KAPITEL 6
Von wegen Mensch gegen Natur
Zurück zu den Wurzeln
»Für jeden, der Angst hat, einsam oder unglücklich ist, ist es sicher das beste Mittel, nach draußen zu gehen, irgendwohin, wo er ganz allein ist, allein mit dem Himmel, der Natur und Gott.«
Anne Frank
»In Einklang mit der Natur bekommt man weit mehr als erwartet.«
John Muir
1909 schrieb der englische Schriftsteller Edward Morgan Forster eine sehr seltsame Kurzgeschichte mit dem Titel Die Maschine steht still. 1 Darin wird ein düsteres Bild der Zukunft gezeichnet, in der die Menschen in unterirdischen Kammern isoliert voneinander leben und durch allerlei Gerätschaften mit der Außenwelt verbunden sind, den heutigen Smartphones und Tablets nicht unähnlich. In diesem dystopischen Setting wird der »Maschine« gehuldigt. Diese kontrolliert alle Aspekte der Gesellschaft und hält alles Lebensnotwendige für sie bereit. Allerdings stört sie die persönliche Kommunikation und den Kontakt zur Natur. Tatsächlich sind die Bewohner dieser Zukunftswelt der Natur so entfremdet, dass sie selbst einen Sonnenstrahl auf der Haut fürchten. Man ahnt, dass das alles schlimm enden wird. Als die Maschine zusammenbricht, schwant es den Protagonisten, dass die Abkehr von der Natur ein großer Fehler war.
Natürlich steht es um uns nicht so schlimm wie um die Charaktere in E. M. Forsters Geschichte, doch die Parallelen liegen auf der Hand. So hat uns der verstorbene Oliver Sacks noch einmal im New Yorker an die Maschine erinnert, was uns zu denken gibt. 2 Wir entfernen uns immer mehr von der Natur und ihren Gaben. Aber Naturverbundenheit ist ein gutes Gegengewicht zum Unverbundenheitssyndrom. In der Natur spüren wir wieder stärker so etwas wie Ausgewogenheit, können nachdenken und Mitgefühl entwickeln. Darüber hinaus ist ein Aufenthalt in der Natur auch noch gesund, er beschert uns niedrigere Entzündungswerte und sorgt für einen Rückgang der Stresshormone. In einer Zeit, in der das Unverbundenheitssyndrom zum Normalzustand zu werden droht, sollten wir uns wirklich mehr auf die Natur einlassen – den Ursprung unseres Wohlergehens.
AUSTIN: ZURÜCK ZUR NATUR
Der Klinikalltag während des Studiums gehörte zum Stressigsten, was ich überhaupt je erlebt habe. Wenn ich das Krankenhaus verließ, war ich durch die Arbeit mit den Patienten geistig erschöpft und emotional ausgelaugt. Dann saß ich zu Hause auf dem Sofa und starrte die Wand an – zu lange. Ich war mental an der Grenze. Im Winter fuhr ich morgens und abends im Dunkeln zur Arbeit, manchmal sah ich tagelang die Sonne nicht. Eine 80-Stunden-Arbeitswoche war die Regel.
Obwohl die überlangen Dienste zehrten, gab es nur einen Tag in der Woche frei. Und in dieser heiligen freien Zeit wollte ich dann alles erledigen, was liegen geblieben war. Leider musste die wichtigste aller Erledigungen – nämlich mich zu erholen – oft hinter so profanen Tätigkeiten wie Wäschewaschen und Einkaufen zurückstehen. Alles zu schaffen war ein ständiger Kampf. Wenn der freie Tag dann endlich da war und meine Erledigungen abgehakt, konnte ich mich zu nichts mehr aufraffen. Ich hing rum und wartete auf den Beginn der neuen Arbeitswoche.
Irgendwann löste ich den Knoten und probierte etwas Neues: Anstatt meinen freien Tag zu Hause zu verbringen, setzte ich mich ins Auto und fuhr ein paar Stunden in die gemäßigten Regenwälder von Western Oregon und Washington. Dort im Wald war es unheimlich, düster und regnerisch. Damals wusste ich noch nichts von der Lehre der Natur, aber sie hat mich verändert. Dort im Wald konnte ich die sterilen, klimatisierten Klinikräume hinter mir lassen, körperlich wie geistig. Dort im Matsch und inmitten der feuchten Blätter kam mir wieder die Schönheit der Natur in den Sinn, die Verbundenheit alles Lebendigen. Allmählich setzte Dankbarkeit ein für die Chancen, die ich in meinem Leben hatte, und dass ich gesund genug war, hier herumzustiefeln. Auch dass ich anderen helfen konnte, fand ich jetzt wieder gut.
Die Natur ist die Verbinderin schlechthin. Sie ist unser Ursprung und unsere Heimat zugleich. Unter ihrem Einfluss haben sich unsere Gene über Jahrmillionen entwickelt, da wundert es nicht, dass es uns guttut, draußen zu sein. Eine Entfremdung von der Natur verstärkt noch unser Unverbundenheitssyndrom, denn es schneidet uns von unseren evolutionären Wurzeln ab. Mehr Natur ist der einfachste Weg Richtung Gesundheit und Wohlergehen. Einfach den ersten Schritt nach draußen tun. Mittlerweile belegt sogar die Forschung, dass eine Dosis Draußensein genau das Richtige für Geist und Körper ist.
