An einem kalten Novemberabend 2014 steht Angela Merkel lächelnd auf der Glienicker Brücke, die Wannsee mit Potsdam verbindet. Über ihr strahlt das an einem Brückenbogen befestigte Staatswappen der DDR im Scheinwerferlicht, links weht die Fahne der DDR an einem Mast, rechts die der Sowjetunion. Eine vollkommen unwirkliche Szenerie, aber so ähnlich sah das 25 Jahre zuvor noch aus, als hier die fast unüberwindbare Grenze zwischen West und Ost verlief, zwischen Berlin und Potsdam, aber auch die zwischen zwei verfeindeten Weltsystemen.
Hier war die Welt erst einmal zu Ende, jedenfalls für normale Bürger, gleich, ob sie aus Richtung Westen an die Brücke kamen oder aus Richtung Osten. Auf der Potsdamer Seite war nicht mal das möglich, dem Havel-Übergang war noch ein weitläufiges Sperrgebiet vorgelagert. Nur ab und an geriet die Brücke in den Fokus der Weltöffentlichkeit, wenn sie genutzt wurde, um amerikanische und sowjetische Agenten auszutauschen. Das war zum ersten Mal am 10. Februar 1962 so, als der in der Sowjetunion als Spion inhaftierte amerikanische Pilot Francis Gary Powers und der in den USA wegen Spionage für die Sowjetunion verurteilte Kunstmaler Rudolf Abel hier die Seiten wechselten. Auf dem Weg zur Glienicker Brücke war Wannsee für Abel der letzte Ort im Westen, den er sah, während Powers hier nach 17 Monaten sowjetischer Haft erstmals wieder westlichen Boden betrat.
Was einst höchst verschwiegen unter dem Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, wird hier nun noch einmal groß inszeniert. Der amerikanische Starregisseur Steven Spielberg dreht einen Film über die Aktion, mit der damals eine gefährlich zugespitzte Situation zwischen den beiden Atommächten entspannt wurde. Bridge of Spies – Der Unterhändler heißt das Werk, und der Hollywoodstar Tom Hanks spielt diesen Unterhändler, den Rechtsanwalt Abels, der eine zentrale Rolle bei der Aushandlung des Deals hatte. Es ist eine aufwändige deutsch-amerikanische Produktion. 400 Mitarbeiter der Babelsberger Filmstudios sind beteiligt, 800 Komparsen beleben die Szenen an verschiedenen Drehorten und für fünf Tage wird die Brücke noch einmal gesperrt.
Spielberg hat die Kanzlerin und ehemalige DDR-Bürgerin Angela Merkel zu den Dreharbeiten an diesem historischen Ort eingeladen. Sie steht vergnügt zwischen ihm und Tom Hanks auf der Brücke über die Havel und scheint den Moment zu genießen, in dem Weltgeschichte und Weltstars hier mit ihr zu einem Stelldichein zusammentreffen.
Angela Merkel auf dem Filmset von Bridge of Spies mit Regisseur Steven Spielberg (links) und Hauptdarsteller Tom Hanks
So rückt die Brücke, die schon längst wieder nichts anderes ist als eben eine vielbefahrene Verbindung zwischen der deutschen Bundes- und der brandenburgischen Landeshauptstadt, noch einmal aus der Normalität des Alltags heraus und erinnert an die bitteren 40 Jahre, in der sie auf Beschluss der DDR zwar Brücke der Einheit hieß, aber das genaue Gegenteil repräsentierte.
Seit 1680 gab es an dieser Stelle eine feste Querung der Havel, zunächst war es eine hölzerne, auf Pfählen ruhende Konstruktion, die mehrfach erneuert wurde. Ab 1831 entstand eine elegante, von Karl Friedrich Schinkel entworfene Backsteinbrücke, Teil einer der wichtigsten Hauptstraßen des Deutschen Reiches. Sie wurde 1907 unter Protesten der Öffentlichkeit von der Preußischen Wasserbauverwaltung durch die bis heute erhaltene Eisenkonstruktion ersetzt, die höheren und breiteren Schiffen als bisher die Durchfahrt erlaubte.
Die Brücke überstand den Zweiten Weltkrieg bis Ende April 1945, als die Wehrmacht in Wannsee noch einmal versprengte Einheiten zusammenzog, um der aus Osten vorrückenden Roten Armee in einem aussichtslosen, sinnlos gewordenen letzten Gefecht Einhalt zu gebieten. Bis heute gibt es sich widersprechende Darstellungen, was die Zerstörung der Brücke in den letzten Kriegstagen verursachte: eine von den Deutschen angebrachte Sprengladung oder der Beschuss durch sowjetische Panzer. Sowjetische Pioniere errichteten unmittelbar nach Ende der Kampfhandlungen nebenan eine hölzerne Pontonbrücke, um die Straßenverbindung provisorisch wieder herzustellen.
