ziemlich albernes Wortspiel, aber einmal gehört, bleibt er immer im Ohr und im Kopf: „Wannsee, Wannsee // Wann seh’ ich dich endlich wieder // Wannsee, Wannsee // Ich komm’ zurück zu dir.“

Die Geschichte des Songs ist eigentlich schnell erzählt. Ein Junge aus Düsseldorf verliebt sich in ein Mädchen aus Berlin. Das Mädchen campt mit ihren Eltern in einem Wohnmobil am Wannsee. Die Eltern wollen ihre Tochter nicht hergeben, der Junge entführt das Mädchen, sie werden entdeckt, schlimme Szenen, Gewalt und Schäferhunde mit großen Zähnen, aber am Ende ein Happy End.

Klingt alles banal, ist es aber nicht. Denn die Toten Hosen verpackten in dem Song eine ganz eigene Liebeserklärung an das neue Berlin und zeigten auch auf die nervigen Hipster in der Stadt. Und natürlich hätten sie ohne dieses Mädchen am Wannsee nie erkannt, wie schön Berlin auch sein kann. Im Sommer, jenseits vom Prenzlauer Berg und von Mitte: „Ich will nicht mehr in den Lärm, in die Hipsterviertel und verdreckten Straßen // Fahr’ direkt von Tegel in die frische Luft, dein Duft hat dich verraten // Ohne dich wär’s hier nur halb so schön // Lass uns abfeiern und tanzen gehen.“

Das Schönste an der Wannseehymne der Toten Hosen ist aber gar nicht der Song selbst, sondern das Video, das sie zum Song gedreht haben. Denn dieses kleine Video zeigt, dass Die Ärzte vom Rhein eigentlich die ganze Geschichte des Wannsees verstanden haben. Sie sitzen am Anfang wie Pfadfinder auf dem Zeltplatz am Wannsee, sie singen und schrammeln mit den Instrumenten wie auf einem kleinen Kirchentag. Und es gibt zunächst eine wunderbare Szene, als ein auch schon älterer Berliner mit sehr schwarz gefärbten Haaren aus der Tiefe des Campingplatzes auftaucht. Er schreit die Toten Hosen an: „Ruhe hier“. Und dann geht er mit einem „Scheiß Mucke“- Spruch auf den Lippen meckernd weg. Der Mann hat alles Recht dazu, die Toten Hosen am Wannsee zu stellen, denn es ist Rod, der Gitarrist der Ärzte aus Berlin. Ein schöner kleiner Regieeinfall für das Wannsee-Video.

Die Toten Hosen aber spielen einfach weiter. Und gleich neben ihnen sitzt das Mädchen auf dem Zeltplatz, das angebetete Mädchen aus der Hauptstadt neben dem riesigen, schimmernden Wohnmobil ihrer Eltern, die wie eine Parodie auf das West-Berliner Bürgertum aus Mauerzeiten wirken. Der Vater in weißer Golfkleidung, in kurzer Hose mit dem Schläger in der Hand, die Mutter ganz Charlottenburger Diva im späten Marlene-Dietrich-Look. Sie haben sogar einen Butler dabei, der die Drinks in Glaskelchen vor dem Wohnwagen serviert.

Als der Junge schließlich das Mädchen entführt, um seine Liebe endlich bei sich zu haben, da reicht der Butler dem Vater ein schweres, altes Mobiltelefon mit Chromantenne. Der Vater funkt zwei Männer am Wannseeufer an, die wie eine Mischung aus Bademeistern, Eisverkäufern und DDR-Grenzern wirken. Bald schon wird die Verfolgung der Flüchtigen aufgenommen. Mit einem schnellen Boot auf dem See. Als sie den Jungen und das Mädchen stellen, wird das flüchtige Paar am Ufer mit zwei Schäferhunden in Schach gehalten, während der Butler mit einer Pistole auf sie zielt. Wer hier nicht an die DDR-Grenze denkt, wer diese Assoziation bei dem Videoclip nicht mitdenkt, der hat wahrscheinlich zu lange in Düsseldorf gelebt.

In den wenigen Minuten, in denen sich die Toten Hosen durch die Berliner Geschichten streamen, haben sie das glückliche Ende der Geschichte am Wannsee auch noch mitbedacht. Denn irgendwann ist die Welt dann doch von Grenzposten, Schäferhunden, Pistolen und West-Berliner Eltern befreit. Der Junge und das Mädchen stehen frei am Ufer, hinter ihnen brennt das Lagerfeuer auf dem Strand. Die Welt steht ihnen offen.

Wer hätte das ein paar Jahrzehnte zuvor gedacht? Ende der 1960er Jahre sang der West-Berliner Reinhard Mey in seinem wunderbaren Stück Hauptbahnhof Hamm noch ganz melancholisch vom Wannsee, so wie die Berlinerinnen Marlene Dietrich und Hildegard Knef es einst auch getan hatten. Weil das alte Berlin zerbombt und Geschichte war und das neue, ungeteilte Berlin in jenen Jahren unvorstellbar erschien. Das alles ist längst vorbei, der Wannsee lässt sich wieder über die Avus und die Glienicker Brücke erreichen, von Westen und Osten, von Norden und Süden. Und wer am Wannsee von Westerland träumt, kann noch am selben Tag einfach hinfahren. Alles ist anders, alles ist einfacher geworden als in der Zeit, als nur ein Koffer in Berlin übriggeblieben war.

Und doch bleibt der See auch in der Musik noch heute ein Symbol für die zähe Berliner Geschichte, für die wilde Weimarer Republik, die in einem mörderischen Regime endete, für die Kämpfe des vergangenen Jahrhunderts, den Aufstieg und den Fall Berlins. Wenn in der berühmten Fernsehserie Babylon Berlin das Orchester des Clubs Moka Efty die Zeit zwischen den Kriegen mit seinem Soundtrack hinterlegt, dann macht das ein Stück ganz ohne Worte, ohne Text besonders gut. Das Lied heißt einfach: Wannsee Weise. Und es ist die Melodie, in der mehr als ein ganzes Jahrhundert mitschwingt.