Sicherlich stehen die medizinischen Studien zur guten Wirkung der Natur noch in den Anfängen, aber erste Ergebnisse gibt es bereits. Unter anderem wirkt ein Aufenthalt in der Natur stressmildernd, entzündungshemmend und macht uns anderen gegenüber empathischer. 3 Das In-der-Natur-Sein hilft uns dabei, unser Hirn neu zu verdrahten – für mehr Gesundheit, eine bessere Konzentrationsfähigkeit und lang anhaltende Zufriedenheit. Natur bietet uns das ursprüngliche Gegenmittel zur Hektik des stresserfüllten modernen Lebens, sie bringt uns zu den erfahrbaren Wundern der Welt jenseits der Bildschirme zurück. Sie ist der Gegenspieler zum Unverbundenheitssyndrom. Wenn Sie mitten im Wald oder in der Weite der Wüste stehen, weit entfernt von der nächsten Stadt, gibt es womöglich gar keinen Handyempfang – in diesem Fall eine gute Sache! Lärm und Hektik der Stadt fallen von uns ab. Einmal ganz vom Netz zu gehen, ist pure Entspannung fürs Gehirn, selbst für kurze Zeit. Achtsamkeit ist in der Natur das Gebot der Stunde, im Übrigen auch ein probates Mittel gegen unser Unverbundenheitssyndrom (mehr dazu in Kapitel 9), vor allem hilft sie aber beim Neustart unseres Gehirns und lässt unseren Blick auf die Welt objektiver werden, indem der präfrontale Kortex aktiviert wird. Die Verbindung von Natur und Achtsamkeit funktioniert in beide Richtungen: In der Natur zu sein lässt uns achtsamer werden, und mehr Achtsamkeit verstärkt unsere Bindung an die Natur.
Doch die Natur umgibt uns nicht einfach bloß, wir sind Natur. Unsere Körper sind ein kleiner Kosmos inmitten des riesigen Habitats, das wir bewohnen. Nicht nur spiegeln unsere Zellen bis hinunter auf die Ebene der DNA das perfekte Wirken von Mutter Natur. Wir sind auch Lebensraum für Milliarden von nützlichen Kleinstlebewesen, in und auf uns. Diese winzigen Mikroben sind seit Jahrmillionen mit uns zusammen unterwegs. Wir sollten ihre besondere Schönheit und ihren gesundheitlichen Nutzen ebenfalls als Teil der Natur betrachten. Schauen wir zunächst einmal, wie viel sich verändert hat.
UNSERE EVOLUTION IN DER NATUR
Seit ihren bescheidenen Anfängen in der afrikanischen Savanne haben sich die Menschen über den ganzen Erdball ausgebreitet. Dabei hatten es unsere Vorfahren in jeder neuen Umgebung mit immer neuen Herausforderungen zu tun: andere Temperaturen, ein anderes Gelände, neue Nahrungsquellen. Deshalb war ein Verständnis der Natur immer überaus wichtig. Welche Pflanzen waren essbar, welche giftig? Welche hatten eine medizinische Wirkung? Eine winzige Wetteränderung mochte unseren Vorfahren womöglich überlebenswichtige Information liefern. Ebbe und Flut, die Wanderungen der Tiere, all das bestimmte unseren Zugang zu Nahrung. Aber das ist lange her. Wir haben die Natur hinter uns gelassen, und zwar buchstäblich. Noch um 1900 kamen auf einen Stadtbewohner sieben Menschen auf dem Land. Heute lebt die Hälfte der Weltbevölkerung in der Stadt und man schätzt, dass der Zuzug weitergeht. 4 2050 werden fast 70 Prozent der Menschen in der Stadt leben. 5 Der moderne Mensch hat ein neues Zuhause gefunden, doch was macht das mit uns?
Die Wahrheit ist, dass wir es noch nicht wissen. Das Thema ist noch gar nicht von der Forschung aufgegriffen worden. Deshalb hat die amerikanische Mayo Clinic ein Großprojekt ins Leben gerufen, das Well Living Lab. 6 Hier will man mit viel Forschungsgeld herausfinden, welchen gesundheitlichen Einfluss eine bebaute Umgebung langfristig auf ihre Bewohner hat.
Was wir zum Beispiel wissen, ist, dass Kinder heutzutage häufiger an Asthma, Autoimmunerkrankungen und Nahrungsmittelallergien erkranken. In diesem Zusammenhang besagt die »Hygiene-Hypothese«, dass der Anstieg zum Teil dem mangelnden Kontakt zur Natur und ihrer Mikroben geschuldet ist. 7 Sie besagt auch, dass wir während unserer Evolution immer einem gewissen Maß an Dreck ausgesetzt waren, gesundheitlich völlig in Ordnung. Dagegen wird unser Immunsystem durch die saubere Umwelt unserer Tage aus dem Konzept gebracht. So wurde deshalb schon vorgeschlagen, Kinder mit Parasiten zu »impfen«, um die Entwicklung ihres Immunsystems zu stärken und letztlich Autoimmunerkrankungen abzuwehren! Auch wenn wir das noch nicht empfehlen, sind die Daten ein starker Beleg für ein bisschen mehr Natur – ein bisschen mehr Dreck – in unserem Leben.