Ob sie dann auch von den Teilnehmern der Potsdamer Konferenz der Siegermächte im Juli und August 1945 für ihren Weg von den für sie geräumten Villen am Griebnitzsee zum Konferenzort Schloss Cecilienhof genutzt wurde, ist fraglich. Diese von Historikern lange als Fakt behandelte Annahme ist in jüngerer Zeit in Zweifel gezogen worden. Danach könnten die Konferenzteilnehmer eher eine von russischen Pionieren gebaute Brücke zwischen dem Babelsberger Park und der Berliner Vorstadt in Potsdam benutzt haben. Das wäre eine deutlich kürzere Strecke gewesen.1
An der Bedeutung der Konferenz ändert das natürlich nichts. Hier wurde beschlossen, was wenig später auch an der Glienicker Brücke Realität wurde: die Teilung Deutschlands in vier Besatzungszonen, aus denen dann zwei Staaten wurden. Die ostdeutschen Behörden ließen indessen die zerstörte Brücke reparieren und im Dezember 1949, kurz nach Gründung der BRD und der DDR, wieder eröffnen, nun mit dem euphemistischen Namen „Brücke der Einheit“ versehen. Doch schon 1952 sperrte die DDR den Übergang für den allgemeinen Verkehr, der nun nur noch den Alliierten für Fahrten zu ihren Verbindungsmissionen in Potsdam zur Verfügung stand. Später galt dies auch für in der DDR akkreditierte westliche Diplomaten.
Für den Ort Wannsee und seine Einwohner hatte die Schließung der Brücke sowohl praktische als auch mentale Folgen. Mit einem Mal war ihre Hauptdurchgangsstraße nach Potsdam, die historische Reichsstraße 1, eine Sackgasse geworden. Und damit wurde der ganze einstige Sehnsuchtsort der Metropole Berlin zu einer Art entlegener Sackgasse West-Berlins. Aus der begehrten topografischen Randlage war nun eine politische Randlage geworden. Mit dem Mauerbau 1961 verschärfte sich die Situation noch. Die nun mit allerlei Schikanen bewehrte deutsch-deutsche Grenze verlief von Wannsee aus gesehen westlich in der Mitte der Havel, südlich durch den Griebnitzkanal und den Düppeler Forst. Die DDR ließ in den Grenzgewässern Unterwassersperren anlegen und sicherte ihre Ufer mit Mauern, Zäunen und Wachtürmen, mit rund um die Uhr patrouillierenden Grenzsoldaten, ausgestattet mit Schießbefehl und scharfen Hunden, gegen Fluchtversuche ab. Mindestens fünf Menschen wurden bei dem Versuch getötet, hier die Havel zu durchschwimmen oder die Sperren zu überwinden, manche schafften es aber auch. Dokumentiert ist zum Beispiel der Fall eines 29-Jährigen, der am 8. Oktober 1986 nachts über zwei Kilometer durch den Jungfernsee von Potsdam nach Wannsee schwamm und dabei durch ein Loch in der Unterwassersperranlage an der Schiffkontrollstelle Nedlitz tauchte.2
Wannsee war auch politisch zu einer Insel geworden. Die Alltagssituation jener Jahre auf der West-Berliner Seite der Grenze in Wannsee beschreibt der Historiker Heinrich Kaak so: „Im Schatten der Grenze erhielt sich hier ein abgelegenes Revier für Spaziergänger, Wanderer und Langläufer. (…) Die Glienicker Parkanlagen verwilderten, die Zeit schien angehalten worden zu sein. Melancholie beherrschte diesen Ort der Paradoxien. Wo die ehemals größte Ausfallstraße Berlins und Reichsstraße 1 an einem Schild ‚You are leaving the American Sector‘ endete, man Berlin aber gar nicht verlassen konnte, und wo ein Schild ‚Brücke der Einheit‘ auf eine unerbittliche Teilung hinwies. Man konnte zwar noch nach Potsdam hinüberschauen, die Grenze blieb jedoch an dieser Stelle unüberbrückbar. Man sah die Grenzanlagen am gegenüberliegenden Havelufer. Mauer und Todesstreifen bewirkten, dass sich dort kaum etwas rührte. Im Wasser zeigten Bojen den Grenzverlauf. Boote der Grenztruppen der DDR patrouillierten in der Fahrrinne, um Fluchtversuche zu verhindern; Wasservögel hatten das Revier erobert.“3 An den Wochenenden entwickelte sich eine Art Grenztourismus zur Havelgrenze. Dann schauten West-Berliner und Touristen mit Ferngläsern „nach drüben“.
