Kapitel 10
Die Ufer der Geschichte

Alles fließt

Was ist Geschichte, das Vergangene? Was ist die Gegenwart, die Momente, die wir erleben? Was ist die Zukunft, das, was uns erwartet, was wir erhoffen und manchmal auch fürchten? Es lohnt sich, mit diesen Fragen im Kopf hinaus zum Wannsee zu fahren. Vielleicht wird es an seinen Ufern keine eindeutigen Antworten geben, vielleicht verschwimmen die Fragen und die Antworten nach der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft, so wie die Zeiten auf den Wassern der Havel dahinfließen und der See doch immer der See bleibt.

Wer hinausfährt, könnte ein Buch mitnehmen, zum Beispiel den schon zu Beginn erwähnten Roman Fatherland des britischen Autors Robert Harris. Fatherland war das Debüt von Harris und es machte ihn über Nacht berühmt, weil er so virtuos mit der Stadt Berlin, Deutschland und der Zeit spielte.

Der Roman beginnt am Wannsee, in der Nähe von Schwanenwerder: „Dicke Wolken hatten die ganze Nacht über Berlin gedräut, und jetzt schleppten sie sich in das hinein, was als Morgen galt. An den westlichen Stadträndern trieben Regenfahnen wie Rauch über die Oberfläche der Havelseen. Himmel und Wasser verschmolzen zu einer grauen Schicht, die nur von der dunklen Linie des gegenüberliegenden Ufers unterbrochen wurde. Da bewegte sich nichts. Kein Licht war zu sehen.“1 Das Buch kam 1992 auf den Markt. Die Beschreibung des Sees ist zeitlos, aber die Geschichte von Fatherland ist viel mehr. Sie erzählt die Zukunft der Vergangenheit. Harris imaginiert ein Drittes Reich, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat, er entwirft ein nationalsozialistisches Berlin in der Nachkriegszeit. Es sind die 1960er Jahre und Hitler ist nicht tot, sondern an der Macht. Und am westlichen Stadtrand Berlins liegt wie immer der Wannsee, das Wasser der Havel. Was 1942 in einer Villa am See geschehen war, das ist das große Geheimnis in diesem deutschen „Vaterland“. Bis zu dem Moment, als ein Kriminalkommissar eine Entdeckung macht und in der Vergangenheit ermittelt.

Harris leistet sich in seinem Krimi ein intellektuelles Spiel mit der Geschichte, aber manchmal erledigen das die Zeiten am Wannsee auch selbst, ganz nebenbei, wie es scheint. Oberhalb des nordöstlichen Ufers der Havel liegt eine der wenigen wirklichen Anhöhen Berlins, es ist der Teufelsberg, der nicht allzu schwer zu ersteigen, aber schwer zu begreifen ist. Der Berg besteht aus Trümmern, den Trümmern der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs. Wer heute auf den Teufelsberg spaziert, sieht eine verlassene Welt, einen Lost Place im wahrsten Sinne des Wortes. Baufällige Türme und seltsam zerrupfte kreisrunde Gebilde, surreal zerlöcherte Riesenkugeln stehen auf dem Plateau, bemalt oder beschmiert, je nachdem, umgeben von Kunst, eine große Streetart-Galerie an einem der seltsamsten Plätze Berlins.

Das alles sieht nach Geschichte aus, ist aber die Gegenwart. In der Geschichte war hier nämlich nichts zerstört oder bemalt, in der Geschichte des Kalten Krieges war der Teufelsberg einer der effizientesten und technologisch hochgerüsteten Orte Berlins. Die verfallenen Türme und zerstörten Kugeln auf dem Berg sind die Ruinen einer der größten amerikanischen Abhöranlagen in Europa. Bis zum Fall der Mauer hatten die USA hier mitten im Gebiet des Warschauer Pakts, auf der Insel West-Berlin, ihre Augen und Ohren. Nichts blieb den Radarstationen oberhalb des Grunewalds verborgen. Und noch heute ist dieser merkwürdige Punkt über der Stadt ein guter Ort, um die Geschichte und die Gegenwart zu begreifen und vielleicht zu erkennen, dass die Zukunft manchmal ganz anders aussieht, als man einst gedacht hat. Nicht nur am Teufelsberg.