Der urbane Lebensstil geht auch mit einer veränderten Arbeitsumwelt einher. Kaum jemand arbeitet noch draußen auf dem Feld. Könnte das seinen Preis haben? Eine Studie aus dem Jahr 2016 ging der Frage nach, ob die Wiedereinführung von ein wenig Natur am drinnen gelegenen Arbeitsplatz der geistigen Gesundheit zuträglich sei. 8 Natürliche Elemente am Arbeitsplatz gehen mit einem allgemein besseren Gesundheitszustand einher (zum Beispiel weniger Depressionen und Angststörungen), aber auch mit einer höheren Arbeitszufriedenheit. Und wir sprechen hier nicht von drastischen Änderungen. In der besagten Studie zählten auch Topfpflanzen und Naturfotos zu den »natürlichen Elementen«. Das ist gut zu wissen, wobei wir uns nicht vormachen sollten, dass diese je frische Luft, Sonnenschein und wilde Vegetation ersetzen könnten.
Dennoch verbringen beeindruckende 87 Prozent aller Amerikaner ihren Tag drinnen, weitere 6 Prozent im Auto. 9 Fast der gesamte Austausch mit der modernen Welt findet mittlerweile in wie auch immer gearteten geschlossenen Räumen statt – einschließlich Kunstlicht und einer kontrollierten Umgebung. Unser hauptsächlicher Kontakt zur Außenwelt findet durch Fenster, virtuell oder in der Erinnerung statt. 2018 erschien dazu eine sehr aufschlussreiche Erhebung unter 2000 Kanadiern. Von ihnen gaben 87 Prozent an, sich in der Natur glücklicher, gesünder und produktiver zu fühlen. 10 Allerdings gaben auch 75 Prozent zu Protokoll, dass es einfacher sei, zu Hause zu bleiben. Genau wie Haustiere sind wir mittlerweile ans Drinnensein gewöhnt.
Hier aber geht es nicht um ein bisschen zu wenig Sonne auf der Haut oder zu wenig frische Luft. Hier geht es um einen eklatanten Mangel, den der amerikanische Journalist und Bestsellerautor Richard Louv denn auch Nature-deficit disorder [Natur-Defizit-Syndrom] nennt. 11 Louv ist ein starker Verfechter des Vitamins N – N für Natur – und Mitbegründer einer Organisation, deren Ziel es ist, Kinder, Familien und Gruppen wieder stärker in Naturkontakt zu bringen. Im Folgenden wollen wir deshalb erkunden, wie genau die Natur unserer Gesundheit förderlich ist und warum sie im Kampf gegen das Unverbundenheitssyndrom so überaus wichtig ist.
NATUR HEILT
Anfang des 19. Jahrhunderts war die Tuberkulose in Europa weitverbreitet. Obwohl es viele Heilungsversuche gab, hat doch nichts gewirkt. Dann kam die »Luftkur«. Dabei sollten die Patienten möglichst viel draußen und den Elementen ausgesetzt sein, mit »frischer Luft am Tag (möglichst draußen), und nachts die Fenster weit geöffnet« 12 , wie im Journal of the Royal Society of Medicine seinerzeit beschrieben. Das sollte weit besser helfen als alle Versuche zuvor, doch man wusste nicht genau, warum. Heute wissen wir, dass es unter anderem das Sonnenlicht gewesen sein muss und dessen Rolle bei der Bildung von Vitamin D. Vitamin D wiederum kurbelt die angeborene Immunfunktion auf Tuberkulose an. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden dann die Lungenheilanstalten auch in den USA populär, denn etwas anderes gab es nicht. Viele Patienten kamen nach Arizona, wo es sonnig und die Wüstenluft trocken ist, unter ihnen Tuberkulosekranke, Menschen mit Rheuma, Asthma und anderen Erkrankungen. In den Freiluftsanatorien gab es Zelte und einfache Holzhäuschen. Alles, was man wusste, war, dass der ausgedehnte Aufenthalt im Freien der Gesundheit zuträglich war, auch wenn es noch keine wissenschaftliche Erklärung dafür gab. Auch wir stehen, was die Geheimnisse der Naturheilkraft angeht, immer noch ganz am Anfang.
1984 beschrieb der berühmte Biologe Edward O. Wilson die mögliche gute Wirkung der Natur in seiner Biophilia Hypothesis. Später schrieb der Kulturökologe Stephen Kellert in einem von beiden herausgegebenen Sammelband, dass »die Abhängigkeit des Menschen von der Natur weit über den rein körperlichen und materiellen Erhalt hinausgehe. Mehr noch, der Mensch hege eine Sehnsucht nach ästhetischer, kognitiver und ja sogar spiritueller Bedeutung.« 13 Allmählich begreifen wir, was damit gemeint ist.
Kurze Zeit später (1984) veröffentlichte Roger Ulrich einen richtungsweisenden Beitrag in der medizinischen Ausgabe von Science: »View Through a Window May Influence Recovery from Surgery« [Blick aus dem Fenster beeinflusst womöglich postoperative Heilung] 14 . Wie Sie sich vorstellen können, ist die Erholungsfrage in der Medizin sehr wichtig. Wir wissen, dass die Akutversorgung nur ein Aspekt im Kampf gegen Erkrankungen ist. Nach OP, Schlaganfall, Herzinfarkt oder Krebstherapie kommt es auf die langfristige Nachsorge an. Und da können wir eben nicht die vielen neuen Forschungsergebnisse außer Acht lassen, die belegen, dass ein Aufenthalt in der Natur heilend ist.