Einmal noch wurde die Glienicker Brücke aus diesem Dornröschenschlaf während der deutschen Teilung geweckt – am 11. Februar 1986, fast auf den Tag genau 24 Jahre nach dem Austausch von Abel und Powers, diente die Brücke noch einmal als Bühne der Weltpolitik. Nun wurde hier der prominente russische Dissident Anatoli Schtscharanski im Zuge des Austauschs von vier westlichen und fünf östlichen Agenten in den Westen entlassen. Es war wieder ein Deal zwischen Moskau und Washington unter Einbezug der DDR, wesentlich vermittelt vom Ost-Berliner Anwalt Wolfgang Vogel. Während aber 1962 die Öffentlichkeit erst nach Vollzug der geheimen Aktion auf der Glienicker Brücke informiert wurde, bezogen nun schon Tage vor dem Ereignis hunderte Journalisten, Fotografen und Kameraleute aus aller Welt Position an der westlichen Seite der Brücke. Sie drängelten um die besten Beobachtungsplätze. Die Nachrichtenagentur dpa sicherte sich das einzige in West-Berlin zugelassene Privatauto mit Funktelefon, ein Mercedes Cabrio aus Zuhälterkreisen. Egal, mit Hilfe dieses Telefons würde die Nachricht über die Freilassung Schtscharanskis so schnell wie damals nur möglich zu den deutschen Medien gelangen.
Nach einem Agentenaustausch zwischen Ost und West am 1. Februar 1986 steigen Spione und Gefangene aus dem Westen an der Glienicker Brücke in einen Bus.
Die Amerikaner hätten den Rummel gern vermieden und einen unauffälligen Grenzübergang im Süden Berlins gewählt, doch der DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker widersprach. Er habe die „Brückenshow“ gewünscht, um die kleine DDR weltweit als Mittlerin zwischen den Supermächten präsentieren zu können, vermutete Vogel nach Darstellung seines Biografen Norbert F. Pötzl später.4 Er schildert minutiös, wie die Aktion dann ablief: Um 10:42 Uhr traf die kleine Kolonne mit den fünf Häftlingen aus dem Westen an der Glienicker Brücke ein. Dazu gehörten die Wagen des US-Botschafters in Bonn, Richard Burt, und seines Kollegen in Ost- Berlin, Francis Meehan, sowie der von seiner Frau gelenkte goldfarbene Mercedes Vogels, voran fuhr ein Polizeiauto mit Blaulicht.
Burts Wagen wurde auf der westlichen Seite der Brücke in Fahrtrichtung Wannsee geparkt, damit er nach Schtscharanskis Eintreffen ohne Verzögerung den Ort des Geschehens verlassen konnte, bevor der eigentliche Gefangenenaustausch stattfand. Vogel und Meehan fuhren durch den geöffneten Grenzübergang auf die Potsdamer Seite, holten den Russen mit Meehans Wagen ab und kehrten zum Übergang zurück. Dort erwarteten sie, jenseits des weißen Grenzstrichs, Botschafter Burt und der westdeutsche Staatssekretär Ludwig Rehlinger. Schtscharanski stieg aus und fragte: „Wo ist die Grenze?“ Burt antwortete: „Genau hier, dieser dicke weiße Strich.“ Mit einem Hüpfer sprang der befreite Dissident über die Linie. Burt und Rehlinger nahmen ihn in die Mitte und gingen flotten Schritts zum Auto des Botschafters, das sofort in Richtung Flughafen Tempelhof abfuhr.5 Nun wickelten Vogel und die beteiligten Diplomaten beider Seiten den eigentlichen Agentenaustausch ab.
Um 11:31 Uhr wurden die Schlagbäume auf der Glienicker Brücke wieder geschlossen. Die Medienleute bauten ihre Kameras und Antennen der Übertragungswagen ab, und wenig später herrschte an der Glienicker Brücke wieder die Ruhe und Einsamkeit eines Ortes am Ende der Welt.