Das blaue Band der Havel

In Fatherland lässt Robert Harris seinen Kommissar Xaver March auf eine Karte von Berlin blicken, es ist ein zeitloser Moment. „March blickte auf die Berlinkarte. Das meiste war ein graues Spinnennetz aus Straßen. Aber auf der Linken gab es zwei Farbkleckse: das Grün des Grunewalds und, daran entlanglaufend, das blaue Band der Havel.“2 Schaut man heute vom Teufelsberg Richtung Südwesten, sieht man noch immer: das Grün des Grunewalds und das blaue Band der Havel. Man sieht das Wasser hinter den Baumspitzen; die Details an den Ufern, die Straßen und Häuser verschwimmen, lösen sich im Panorama auf. Und das macht es so reizvoll zu fragen, was von den Geschichten am Ufer des Sees und der Havel bleibt.

Man könnte ganz einfach sagen: Das, was da ist, ist geblieben, also die Gegenwart. Aber das stimmt nicht. Denn die Gegenwart dort unten an der Havel und am Wannsee ist ohne die Vergangenheit nicht denkbar, sie wird noch heute bestimmt von dem, was war. Wäre es nicht so, wäre die Villa Am Großen Wannsee 58–60 nur eine Villa am See, aber sie ist eine Gedenkstätte für das Undenkbare. Wäre es nicht so, wäre die Glienicker Brücke nur eine Brücke zwischen Berlin und Potsdam, aber sie war der Ort, an dem im Kalten Krieg die Welten aneinanderstießen, und auch deshalb kommen noch heute Leute aus aller Welt hierher, um auf dieser Brücke zu stehen, auf der einst die Spione der USA und der Sowjetunion ausgetauscht wurden.

Und selbstverständlich spiegeln sich die Bilder, die Max Liebermann vom Wannsee gemalt hat, noch immer in unserem Gedächtnis wider, in ihren hellen Tönen, die er gegen die dunklen Zeiten setzte. Die Eindrücke der Stadt am Wasser verschwimmen, nicht nur von oben, vom Teufelsberg betrachtet. Die Geschichte fließt. Und manchmal ändert sich der Blick auf sie. Der virtuose amerikanische Fotograf Mitch Epstein verlor viele Familienmitglieder im Holocaust. Nach Deutschland zu reisen, konnte er sich lange nicht vorstellen. Irgendwann tat er es doch und bekam schließlich das Angebot, mit seiner Familie ein halbes Jahr in der American Academy zu leben. Epstein musste man nicht erklären, wo der Wannsee liegt und was dort 1942 geschehen war. Im Vorwort seines bekannten Fotobuches Berlin beschreibt Epstein, wie er und seine Familie mit einem Auto am Flughafen Tegel abgeholt und zur Academy nach Wannsee gebracht werden, „in den Vorort, in dem die Nazis die Endlösung planten“.3 Epstein lässt den Wannsee in diesen Monaten immer wieder hinter sich, um die Berliner Mitte zu fotografieren, ein disruptiver Ort im Zentrum Europas, in dem nach dem Mauerfall Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinanderfließen und verschwimmen.

Interessant, dass Epstein den Wannsee selbst und ganz besonders das Strandbad nicht in die vielfältigen Schichten seiner Berliner Blicke aufgenommen hat. Denn es ist schon erstaunlich, dass ein berühmter Ort am Wannsee in allen Bildern, Systemen und Herrschaften immer das war, was er von Anfang an sein sollte: ein Strandbad.

Der Strand der Freiheit

Das Strandbad Wannsee hat alle Zeitenwenden überdauert und ist alles andere als ein Museum oder ein verlassener Ort. Das Strandbad Wannsee, in das die Menschen schon in der Weimarer Republik zogen, das auch die Nationalsozialisten später für sich nutzten, in dem die West-Berliner dann eben jene Nationalsozialisten und den Krieg vergessen wollten und konnten, das Strandbad, in dem auch heute noch die kleine Stadtflucht gelingt – dieser Ort ist nie untergegangen.