In seiner Forschungsarbeit verglich Dr. Ulrich in einem Krankenhaus in Pennsylvania die Patientendaten postoperativ. Alle untersuchten Patienten waren in gleich ausgestatteten Räumen untergebracht, mit einem einzigen Unterschied: Die einen sahen nach draußen in einen baumbestandenen Park, die anderen auf eine Wand. Tatsächlich wurden die Patienten mit Parkblick nicht nur früher entlassen, sie brauchten auch weniger Schmerzmittel. Auch fanden sich zu einem Drittel Aufzeichnungen wie »aufgebracht«, »weint« oder »braucht viel Zuspruch« in den Akten. Die Arbeit von Dr. Ulrich hat mittlerweile Einfluss auf die Gestaltung von Krankenhäusern genommen. Die Zeiten, in denen Krankenhäuser wie sterile Fabriken aussahen, sind vorbei. Heute überwiegt eine beruhigende Atmosphäre: Innen- und Außengärten, Kunstinstallationen, lebende Wände, viel Glas, Licht und Ausblick, dazu natürliche Materialien wie Holz und Stein.
Seit Ulrichs wegweisenden Erkenntnissen hat es viele Studien gegeben, die die Wirkung der Natur auf die Heilung belegen. 2011 zum Beispiel erschien eine Studie zu 278 Patienten, die in einem Herz- und Lungenzentrum in einem norwegischen Bergdorf untergebracht waren. Wieder wurden die Patientenergebnisse mit den Ausblicken in Beziehung gesetzt: Blick in die Natur versus Blick auf Gebäude. 15 Wie schon Dr. Ulrich zuvor dokumentiert hatte, war es auch dieses Mal: Wessen Aussicht durch Gebäude verstellt war, dessen geistiger und körperlicher Zustand verschlechterte sich im Vergleich zu den Patienten, die einen freien Blick in die Natur genossen hatten.
Dr. Seong-Hyun Park wiederum untersucht die Wirkung der Natur bei der postoperativen Genesung. In einer ihrer Studien hat sie dazu Patienten nach einer Blinddarmentfernung wieder in identische Räume überwiesen, mit dem einzigen Unterschied, dass in manchen Räumen Blumen oder Zimmerpflanzen waren. 16 Im Ergebnis hatten die Patienten in den Zimmern mit Pflanzen im Vergleich zur anderen Gruppe einen signifikant geringeren Herzschlag und ebenfalls einen geringeren systolischen Blutdruckwert. Auch brauchten sie weniger Schmerzmittel und machten über die begrünten Räume Angaben wie »schön, entspannend, wohltuend, farbenfroh, angenehm riechend, beruhigend und attraktiv«. Dieses Ergebnis konnte sie noch mehrfach replizieren.
Das alles mutet zwar nicht gerade revolutionär an, doch dass eine einfache Topfpflanze den Krankenhausaufenthalt im Ergebnis signifikant verbessert, ist schon beachtlich. Denn es zeigt, dass es unsere Körper Richtung Natur und ihre heilenden Kräfte zieht. Und auch wenn niedriger Blutdruck, ein langsamerer Herzschlag und mehr Entspannung zunächst einmal nichts mit dem Gehirn zu tun haben mögen, sind sie doch mit der Amygdala und unserem Stresssystem verbunden.
Weitere Untersuchungen in dieser Richtung haben gezeigt, dass es nicht einmal echte Pflanzen sein müssen, damit sich die wohltuende Wirkung einstellt. Dazu haben Amsterdamer Forscher 2012 einen Wartebereich im Krankenhaus nachgestellt und entweder mit echten Pflanzen, Bildern von solchen oder mit nichts weiter ausgestattet. 17 Es zeigte sich, dass selbst abgebildete Pflanzen die Stresshormone der Patienten senken konnten. Und in einer anderen Studie der Mayo Clinic bewirkte eine Mischung aus Naturgeräuschen und Musik verminderte Angst- und Schmerzwerte bei den Patienten. 18
Weltweit macht diese Erkenntnis bei Ärzten nun allmählich Schule. So fingen 2018 schottische Ärzte damit, Aufenthalte an der frischen Luft zu verschreiben. Der britische National Health Service ermuntert Ärzte, Broschüren der Royal Society für Vogelschutz zu verteilen, worin Wanderrouten vorgeschlagen und Tipps zur Wildtierbeobachtung gegeben werden. Auch gibt es eine Website, auf der Ärzte ein Rezept für einen Spaziergang im Lieblingspark ausdrucken können!
SHINRIN-YOKU: WALDBADEN BERUHIGT, REGENERIERT UND VERBINDET
Die Japaner nehmen die Heilkraft der Natur schon länger ernst, anders als der Durchschnittsamerikaner. Sie haben sogar einen Namen dafür: Shinrin-yoku, was so viel heißt wie »die Stimmung des Waldes aufnehmen« oder »Waldbaden«. 19 Shinrin-yoku wurde in Japan in den 1980er-Jahren entwickelt und ist heute aus Prävention und Therapie in der japanischen Medizin nicht mehr wegzudenken. Vor allem Forscher aus Japan und Südkorea haben mittlerweile einen großen Bestand an wissenschaftlicher Literatur zur gesundheitlichen Wirkung des Aufenthaltes unter einem lebendigen Blätterdach erarbeitet. Auf dieser Grundlage wird nun Shinrin-yoku überall auf der Welt praktiziert. Und auch uns hilft diese Forschung bei unserem Vorhaben, das Unverbundenheitssyndrom umzukehren.