Doch nun kannte die Welt die Brücke und ihre Grenze. Die Medien in Europa und den USA hatten sensationsheischend über die spektakuläre Aktion im Südwesten der geteilten Stadt berichtet und als Zeichen der Entspannung zwischen den Großmächten gewertet. Der Mythos Wannsee war um eine Geschichte reicher. 28 Jahre später aber erzählte der Regisseur Stephen Spielberg die Geschichte vom ersten Austausch noch einmal neu und hollywoodtauglich. Bridge of Spies wurde ein großer Erfolg und 2016 in mehreren Kategorien für den Oscar nominiert, der Schauspieler Mark Rylance erhielt als bester Nebendarsteller für seine Rolle als sowjetischer Spion Rudolf Abel eine der Auszeichnungen. Es zeigte sich: Der Mythos lebt.
Keine vier Jahre nach der Aktion nahmen dann die Bürger von diesseits und jenseits der Havel ihre Brücke wieder in Besitz. Schon am Abend des 10. November 1989, keine 24 Stunden nach der überraschenden Öffnung der innerstädtischen Grenzübergänge, öffnete die DDR die Glienicker Brücke als ersten zusätzlichen Übergang für den Autoverkehr.
„Mit Feuerwerk, Wunderkerzen und einem Spalier von mehreren tausend West-Berlinern wurden gestern Abend die ersten Besucher aus der DDR empfangen, die über die Glienicker Brücke zu Fuß oder mit dem Auto kamen“, berichtete der Tagesspiegel. „Das Bauwerk, nach Jahrzehnten wieder öffentlich zugänglich und gestern Abend tatsächlich zur Brücke der Einheit geworden, wurde zum Schauplatz eines Volksfestes.“6
Am folgenden Wochenende stauten sich die Trabis und Wartburgs der Nachbarn von der anderen Seite der Havel bis in die Potsdamer Innenstadt zurück. In den Wochen danach herrschten chaotische Verkehrsverhältnisse, denn auch viele West-Berliner nutzten den neuen, alten kurzen Weg zu Besuchen in dem so fremd gewordenen Potsdam. In der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Wiedervereinigung, wurde dann mit einem Volksfest im Mondschein auf der Brücke das Ende der Teilung gefeiert.
Statt des weißen Grenzstrichs in der Mitte der Brücke verläuft dort nun ein in den Boden eingelassener Metallstreifen mit der Aufschrift „Deutsche Teilung bis 1990“. Und wer genau hinschaut, kann noch die unterschiedliche Färbung der Brückenkonstruktion auf beiden Seiten erkennen: Das Grün auf der Berliner Seite ist etwas dunkler als auf der Potsdamer. Der Grund hierfür ist, dass die West-Berliner Behörden „ihren“ Teil der Brücke bereits Anfang der 1980er Jahre renovieren ließen, während die DDR erst fünf Jahre später zu Werke ging – freilich auf Kosten des Westens und mit aus West-Berlin gelieferter Farbe. Touristenführer erzählen gern die Legende, dass die DDR-Anstreicher die Farbe verdünnt hätten, um etwas für eigene Zwecke abzuzweigen. Tatsächlich aber hatte die Farbe wohl einfach einen etwas helleren Ton als die fünf Jahre zuvor genutzte.
Nach Öffnung der Glienicker Brücke konnte man nun auch wieder auf ihr verweilen, um den Blick über die von dem Gartenkünstler Peter Joseph Lenné gestaltete Potsdamer Parklandschaft schweifen zu lassen. In dieser Perspektive bildet die Sacrower Heilandskirche einen besonderen optischen Anziehungspunkt. Während der Zeit der Teilung war die im Grenzgebiet liegende Kirche ganz ähnlich wie die Brücke zu einem Symbol der deutsch-deutschen Ausnahmesituation geworden, dazu aber auch eines grenzübergreifenden Bürgersinns.
Das malerische Ensemble liegt wie ein Schiff am Ufer der Havel, man könnte sie für die Fata Morgana einer italienischen Basilika halten. Der romantische Eindruck der Kirche rührt auch von dem freistehenden Glockenturm her, dem Campanile, eine in der deutschen sakralen Architektur bis dahin kaum gesehene Variante. Auf einer kleinen Landzunge gelegen, an einer Bucht, in der die Havelfischer bei Sturm Schutz suchten, besitzt die Kirche eine willkommene Symbolik: ein Hafen bei Gefahr. Dazu kommt die technisch anspruchsvolle Konstruktion auf einer Pfahlgründung direkt am Ufer, teilweise ins Wasser ragend, woraus sich reizvolle Spiegelungen ergeben. Ein Kirchenschiff in jeder Hinsicht.