Und wenn wir auf das zurückliegende Jahrhundert blicken, ist das ein durchaus tröstlicher Gedanke. Denn das Bad ist und war in den meisten Jahrzehnten seines Bestehens ein zutiefst demokratischer Ort für die Berlinerinnen und Berliner, und nicht nur für sie. Kein exklusiver Ort, kein akademischer, kein großbürgerlicher. Das alles gibt es auch und vor allem am See, aber das Strandbad war nie der Platz, von dem Makler und Könige träumten. Jedoch bot es jedem auf engstem Raum ein Gefühl von Freiheit, das anderswo am See oft unbezahlbar war und ist. Die bekanntesten Bilder und Zeichnungen dazu hat ganz sicher Heinrich Zille erschaffen, die schönsten Fotos der Freiheit im Strandbad aber stammen vom amerikanischen Fotografen und Künstler Will McBride. Sie entstanden in den 1950er Jahren und sind noch heute zeitlos gut. Sie zeigen den See und vor allem die Menschen, junge Menschen, in einer fast idealen Welt, im Sommer, in Freiheit und unbekümmert.

Der Schriftsteller und Verleger Michael Krüger, der dem Strandbad ein kleines literarisches Denkmal gesetzt hat, zeigt darin, wie sehr der See auch in schwierigen politischen Zeiten, unmittelbar nach dem Krieg, unmittelbar im Kalten Krieg zu einer gewissen Unbekümmertheit anleiten konnte. Krüger beschreibt das sehr schön am Beispiel eines Tages mit seinem Vater auf dem Wasser des Wannsees, unterwegs in einem Klepper-Boot: „Mein normalerweise sehr zivilisiert auftretender Vater hatte die unangenehme Eigenschaft, plötzlich und unvermittelt und ohne mit dem einförmigen Paddeln innezuhalten, bei strahlender Sonne mitten auf dem Wannsee von hinten zu fragen: Wo liegt Peking?“4

Peking also. Erkunden sollte Michael Krüger das mittels des Stands der Sonne, präzise die Himmelsrichtung bestimmen. Die Antwort gefiel seinem Vater nicht. „Er war ganz einfach zutiefst enttäuscht, dass ich nicht in der Lage war, hinter Kladow oder hinter Schwanenwerder die Stadt Peking zu orten.“ Aber es war mehr als eine geografische Frage. Für den Vater war es eine Frage der Bildung.

Für Michael Krüger hingegen ließ sich die Welt vom Wannsee noch ganz anders betrachten, und Peking auch. Ihm wollte es nicht einleuchten, „dass es zur Bildung – zur einfachen und nicht einmal zur höheren, humanistischen Bildung – gehören sollte, auf dem Wasser des Wannsees, der nur zur Hälfte dem humanistisch denkenden Westen gehörte, zu wissen, ob Peking mehr hinter Glienicke und Timbuktu mehr hinter dem Schlachtensee lag. Der andere, nicht-humanistische Teil, wozu ganz eindeutig Peking gehörte, gehörte zum Osten, zum Ostblock (…). Da nun aber um ganz Berlin herum Osten war, war es doch eigentlich gleichgültig, wo Peking lag?“ So war die Weltlage am Wannsee, aber das ist nun wirklich Vergangenheit. Was nicht nur für die Berliner Gegenwart ein Segen ist.

Gedanken in Sacrow

Michael Krüger ist im Westen Berlins aufgewachsen und sein Strandbad lag am westdeutschen Ofer des Wannsees. Die deutsche Teilung machte die Fragen nach der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft am Wannsee übrigens durchaus kompliziert. Denn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs waren Westen und Osten auch am Wannsee lediglich Himmelsrichtungen. Erst in der langen Gegenwart des Kalten Krieges wurden die Begriffe politisch. Und heute, gewissermaßen in der Zukunft nach dem Weltenbruch, sind Westen und Osten am See wieder nur Himmelsrichtungen, im besten Falle. Aber natürlich machte es einen Unterschied, ob ein westdeutscher Intellektueller wie der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher nach dem Mauerfall in den Grunewald, nach Schwanenwerder oder aber eben nach Potsdam zog, in Schirrmachers Fall war es sogar Sacrow, eine der schönsten Stellen des Ufers der Havel.