Die Idee ist einfach: Wer sich in die Natur begibt und entspannt spazieren geht, profitiert von der beruhigenden, regenerierenden und stärkenden Wirkung. Sicherlich wussten wir von Anfang an darum (das tun wir wahrscheinlich instinktiv), doch nun holt die Wissenschaft allmählich auf.
Einer der Wege, wie die Natur ihren Einfluss auf unsere Gesundheit ausübt, ist über unseren Geruchssinn. Das mag der Grund sein, warum wir den frischen Duft von Bäumen und Blumen so lieben, ja selbst noch den von Raumbeduftern und Parfüm. Die Forschung hat mittlerweile einen Zusammenhang zwischen Geruch und der Immunfunktion, der Kognition und Sozialverhalten hergestellt. 20 Pflanzendüfte besitzen tatsächlich heilende Kräfte. 1937 prägte der russische Biochemiker Boris P. Tokin den Begriff »Phytonzid« für Substanzen, die von Pflanzen gegen Faulpilze und Fressfeinde emittiert werden. Phytonzide bilden das Aroma des Waldes, es sind die Stoffe, die ätherischen Ölen ihren charakteristischen Duft verleihen. Wie sich nun zeigt, haben sie womöglich auch starke gesundheitliche Wirkungen.
Doch wie stellt sich die Verbindung zwischen natürlichen Düften und der Immunfunktion dar? Zum einen lässt ein Aufenthalt in der Natur die Anzahl der Immunzellen ansteigen. In einem Versuch wurden Blut und Urin von Krankenschwestern während eines normalen Arbeitstages immer wieder untersucht. Die gleichen Messungen wurden dann noch einmal vorgenommen, nachdem die Probandinnen drei Tage und zwei Nächte im Wald verbracht hatten. 21 Dabei zeigte sich ein signifikanter Anstieg der natürlichen Killerzellen (NK) und ein signifikanter Abfall des Adrenalin- und des Noradrenalinspiegels im Urin, zwei wichtige Botenstoffe des sympathischen Nervensystems und der Stressantwort. Natürliche Killerzellen gehören zum angeborenen Immunsystem und sind wichtig bei der Abwehr von Viren oder bei der Tumorerkennung. Das Ergebnis lässt darauf schließen, dass das Immunsystem der Krankenschwestern gestärkt, ihr sympathisches Nervensystem aber beruhigt wurde. Dann gab es ein weiteres Experiment mit männlichen Freiwilligen, bei dem ein Tag in der Natur ebenfalls zu einem signifikanten Anstieg der natürlichen Killerzellen und zu einem Abfall der Stresshormone führte. 22 In beiden Studien gelangten die Forscher zu der Überzeugung, dass der Effekt auf die Phytonzide des Waldes zurückgeht. Auch bringen sie Phytonzide mit weniger Stress in Verbindung, was sich ebenfalls immunstärkend auswirkt. Doch vor allem ist die entstressende Wirkung der Natur selbst zu beobachten. Behalten Sie im Hinterkopf, dass chronischer Stress den präfrontalen Kortex vom Netz nimmt. Indem sie unseren Stress lindert, gibt uns die Natur etwas an die Hand, um dagegen vorzugehen.
Der Zauber von ätherischen Ölen (Phytonzide) hat zum Teil mit ihrer entspannenden Wirkung zu tun, was auch ihre Beliebtheit im Spa-Bereich erklärt. Da kommt es dann auch wenig überraschend, dass in einer Studie, die die Wirkung von inhaliertem Zedernholzöl erkundete, eine erhöhte parasympathische Aktivität bei den Probanden festgestellt wurde, ganz allgemein ein Zeichen der Entspannung. 23 Eine vermehrte parasympathische Aktivität gab es auch bei Zypressenduft. 24 Dabei muss festgehalten werden, dass das parasympathische System der Gegenspieler des sympathischen Systems (Stress, Kampf oder Flucht) darstellt. Beide sollten immer gut ausgeglichen sein. Aber welches Gehirnareal hält uns im Stressmodus gefangen? Sie raten es schon: die Amygdala.
Seit 2010 gibt es eine ganze Reihe von erstaunlichen Studienergebnissen, was die Wirkung von Aromen auf die Hirnfunktion beim Menschen angeht. Schon das kurze Riechen eines bestimmten Dufts kann die Gehirnwellen zum Positiven verändern. Wie ist das möglich? Wie sich zeigt, können Duftkomponenten die Blut-Hirn-Schranke passieren und dort mit Rezeptoren des Zentralnervensystems interagieren. In einer Literaturübersicht von 2016 steht dazu: »… die olfaktorische Stimulation durch Düfte führt zu sofortigen Veränderungen bestimmter physiologischer Parameter, etwa Blutdruck, Muskelspannung, Pupillenerweiterung, Hauttemperatur, Pulsfrequenz und Gehirnaktivität.« 25 Das Papier beschreibt diese Verbindungen im Detail und zeigt, wie verschiedene Düfte – vom Lavendelstrauch über Kamille bis zum Weihrauch – die verschiedenen Hirnareale beeinflussen. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass »… Düfte unmittelbar oder indirekt auf Körper und den Geist des Menschen einwirken …« und dass »Düfte die Gehirnwellen in ganz unterschiedlichem Maße beeinflussen«. Das sollte uns zu denken geben, wenn wir das nächste Mal Blumen riechen oder ein Parfüm.