Die Heilandskirche in Sacrow
Das Bauwerk geht auf die Italienbegeisterung des kunstsinnigen preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. zurück, der den begnadeten Schinkelschüler Ludwig Persius Anfang der 1840er Jahre mit dem Bau beauftragte und eigene Skizzen beitrug. Der König begleitete die Arbeiten aufmerksam und besuchte mehrfach die Baustelle, wie Persius in seinem Tagebuch notierte. Nach Ansicht der Münchener Historikerin Hedwig Richter manifestiert sich hier auch die romantische rückwärtsgewandte Geisteshaltung des Königs, der mit seinen diversen Kirchenbauten ein sakrales Herrschaftsverständnis zum Ausdruck gebracht habe.7 Doch letztlich versöhne „die Schönheit der Architektur und die verwunschene Abgelegenheit des Ortes mit der fremden Botschaft“.8
Nach der feierlichen Einweihung am 21. Juli 1844 in Anwesenheit des Königspaars blieb Friedrich Wilhelm IV. dem Gotteshaus sehr verbunden. „Der König und die Prinzlichen Herrschaften kamen während der Sommermonate fast sonntäglich zum Gottesdienste, und dies veranlasste dann auch viele Bewohner Potsdams zum Kirchgang nach Sacrow“, berichtete der Stadtchronist Heinrich Wagener. „Gewöhnlich fuhren die Hohen Herrschaften in Booten über das blaue Havelbecken, wie denn auch die Potsdamer fast durchgängig in Gondeln und Kähnen zur Kirche fuhren.“9
Für ein gutes Jahrhundert war die Heilandskirche einer der idyllischsten Orte der Potsdamer Kulturlandschaft. Dann aber brach die graue Zeit der deutschen Teilung und der Berliner Mauer an. Nun wurde die im Krieg unversehrt gebliebene Kirche zum Teil der Grenzbefestigung, mitten im Niemandsland, von keiner Seite zu erreichen außer von Streife gehenden Grenzsoldaten. Zu sehen war sie allein vom gegenüberliegenden Ufer der Havel, wo ein Spazierweg vom Flensburger Löwen in Wannsee zum Schloss Glienicke führt. Es waren Blicke „voller Staunen und Sehnsucht“, wie der damalige Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker es formulierte. Dass dies alles einmal Teil eines Gesamtkunstwerks war, das von der Pfaueninsel bis nach Werder reichte, mit von Lenné erdachten und gestalteten Sichtachsen, war in jenen Jahren nur noch zu erahnen. Erst nach dem Mauerfall, in den 1990er Jahren, kehrte das Bewusstsein für das preußische Arkadien zurück, das dann von der UNESCO als Welterbe der Schlösser und Parks von Potsdam und Berlin geehrt wurde.
Der letzte Gottesdienst in der Heilandskirche nach dem Mauerbau fand Heiligabend 1961 statt. Danach informierte ein Offizier der Grenztruppen den in Klein Glienicke – einer nach Wannsee hineinragenden Exklave der DDR auf der anderen Seite der Havel – wohnenden Pfarrer Joachim Strauss, dass das Innere der Kirche „von Unbekannten“ zerstört worden und nicht mehr nutzbar sei. Wer mögen diese „Unbekannten“ im abgesperrten Grenzgebiet wohl gewesen sein? Von nun an konnte man vom Wannseeer Havelufer aus den Verfall der Kirche verfolgen, was auch immer wieder in den Medien thematisiert wurde. Schließlich wuchsen aus dem beschädigten Dach schon Bäume, was nun auch den Potsdamer Denkmalschutz auf den Plan rief. Ein Gutachten attestierte dem Bau 1981 einen katastrophalen Zustand. Die Behörden stimmten einer „minimierten Sanierung“ zu, um den völligen Verfall der Kirche zu stoppen, der auch den Ruf der sich als Kulturnation verstehenden DDR zu schädigen drohte. Größere denkmalpflegerische Rücksichten wurden dabei nicht genommen: „Eine Eindeckung mit kunststoffbeschichteten trapezförmigen Ekotalblechen ist auch möglich und gestalterisch vertretbar (…)“, hieß es beispielsweise in dem Gutachten.10
Nun traf es sich, dass der Gemeindepfarrer Strauss sein 65. Lebensjahr erreichte und somit in den Westen reisen durfte. Er nutzte seine kirchlichen Kontakte und warb in West-Berlin um Hilfe zur Rettung der Sacrower Kirche, der Tagesspiegel mit seiner bildungsbürgerlichen Leserschaft nahm sich der Sache auch an. Sie hatten Erfolg: Der Regierende Bürgermeister Richard von Weizsäcker sagte eine halbe Million D- Mark aus Senatsmitteln zu, eine weitere halbe Million trug die gemeinnützige Pressestiftung Tagesspiegel bei. Es begannen komplizierte Verhandlungen, in die der DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski ebenso einbezogen war wie Brandenburgs späterer Ministerpräsident Manfred Stolpe, damals Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in der DDR. Die Gelder sollten direkt an die Kirche fließen und zur Finanzierung der äußeren Reparaturen durch Potsdamer Firmen dienen. Die Arbeiten begannen im Herbst 1984.