Vielleicht war es ihm gerade mit Blick auf die deutsche Geschichte ein besonderes Vergnügen, an einem neuen Ufer zum Gelingen eines liberalen, freiheitlichen Deutschlands beizutragen. Ihm blieb nicht viel Zeit dafür. Im Frühsommer des Jahres 2014 steht das intellektuelle Deutschland, auch Michael Krüger ist dabei, an Schirrmachers Grab auf dem Friedhof in Sacrow. Er wurde nur 54 Jahre alt. Aber er hat Bücher und Gedanken hinterlassen, die bleiben. Man kann sie mitnehmen zum Wannsee, wenn man hier über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft nachdenken möchte. Manchmal sind sie eine stille Mahnung: „Jeder kennt das Gefühl, täglich, ja stündlich Lebenszeit zu verschwenden. Die ‚verlorenen Jahre‘, die drei Generationen von zwei Kriegen geraubt worden waren, wandelten sich zu verlorenen Tagen und Stunden. Während die Gewerkschaften mehr Freizeit erstritten, wurde die seelische Zeit zur bedrohten Ressource. Fernseher und Computer gelten als Zeitfresser; noch heute strahlen sie schlechtes Gewissen ab, weil sie von Dingen abhalten, die über Jahrhunderte dazu dienten, Zeit zu füllen: Lernen, Lesen, Erziehen, Reden, Ruhen.“5 Das schrieb Schirrmacher gut zehn Jahre vor seinem Tod.

Schirrmachers Grabstein in Sacrow steht nahe der Havel. In den Stein ist ein leicht sperriges Goethezitat eingelassen: „Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit, wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.“ Die Sterblichkeit als Versprechen einer anderen Zukunft. Schön, dass die Natur auf dem Sacrower Friedhof das Zitat auf dem Grabstein mittlerweile etwas abgewandelt hat, sodass es dem Verstorbenen vielleicht sogar noch zugewandter ist. Der Efeu, der über den Grabstein wächst, rankt nicht nur über Schirrmachers Namen. Er verdeckt auch die Silbe „aus“ in dem Wort „auszuhalten“, sodass Jahre nach Schirrmachers Tod klar ist: seinen Geist auszuhalten, war anregend, aber ihn nicht halten zu können, das war ein bestürzender Verlust.

Das Grab von Frank Schirrmacher

Die Topografie der Einflussreichen hat sich verändert in jenen Jahren nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung. Schirrmacher ist nach Sacrow und nicht nach Schwanenwerder gezogen. Auch Mathias Döpfner, der Chef des Springer-Verlags, lebt in Potsdam und nicht auf Schwanenwerder, der Insel des Verlagsgründers. Wer weiß, vielleicht wäre auch Axel Springer von Sanssouci angezogen gewesen, wenn es ihm möglich gewesen wäre, dorthin zu gehen; aber Axel Springer war ein König West-Berlins, und das Schloss der Preußenkönige lag damals nicht nur in Potsdam, sondern eben auch in der DDR.

In der Biografie des Verlegers hat der große Journalist Michael Jürgs beschrieben, wie in Springers Villa auf Schwanenwerder Vergangenheit und Gegenwart eine dekorative Symbiose eingingen: „Ein preußischer König hätte in dieser unprotzigen Pracht, in der die deutsche Geschichte sich von ihren besten Seiten in Möbeln, in Porzellan, in Silber, in Fayencen, in Gemälden ausweist, nicht besser leben können, aber eine Art König in Preußen war Springer ja.“6 Und ihm gefiel das, aber blenden ließ er sich nicht. In Axel Springers Schlafzimmer im Haus auf Schwanenwerder soll ein Werk des dänischen Malers Jens Birkholm gehangen haben. Birkholm war Anfang des 20. Jahrhunderts berühmt dafür, den Armen und den Ausgestoßenen Berlins in seinen Bildern ein Gesicht zu geben.

Robert Harris hat die Lage Schwanenwerders zu Beginn des Romans Fatherland, beim Blick auf die große Berlin-Karte sehr schön beschrieben: „In den See hinein krümmte sich wie ein Fötus eine Insel, mit dem Ufer durch eine Nabelschnurchaussee verbunden.“7 Dort, wo Schwanenwerder mit einem schmalen Übergang, der Nabelschnur, mit dem Festland verbunden ist, dort ist die Insel heute noch ein sehr guter Ort zum Nachdenken über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Denn gleich auf der rechten Seite steht das schmale, das besondere Haus der Familie Schertz, dessen breite Fenster die Blicke auf den See in beide Richtungen freigeben, nach Süden zum Großen Wannsee und nach Norden hin zur Havel bis hoch zum Grunewaldturm und weiter noch.