Doch ein Aufenthalt in der Natur geht weit über das hinaus, was wir mit der Nase aufnehmen. Die Forschung zum Waldbaden schreitet stetig voran. Jahr um Jahr kommen neue Erkenntnisse über die gesundheitsfördernde Seite des Waldbadens hinzu. Bislang sind die folgenden Wirkungen wissenschaftlich belegt:
»Tausende von erschöpften, nervlich zerrütteten, überzivilisierten Menschen merken allmählich, dass der Weg in die Berge der Weg nach Hause ist. Die Wildnis ist eine Notwendigkeit.«
John Muir
Es mag banal klingen, aber ein Aufenthalt in der Natur wirkt auch auf unsere Stimmung. Wie schon im ersten Kapitel beschrieben, gehen die Depressions- und Suizidraten seit einiger Zeit nach oben, die gegenwärtige Depressionstherapie lässt jedoch einiges zu wünschen übrig. Die einzigen Ansätze mit guter Evidenz sind Medikamente und die kognitive Verhaltenstherapie (KVT), um negative Gedanken und Verhaltensmuster zu korrigieren. Letztere lässt sich jedoch sehr gut durch Naturaufenthalte ergänzen. Es gibt sogar eine Studie, die der Frage nachgeht, ob eine im Freien stattfindende KVT womöglich noch wirksamer ist. 26 Um das zu prüfen, hat man Probanden in zwei Gruppen eingeteilt: Die eine Gruppe bekam die Therapie im Krankenhaus, die andere im Wald. Im Ergebnis waren die depressiven Symptome in der Waldgruppe um 61 Prozent gesunken, die der Krankenhausgruppe bloß um 21 Prozent.
Eine weitere Studie untersuchte den Zusammenhang zwischen Depression und der Länge des Aufenthalts im Grünen. 27 Eine signifikant niedrigere Depressionsneigung hatte, wer mindestens fünf Stunden pro Woche draußen war, was nicht überrascht. Die Studie empfiehlt denn auch die Naherholung als kostengünstige und zugängliche Präventionsmaßnahme.
Was wissen wir noch? Was sagt die Wissenschaft zur stimmungsaufhellenden und beglückenden Wirkung von Natur? Dazu gibt es eine Metaanalyse von 2014, die sich dem Glücksfaktor Natur widmete. Dabei wurden zig Studien mit insgesamt mehr als 8500 Probanden ausgewertet. »Naturverbundene Menschen weisen insgesamt mehr positive Affekte, mehr Vitalität und mehr Lebenszufriedenheit auf als weniger Naturverbundene« 28 , so eines der Ergebnisse der Studie. Auch moderne GPS-Technik hält in das Studiendesign Einzug. So wurde in einer Studie mit 20 000 Teilnehmern immer wieder die Stimmung der Probanden abgefragt. Die Antworten wurden dann mit dem Aufenthaltsort abgeglichen. 29 Dabei kam ein Datensatz von gut einer Million Antworten zusammen, mit dem Ergebnis, dass die Menschen signifikant glücklicher waren, wenn sie sich in der Natur aufhielten und nicht in einer städtischen Umgebung.
»Ein Hauch von Natur macht die ganze Welt verwandt.«
William Shakespeare
Wie wir bereits gesehen haben, bewirkt ein Aufenthalt in der Natur den Abfall des Cortisolspiegels und die Aktivierung des parasympathischen Nervensystems. Wenn uns also die Natur hilft, chronischen Stress loszuwerden, dann können wir mit ihrer Hilfe vielleicht auch wieder zu mehr positiver Selbstkontrolle gelangen, ausgewogener handeln und unsere Emotionen besser steuern – weil wir wissen, dass chronischer Stress unserem präfrontalen Kortex schadet und die Amygdala stärkt. Vereinfacht gesagt: Über die Natur gewinnen wir die Kontrolle im Kopf zurück und machen die Folgen des Unverbundenheitssyndroms rückgängig.
»Immer tut die Natur ihr Bestes zu unserem Wohl. Das ist ihr Daseinszweck. Leistet keinen Widerstand.«
Henry David Thoreau
Ein Teil der stimmungsaufhellenden Wirkung der Natur geht auf das Konto der Sonne. Über die Sonne auf der Haut bilden wir Vitamin D, eine hormonähnliche Substanz, die in vielen biologischen Prozessen eine wichtige Rolle spielt, aber direkt auf die Serotoninbildung im Gehirn einwirkt. Diese Erkenntnis verdanken wir Dr. Rhonda Patrick, Expertin für Alterungsprozesse und Prävention. 30 Patrick geht davon aus, dass ein Vitamin-D-Mangel, der sowohl in Amerika wie auch in Europa recht verbreitet ist, mit zur Entstehung einer Depression beiträgt. Die meisten Wirkstoffe in der Depressionsbehandlung zielen auf die Steigerung des Serotonins ab, aber dieses Forschungsprojekt schlägt einfach die Erhöhung des Vitamin-D-Spiegels vor, entweder durch mehr Sonne auf der Haut oder durch die Einnahme von Vitamin-D-Präparaten, wahrscheinlich, um auf diesem Wege die Serotoninproduktion anzukurbeln.