Die Kirche war also vor dem Einsturz bewahrt, besucht werden konnte sie weitere fünf Jahre nicht. Gleich nach dem Mauerfall bemühte sich die Gemeinde darum, die Kirche zu Weihnachten 1989 wieder nutzen zu dürfen. Und so geschah es: Schutt wurde weggeräumt, eine Bauheizung aufgebaut, Stühle herbeigeschafft. Und wie beim letzten Gottesdienst 1961 hielt Pfarrer Joachim Strauss die Predigt, in einem bewegenden deutsch-deutschen Gottesdienst in einer kargen, nur mit Tannenzweigen und Kerzen geschmückten Kirche. Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper und sein Vorgänger Richard von Weizsäcker lauschten ebenso wie hunderte Bürger aus Potsdam, Wannsee und Umgebung. Es war so voll, dass der Gottesdienst per Lautsprecher nach draußen übertragen werden musste.
In den folgenden Jahren ist die Heilandskirche innen und außen grundlegend und denkmalgerecht saniert worden. Das von Carl Begas entworfene Fresko über dem Altar ist ebenso wiederhergestellt wie der blaue Sternenhimmel, und die bereits in den letzten DDR-Jahren geborgenen, aus Lindenholz geschnitzten zwölf Apostelfiguren schauen wieder von ihren Konsolen links und rechts des Kirchenschiffs auf die Besucher.
Erhalten geblieben ist auch eine Art öffentliche Chronik der Kirchengeschichte, die sich außen auf den preußischblauen Fliesenbändern findet, welche die Ziegelmauern schmücken. Es sind die meist mit Bleistift gekritzelten Botschaften von Besuchern, die erste datiert von 1850. Oft stammen sie von Ausflüglern oder Liebespaaren, die sich hier mit Initialen und Datum verewigt haben, um zu zeigen: „Wir waren hier!“ Das nahm schon Anfang des 20. Jahrhunderts solche Ausmaße an, dass sich das kaiserliche Oberhofmarschallamt 1907 veranlasst sah, Warnschilder aufzustellen: „Das Bemalen, Beschreiben, sowie jede Verunreinigung oder Beschädigung der Wände und Thüren der Kirche, des Säulenganges und des Thurmes ist verboten.“11 Verstöße dagegen wurden mit bis zu 1000 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bedroht.
Doch es nützte nicht viel. So spiegeln die Kritzeleien die wechselnden Zeiten und ihre Besucher wider: Im Ersten und Zweiten Weltkrieg kamen häufig Soldaten, nach 1945 finden sich kyrillische Zeichen der sowjetischen Besatzer, später dann hinterließen DDR-Grenzsoldaten ihre Spuren, heute sind es wieder Touristen. Inzwischen gelten die Botschaften als schützenswerte Zeitdokumente. Ein Autor der Süddeutschen Zeitung hat dazu im Sommer 2023 das Bonmot eines Kirchenführers aufgeschnappt: „Nach 1990 ist es Vandalismus, vor 1990 historisch wertvoller Vandalismus.“12
Die Insellage Wannsees brachte es mit sich, dass die Grenze zur DDR überwiegend durch Gewässer verlief. Die Mauer als massives Bauwerk war hier, anders als im Rest Berlins, kaum präsent. Eine Ausnahme bildete eine historisch bedingte Kuriosität am nordöstlichen Ende des Griebnitzsees: der rechtlich zu Potsdam gehörende Ortsteil Klein Glienicke. Die etwa 500 Einwohner zählende Siedlung liegt jenseits des Wasserlaufs und ragt ein ganzes Stück in das Gebiet von Wannsee hinein. Was vor der deutschen Teilung kaum eine Rolle spielte, hatte nun einschneidende Folgen: Klein Glienicke wurde zu einer DDR-Exklave auf West-Berliner Territorium. Die einzige Verbindung zum Potsdamer Gebiet führte über eine schmale, ursprünglich nur für Fußgänger gedachte Brücke zum Schlosspark Babelsberg. Der Pfarrer Joachim Strauss machte aus der Not eine Tugend: Er war neben Klein Glienicke auch für die Kirchen in Nikolskoe und Sacrow zuständig und fuhr zu den Gottesdiensten bis zum Mauerbau mit einem Motorboot über die Havel.