Ein Leben mit Weitblick

Georg Schertz sitzt sehr aufrecht in einem Sessel vor dem Panorama des Sees, er ist Ende achtzig und hat fast sein ganzes Leben hier in diesem Haus verbracht. Er weiß, wie Dinge sich ändern und wie sie auch gleich bleiben über die Jahrzehnte. Er kennt die Geschichte der Insel wie kein anderer, davon hat er oft erzählt und von diesen Erinnerungen haben wir schon im Laufe des Buches berichtet. Schertz aber ist mehr als ein Inselchronist. Er ist Jurist, war Polizeipräsident in Berlin zu Zeiten des Mauerfalls und er sieht die großen Linien in der Geschichte. Wenn er zum Beispiel davon erzählt, dass Adolf Hitlers Architekt Albert Speer sich auf Schwanenwerder das Grundstück Inselstraße Nummer 7 gekauft hatte, um dort nach dem „Endsieg“ eine Villa zu errichten, dieser Speer aber nie mehr als ein Bootshaus fertiggestellt hat, dann ist das auch eine Möglichkeit, die Geschichte des Dritten Reiches zu erzählen.

Die Tatsache, dass Schwanenwerder zu West-Berliner Zeiten eher verschlafen dalag, manche Villen verfielen und Grundstücke verwilderten, dann aber urplötzlich nach dem Mauerfall die Insel und ihre Lage wieder sehr begehrt wurden, ist wiederum eine Möglichkeit, die Geschichte und die Dynamiken der deutschen Wiedervereinigung zu erzählen. Auch das weiß Georg Schertz.

Ganz bis nach Potsdam kann man auch aus Schertz’ Fenstern nicht sehen. Aber wenn man mit dem Juristen und Polizisten über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft redet, dann fällt sein Blick doch in diese Richtung, nicht auf die Schlösser, nicht auf Sanssouci. Schertz hat Friedrich den Großen vor Augen, wenn er ausdrücken will, was ihm wichtig ist, was dieser Gesellschaft am wichtigsten sein sollte: „der Rechtsstaat“. Ein guter Rat eines Mannes, der es in seinem Inselhaus gewohnt ist, immer nach beiden Seiten zu schauen, und die Tiefe dieser Blicke liebt.

Die helle Seite der Geschichte

Fahren wir zum Schluss zurück zum Ursprung der Besiedlung an den Ufern des Wannsees im 19. Jahrhundert. Auf eine kleine Anhöhe oberhalb des Sees. Es mag seltsam anmuten, am Ende einer Reise zum Wannsee hier einen alten Friedhof aufzusuchen, um die Frage nach der Zukunft beantworten zu können. Und natürlich findet sich auf den ersten Blick auf dem Friedhof an der Lindenstraße vor allem die Vergangenheit und auch ein wenig Gegenwart. Die Vergangenheit, die Königsdisziplin aller Friedhöfe, ist hier natürlich eine besonders große. Denn an der Lindenstraße liegen die Familiengräber der Gründer der Kolonie Alsen, also der Gründer des Ortes Wannsee, wie wir ihn heute kennen. Da diese Familien reich und mächtig waren, ist der schöne Friedhof auch als der Millionenfriedhof bekannt.

Noch heute lässt sich zwischen den Gräbern ein Hauch von der Großbürgerlichkeit jener Zeit erspüren. Aber was viel wichtiger ist: Der Friedhof ist ein Symbol für das friedliche Zusammenleben der Religionen und Kulturen, über den Tod hinaus, aber auch im Leben. Oder zumindest ist er eine Hoffnung darauf. Seine Gründer haben ihn Ende des 19. Jahrhunderts so verstanden, dass er eine Ruhestätte für Christen und Juden in Berlin, in Deutschland sein kann.

Ein kleines Zeichen dieser großen, menschlichen und liberalen Idee ist noch immer auf der alten Friedhofsmauer zu entdecken, es ist nicht auffällig, man kann es schnell übersehen. Und doch steht dort auf der Mauer ein Kreuz, in dessen Mitte ein Davidstern eingelassen ist, eine Symbiose der Religionen und Kulturen. Entstanden in einer Zeit, in der die dunkle Seite des Wannsees noch undenkbar schien, in der die Abgründe der deutschen Geschichte noch nicht mit dem Namen des Sees verbunden waren.

Das Kreuz mit dem Davidstern hat die Jahrhunderte am Wannsee überstanden, es steht für die helle Seite der Geschichte und des Sees. Und damit auch für die Hoffnung auf eine Zukunft, die sich hier in der Vergangenheit finden lässt und in der Gegenwart gelebt werden kann. Nicht nur am Wannsee, nicht nur in Berlin.