Im Folgenden wollen wir noch ein paar spannende Forschungsergebnisse zusammenstellen. Etwa das Folgende: Ein Aufenthalt in der Natur kann eine Verhaltensänderung bewirken, und zwar über Ehrfurcht und Staunen. Diesen Zusammenhang haben Paul Piff und Kollegen von der Universität California, Irvine, näher untersucht. Dabei wird Ehrfurcht von Piff als »gefühlsmäßige Reaktion auf eine als sehr stark wahrgenommene Stimulation, die das Gewohnte übersteigt« beschrieben. 31 So konnten die Forscher zeigen, dass das Gefühl der Ehrfurcht bei den Probanden in Anschlusstests nicht nur zu mehr ethischen Entscheidungen führte, sondern auch zu mehr Großzügigkeit und einer höheren sozialen Werteorientierung. Ein Experiment bestand darin, Ehrfurcht durch die Exponierung großer Bäume zu generieren. Dabei zeigte sich bei den Teilnehmern im Anschluss »ein besseres Sozialverhalten und eine geringere Anspruchshaltung«. Ehrfurcht ist im Übrigen eine universelle Kategorie. Ein Gefühl, als ob die Zeit stehen bleibt, gerade wenn man etwas zum ersten Mal erlebt. Denken Sie nur an den Anblick eines rauschenden Wasserfalls oder eines Regenbogens, der immer intensiver aufleuchtet. Fühlen Sie sich da nicht auch beruhigt und verbunden und nicht unruhig und von der Natur abgetrennt?
2012 fanden Forscher einen messbaren Beleg für dieses Gefühl. Im Vergleich zu anderen Emotionen hatten die Probanden bei der Ehrfurcht das Gefühl, mehr Zeit zu haben. 32 In der Gruppe der Probanden, die die Ehrfurchtserfahrung machten, war auch die Bereitschaft höher, einen Freiwilligendienst zu übernehmen. »Insgesamt waren sie mehr am Erleben als an materiellen Dingen interessiert. […] Die Erfahrung der Ehrfurcht bringt Menschen in die Gegenwart […] und erhöht ihre Lebenszufriedenheit.«
Die Erfahrung der Ehrfurcht lässt auch unsere materiellen Wünsche in den Hintergrund treten, Wünsche, deren Erfüllung keine echte Befriedigung bringt und uns nur in endlosen Vergleichen mit anderen gefangen hält.
Von dem Forschungsteam um Dr. Piff gibt es noch weitere Untersuchungen: Inwieweit würde der Anblick der schönen Natur Einfluss auf die Perspektive der Beteiligten haben? 33 »Die Ansicht schöner Naturbilder (im Gegensatz zu weniger schönen) führte bei den Teilnehmern zu mehr Großzügigkeit und Vertrauen« oder »Die Anwesenheit von schönen Pflanzen im Labor (im Vergleich zu weniger schönen) führte bei den Beteiligten zu mehr Hilfsbereitschaft«. Diese Forschung belegt, dass die Natur sozusagen bessere Menschen aus uns macht.
Doch wo kommt hier die Empathie ins Spiel? Auch dazu gibt es Studien mit zwei unterschiedlichen Ansätzen: Bei dem einen wurden Probanden wahlweise einer natürlichen oder einer urbanen Szenerie ausgesetzt und dann im MRT erfasst, welche Gehirnareale jeweils aktiver sind. 34 Es überrascht nicht, dass die Amygdala heller bei den Teilnehmern aufleuchtete, denen man eine Stadtansicht gezeigt hatte. Bei dem anderen Experiment wurden Jugendliche ohne Internetzugang für fünf Tage in den Wald geschickt. 35 Die Vergleichsgruppe blieb in der Stadt und nutzte weiterhin Smartphone, Tablet, Fernseher und PC . Jeweils vor und nach den fünf Tagen bekamen alle Kinder Fotos und Videos von Menschen vorgelegt, mit der Aufgabe, die Stimmung der Abgebildeten zu bestimmen. Sie dürfen nun raten … Das Ergebnis war aufschlussreich. Die Jugendlichen, die im Wald gewesen waren, konnten den Gefühlszustand signifikant besser ablesen als die Jugendlichen, die in der Stadt geblieben waren. Das Interpretieren von Gefühlen aber ist eine Vorsetzung für gelingende Kommunikation und Empathie. Schon ein paar Tage in der Natur geben da den Ausschlag.
Wenn nun die Empathiefähigkeit einen funktionsfähigen präfrontalen Kortex voraussetzt und Naturerlebnisse zugleich die Empathie begünstigen, dann sollten wir da wohl noch mehr finden. Und so kam es auch: 2019 erschien ein Artikel in Scientific Reports, in dem beschrieben wurde, dass eine verstärkte Aktivierung des präfrontalen Kortex mit einer »höheren Häufigkeit von alltäglichem naturverbundenen Verhalten« einhergeht. 36 Die Verbindung zwischen dem präfrontalen Kortex und der Natur scheint sich also wechselseitig zu verstärken.