Das Luftbild entstand am 12. Mai 1982 auf Höhe der Königstraße in Berlin-Zehlendorf und zeigt das vom Mauerstreifen umgrenzte Klein Glienicke.
Nach dem 13. August 1961 ersetzte die DDR den bis dahin gezogenen Stacheldraht rasch durch eine hohe Grenzmauer. Die nur 28 Hektar große Siedlung bildete nach den DDR-Kategorien nun eine „Sondersicherheitszone“, die nur mit einem speziellen Passierschein betreten werden durfte, der von Grenzposten in einem Wachhäuschen auf der Babelsberger Seite der Brücke kontrolliert wurde. Das führte dazu, dass die Einwohner kaum noch Besucher empfangen konnten. Mit den Nachbarn in Wannsee bestand bis zum Mauerbau immerhin Blick- und Rufkontakt, solange keine Grenzsoldaten in der Nähe waren. Diese unwirkliche Situation hat der Schriftsteller Martin Ahrends eindrucksvoll skizziert, der als Zehnjähriger im nahegelegenen Grenzgebiet von Kleinmachnow ähnliche Erfahrungen wie die Menschen in Klein Glienicke gemacht hat:
„Die Westhäuser waren nur zehn Meter entfernt. Wir konnten sehen, wie die Westmenschen auf dem Balkon saßen, Kaffee tranken, strickten, Zeitung lasen und manchmal zu uns rüberwinkten. Wir sahen die Berliner Doppelstockbusse an ihrer Endhaltestelle ankommen und abfahren, wir sahen die Busfahrer ihr Brot auspacken und reinbeißen. Wir konnten lange rübergucken und immer wieder. Obwohl da wenig passierte, nichts, das uns in ähnlicher Weise fasziniert hätte, wenn wir es bei uns im Osten gesehen hätten. Es war streng verboten, das Grenzgebiet zu betreten, und es war auf eine weit subtilere Art verboten, rüberzugucken: es verbot sich sozusagen von selbst, sich für drüben zu interessieren, weil man ja einer von hier war: ein junger Pionier, der nur Verachtung hat für die letzten Zuckungen des faulenden Kapitalismus. Oder: weil man da nicht hinkonnte.
Vom vielen Rübergucken wird man krank, hatte die Mutter von [meinem Schulfreund] Klaus gesagt. Und in diesem Sinne gab es auch ein nichtoffizielles Verbot, das man vielleicht als ein psychohygienisches bezeichnen könnte. Auf diese für mich damals recht verschwommene Weise verbot sich das Rübergucken von selbst und hatte dieses Verbotes wegen seinen besonderen Reiz. Aber das war es nicht allein. Wenn ich den Blick beschreiben soll, mit dem ich damals, als 10jähriger rüberguckte, dann scheint mir das Wort ungläubig am treffendsten. Die reale Nähe und reale Ferne lagen übereinander und ließen die Bilder schwimmen, steigerten meine Sinneseindrücke von Pausenbrot essenden BVG-Busfahrern ins Sensationelle. Ich saß auf Klaus’ Dachboden und starrte aus dem Fenster, ungläubig. Wenn es Palmen und Zypressen gewesen wären, hätte ich es geglaubt. Aber es waren dieselben Kiefern, die auch auf unserer Seite standen.“13
In Klein Glienicke herrschten zahlreiche zum Teil bizarr anmutende Einschränkungen, zum Beispiel mussten alle Leitern immer angeschlossen sein – eine Vorsichtsmaßnahme gegen Fluchtversuche über die Mauer. Verstöße wurden mit einer eher symbolischen Geldbuße von fünf Mark bestraft. Im Laufe der Jahre sorgten die DDR-Behörden dafür, dass im Sinne der SED politisch unzuverlässige Einwohner von Klein Glienicke nach und nach durch linientreue Bürger ersetzt wurden. Dennoch lebten dort immer noch Menschen, die nach Westen strebten.