Auch sollten die antientzündlichen Eigenschaften der Natur nicht unerwähnt bleiben, die ebenfalls eine Wohltat für den strapazierten präfrontalen Kortex darstellen. Dies ist in mehreren Studien bestätigt worden. So in einer Studie aus dem Jahr 2012, bei der die Stress- und Entzündungswerte einer Stadt- und einer Waldprobandengruppe miteinander verglichen wurden. 37 Waren die Laborwerte vor der Untersuchung in beiden Gruppen ähnlich, waren sie nach zwei Nächten im Wald beziehungsweise in der Stadt signifikant unterschiedlich. In der Waldgruppe hatten sich die Entzündungsmarker Tumornekrosefaktor alpha, kurz TNF-α, und Interleukin-6 im Gegensatz zur Stadtgruppe signifikant vermindert. Auch das Endothelin-1, ein Entzündungsmarker bei Gefäßerkrankungen, war bei dieser Gruppe weniger geworden, ähnlich wie das Stresshormon Cortisol.
Wenn Sie noch immer nicht überzeugt sind oder wenn Sie in dem Zielkonflikt zwischen Produktivitätsbedürfnis und Erholungsbedürfnis gefangen sind, dann haben wir hier noch ein Argument. Naturerleben (und die damit verbundene digitale Abstinenz) ist ein ordentlicher Schub fürs Gehirn. Um das zu belegen, hat man in einer Studie von 2012 56 Männer und Frauen in puncto Problemlösungskompetenz vor und nach einem viertägigen Wanderaufenthalt untersucht. 38 Dabei stellte sich heraus, dass »vier Tage in der Natur ohne Multimediakonsum die kreative Leistungsfähigkeit und die Problemlösungskompetenz um ganze 50 Prozent erhöhte«. Das ist, selbst wenn man kein Wanderfreund ist, schon gewaltig, oder?
In einem größeren Zusammenhang haben sich Forscher gefragt, wie Natur auf das Leben insgesamt einwirkt, und dabei ganz Erstaunliches zutage gefördert. In einer riesigen Studie, die 2008 in der angesehenen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde, hat man 40 Millionen Engländer danach eingeteilt, wie »grün« sie leben, wie viel Grünfläche also in einem bestimmten Radius um ihren Wohnort herum vorhanden war. Grünfläche war definiert als »offenes unbebautes Land mit natürlicher Vegetation« und umfasste Parks, Wälder, Weideflächen und Sportplätze. 39 Dabei fand man heraus, dass die Menschen in den grünsten Gebieten nicht nur weniger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen erkrankten, sondern auch länger lebten. In einer anderen großen Studie mit 1,7 Millionen teilnehmenden Kanadiern war das Sterberisiko ungefähr 10 Prozent geringer, wenn das Wohnumfeld begrünter war. 40 Dann gibt es noch eine große Studie von 2017 mit 4,2 Millionen Schweizer Probanden, die zu einem ähnlichen Ergebnis kommt: Grün im Wohnumfeld senkt das Sterberisiko, selbst wenn Faktoren wie Umweltverschmutzung und andere Umweltbelastungen herausgerechnet wurden. 41 Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch eine große Metaanalyse von 2015. 42
Die wichtigste Botschaft all dieser Studien lautet: Natur heilt und bringt uns miteinander in Verbindung, auf ganz unterschiedlichen Wegen – durch die entschleunigende Wirkung, die Verminderung von Stresshormonen und Entzündungsbotenstoffen. Dann neurologisch, indem die Verbindung zum präfrontalen Kortex gestärkt wird. Die Natur entschleunigt das Hirn und wirkt insgesamt kräftigend. Das wirkt immunstärkend und macht uns sozialer eingestellt. Wir werden mitfühlender und selbstloser, allesamt Eigenschaften, die ein Gegenstück bilden zu den selbstsüchtigen Tendenzen des Unverbundenheitssyndroms. Die Natur lässt uns blühen und gedeihen, und ihre Wohltaten sind nie weit.
In unserem Neustart-Programm weiter hinten im Buch können Sie verschiedene einzelne Programmpunkte gern miteinander kombinieren. Vielleicht meditieren Sie einmal draußen oder sitzen einfach allein oder mit Freund oder Freundin zusammen. Oder Sie machen draußen Sport oder essen draußen. Es gibt so viele Möglichkeiten.
Wir leben in einer Welt, die uns mental ständig fordert. Doch eigentlich wollen wir mitfühlend sein, engagiert und vorwärtsgewandt. Da ist es gut zu wissen, dass die Natur uns immer einen Ausgleich bietet, uns hilft, die Dinge wieder ins rechte Lot zu bringen. Vielleicht fangen Sie gleich an: Wie wäre es, mit dem ersten Sonnenstrahl aufzuwachen, der durchs Fenster fällt? Machen Sie einmal die Fenster weit auf, falls das Wetter es zulässt. Kaufen Sie eine Pflanze fürs Büro. Versuchen Sie’s mit ätherischen Ölen und planen Sie vor allem mindestens dreimal die Woche eine halbe Stunde Aufenthalt im Freien ein, mindestens! Setzen Sie einen Termin fest, an dem Sie draußen im Park spazieren gehen oder eine Wanderung machen (vielleicht mit ein oder zwei Freunden). Nehmen Sie sich vor, draußen Sport zu machen. Planen Sie einen Natururlaub. Für das Neustart-Programm ist Naturerleben unabdingbar und superwichtig. Es ist nicht schwer und gut umsetzbar. Draußensein sollte uns allen standardmäßig als »grüne Pille« verschrieben werden.