Und so gelang in der Nacht zum 26. Juli 1973 die letzte große Tunnelflucht aus der DDR ausgerechnet hier, in diesem besonders streng überwachten Ort. Zwei Familien – vier Erwachsene und fünf Kinder – robbten vom Keller ihres Wohnhauses in der Waldmüllerstraße 19 Meter weit durch einen engen Tunnel unter der Mauer hindurch in den Park des zum Westen gehörenden Jagdschlosses Glienicke. „Wir haben zu zweit gegraben, mein Bruder und ich, wir kratzten den Sand mit einer Kinderschaufel aus und schippten ihn mit einem kleinen Spaten auf ein Wägelchen. Den Sand verteilten wir dann überall in den Kellerräumen“, berichtete einer der Flüchtlinge später über die wochenlangen Arbeiten, die von den Bewachern unbemerkt geblieben waren.14
Gelungene Tunnelflucht von Klein Glienicke nach Berlin-Zehlendorf am 26. Juli 1973
Klein Glienicke war aber schon vor seiner Sonderrolle als Folge des Mauerbaus ein zeitgeschichtlich bedeutsamer Ort. Hier lebte Kurt von Schleicher, der letzte Reichskanzler der Weimarer Republik vor der Machtübernahme Adolf Hitlers. Der ließ den vormaligen General und seine Ehefrau Elisabeth im Zuge des sogenannten Röhm-Putsches am 30. Juni 1934 von Agenten des Sicherheitsdienstes der SS in seiner Villa in der Griebnitzstraße ermorden und die Tat vertuschen. Sie wurde erst nach 1945 aufgeklärt. Während der NS-Zeit wurden auch hier Juden gezwungen, ihre Anwesen zu verkaufen. Die in der Nachbarschaft Schleichers wohnende bekannte Filmschauspielerin Lilian Harvey wurde von der Gestapo beobachtet, weil sie jüdische Bekannte und Kollegen beschützt und ihnen zur Flucht verholfen hatte. 1939 emigrierte sie schließlich selbst über Frankreich in die USA.
Klein Glienicke war Ende des 19. Jahrhunderts wie Wannsee ein beliebter Wohnort für wohlhabende Berliner, die Reichen und Schönen, geworden. Der damalige Besitzer der Glienicker Wälder und Ländereien Carl von Preußen hatte dort ein Dutzend großzügige Häuser im Schweizer Stil bauen lassen, was zu dem Beinamen „Schweizer Dorf “ führte. Dazu kamen weitere Villen. Eine ganze Reihe dieser Häuser, die unmittelbar an der Grenze lagen und dem Mauerbau im Wege standen, ließen die DDR-Behörden enteignen und abreißen, darunter auch einige der historisch wertvollen Schweizer Häuser. Nach dem Mauerfall gab es langjährige Auseinandersetzungen um die Rückgabe während der Nazi- und der DDR-Jahre enteigneter Anwesen, die inzwischen wieder eine attraktive Lage hatten. Es zeigte sich, dass hochrangige DDR- Funktionäre die letzten Monate der DDR nach dem Mauerfall genutzt hatten, sich das Eigentum an Häusern und Grundstücken in Klein Glienicke anzueignen, wogegen Alteigentümer später juristisch vorgingen.
Heute gehören die Grundstückspreise hier zu den höchsten in Berlin und Potsdam. Ähnlich wie in Kleinmachnow, in den bevorzugten Lagen von Potsdam oder auch an der Ostseeküste können es sich alteingesessene ehemalige DDR-Bürger kaum leisten, hier etwas zu erwerben. Aus ihrer Sicht hat so etwas wie ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden, ein Vorgang, der einen Anteil an der in jüngster Zeit wieder aufgeflammten Debatte über den Umgang der Westdeutschen mit den Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung hat.
Andererseits könnte man auch sagen: Die „Reichen und die Schönen“ sind zurückgekehrt und haben ihre Positionen, die sie vor den beiden Diktaturen mit ihren großen gesellschaftlichen Umbrüchen hatten, wieder eingenommen. Klein Glienicke ist wieder zu der bevorzugten Wohnlage und dem beliebten Ausflugsziel geworden, das es in den 1920er Jahren schon einmal war. Der hier aufgewachsene Autor Michael Zajonz hat es so zusammengefasst: „In Klein-Glienicke fokussiert sich wie in einem Brennglas das deutsche 20. Jahrhundert: vom mondänen Leben der Oberschicht und kleinbürgerlichem Ausflugsbetrieb über die Gewalt gegen politisch Andersdenkende sowie jüdische Mitbürger, den Wahnsinn der Mauer bis hin zu den Turbulenzen, die mit der Rückübertragung von Immobilien nach 1990 verbunden waren.“15 So ist der Ort auch ein Ausdruck der besonderen politischen und gesellschaftlichen Topografie der Wannseeinsel.